Kapitel V

Der SINN in seinem Verhältnis zur lichten und dunklen Kraft

§ 1

[275] Was einmal das Dunkle und einmal das Lichte hervortreten läßt, das ist der SINN.


Das Lichte und das Dunkle sind die beiden Urkräfte, dieselben, die im bisherigen Text als fest und weich oder als Tag und Nacht bezeichnet wurden. Fest und weich sind die Bezeichnungen der Linien im Buch der Wandlungen, das Lichte und das Dunkle die[275] Bezeichnungen der beiden Urkräfte in der Natur. Warum bisher Tag und Nacht genannt wurden und hier auf einmal die Ausdrücke Licht und Dunkel auftreten, möge einer späteren Untersuchung zu erklären vorbehalten sein. Möglicherweise handelt es sich um eine spätere Schicht des Textes. Jedenfalls können wir beobachten, daß der Gebrauch dieser Ausdrücke mit der Zeit immer mehr überhandnimmt.

Die Ausdrücke Yin = das Dunkle und Yang = das Lichte bezeichnen die lichte bzw. schattige Seite eines Berges oder Flusses, wobei Yang die Südseite des Berges ist, weil sie von der Sonne beschienen wird, während es bei einem Fluß die Nordseite darstellt, weil hierher das Licht des Flusses reflektiert wird. Für das Yin gilt jeweils das Umgekehrte. Allmählich werden diese Bezeichnun gen ausgedehnt auf die beiden polaren Weltkräfte, die wir positiv und negativ nennen können. Möglich ist, daß mit diesen Bezeichnungen, die mehr den Kreislauf betonen als den Wechsel, dann auch die kreisförmige Darstellung des Uranfangs @ aufgekommen ist, die später eine so große Rolle spielt1.


§ 2

Als Fortsetzender ist er gut. Als Vollender ist er das Wesen.


Die Urkräfte kommen nicht zum Stillstand, sondern der Kreislauf des Werdens setzt sich dauernd fort. Der Grund dafür ist, daß zwischen den beiden Urkräften immer wieder ein Spannungszustand entsteht, ein Gefälle, das die Kräfte in Bewegung hält und zu ihrer Vereinigung drängt, wodurch sie sich immer wieder neu erzeugen. Das wird durch den SINN bewirkt, ohne daß er dabei irgendwie in Erscheinung tritt. Diese Eigenschaft des SINNS, die Welt zu erhalten durch dauerndes Neuerzeugen des Spannungszustandes zwischen den polaren Kräften, wird als gut bezeichnet (vgl. Laotse, Kap. 8)2.

Als die Kraft, die die Dinge vollendet, ihnen ihre Individualität, ihren Mittelpunkt verleiht, um den sie sich in sich selbst organisieren, heißt er das Wesen, das, was die Dinge bei ihrer Entstehung bekommen3.


§ 3

[276] Der Gütige entdeckt ihn und nennt ihn gütig. Der Weise entdeckt ihn und nennt ihn weise. Das Volk gebraucht ihn Tag für Tag und weiß nichts von ihm; denn der SINN des Edlen ist selten.


Der SINN in seiner Offenbarung erscheint jedem auf seine eigne Weise. Der tätige Mensch, dem die Gütigkeit und Menschenliebe das Höchste ist, entdeckt diesen SINN des Weltgeschehens und nennt ihn die höchste Gütigkeit: »Gott ist die Liebe.« Der kontemplative Mensch, dem ruhige Weisheit das Höchste ist, entdeckt diesen SINN des Weltgeschehens und nennt ihn die höchste Weisheit. Das gemeine Volk lebt in den Tag hinein, dauernd getragen und genährt von diesem SINN, aber weiß nichts von ihm; es sieht nur, was vor Augen ist. Denn die Art des Edlen, die nicht nur Dinge sieht, sondern den SINN der Dinge, ist selten. Der SINN der Welt ist zwar Güte und Weisheit, aber er ist seinem innersten Wesen nach auch jenseits von Güte und Weisheit.


§ 4

Er offenbart sich als Gütigkeit, aber er verbirgt seine Wirkungen. Er belebt alle Dinge, aber er teilt nicht die Sorgen des heiligen Weisen. Seine herrliche Art, sein großes Wirkungsfeld sind das Höchste, was es gibt.


Die Bewegung von innen nach außen zeigt den SINN in seinen Offenbarungen als Allgütigen. Aber dabei bleibt er geheimnisvoll am lichten Tag. Die Bewegung von außen nach innen verbirgt die Ergebnisse seiner Wirkungen. Es ist, wie im Frühling und Sommer sich alle Keime entfalten und die lebenspendende Güte der Natur offenbar wird. Daneben aber geht die stille Kraft, die alle Ergebnisse des Wachstums im Samen verbirgt und in geheimnisvoller Weise die Wirkungen des kommenden Jahres vorbereitet. Der SINN wirkt auf diese Weise unerschöpflich und ewig. Aber diese belebende Wirkung, der alle Wesen ihr Dasein verdanken, ist etwas rein Spontanes. Sie gleicht nicht dem bewußten Sorgen des Menschen, der mit innerer Mühe das Gute erstrebt.


§ 5

Daß er alles in vollem Reichtum besitzt, das ist sein großes Wirkungsfeld. Daß er alles täglich erneuert, das ist seine herrliche Art.


Es gibt nichts, das nicht der Besitz des SINNS wäre; denn er ist allgegenwärtig; alles, was ist, ist in ihm und durch ihn. Aber es ist kein toter Besitz, sondern durch seine ewige Art macht er alles[277] immer wieder neu, so daß die Welt jeden Tag wieder so herrlich ist wie am ersten Schöpfungstage.


§ 6

Als Erzeuger alles Erzeugens heißt er die Wandlung.


Das Dunkle erzeugt das Lichte, und das Lichte erzeugt das Dunkle in unaufhörlichem Wechsel; aber was diesen Wechsel, dem alles Leben sein Dasein verdankt, erzeugt, das ist der SINN und sein Gesetz der Wandlung.


§ 7

Als Vollender der Urbilder heißt er das Schöpferische, als Nachbildendes heißt er das Empfangende.


Es liegt hier die Anschauung zugrunde, die auch im Taoteking ausgesprochen ist4, daß nämlich der Wirklichkeit eine Welt der Urbilder zugrunde liegt, die in der körperlichen Welt ihre Nachbilder – eben die wirklichen Dinge – haben. Die Welt der Urbilder ist der Himmel, die Welt der Nachbilder die Erde, dort die Kraft, hier der Stoff, dort das Schöpferische, hier das Empfangende. Aber es ist derselbe SINN, der sich sowohl im Schöpferischen als im Empfangenden auswirkt.


§ 8

Indem er dazu dient, die Gesetze der Zahl zu erforschen und so die Zukunft zu wissen, heißt er die Offenbarung. Indem er dazu dient, die Veränderungen mit lebendigem Zusammenhang zu durchdringen, heißt er das Werk.


Auch das Künftige entwickelt sich nach den festen Gesetzen, nach berechenbaren Zahlen. Wenn man diese Zahlen kennt, so lassen sich die zukünftigen Ereignisse mit vollkommener Sicherheit berechnen. Auf diesem Gedan ken beruht das Orakel des Buchs der Wandlungen. Dieses Unabänderliche ist die Welt des Dämonischen, in der es keine Willkür gibt. Hier liegt alles fest. Das ist das Gebiet des Yin. Aber außer dieser starren Welt der Zahl gibt es lebendige Tendenzen. Die Dinge entwickeln sich, sie verfestigen sich in einer Richtung, sie erstarren, dann gehen sie unter, eine Veränderung tritt ein, der Zusammenhang ist wieder hergestellt, die Welt ist wieder eins. Das Geheimnis des SINNS ist nun, in dieser Welt des Wandelbaren, der Welt des Lichts, dem Gebiet des Yang, die Veränderungen so in Gang zu halten, daß keine Erstarrung eintritt, sondern fortwährend der durchgehende Zusammenhang erhalten bleibt. Wem es gelingt, dem, was er schafft, diese Regenerationskraft mitzugeben, der schafft etwas Organisches, und das so geschaffene Werk hat Dauer in sich selbst.


§ 9

[278] Dasjenige an ihm, was durch das Lichte und Dunkle nicht ermessen werden kann, heißt der Geist.


Die beiden Grundkräfte in ihrem Wechsel und ihrer gegenseitigen Wirkung dienen zur Erklärung der sämtlichen Erscheinungen der Welt. Aber es bleibt ein Rest, der sich durch dieses Gegenspiel nicht erklären läßt, ein letztes Warum. Diese letzte Tiefe des SINNS ist der Geist, das Göttliche, Unerforschliche, schweigend zu Verehrende an ihm.

Fußnoten

1 Der SINN, chinesisch Tao, ist dasjenige, was das Spiel dieser Kräfte in Bewegung bringt und unterhält. Weil dieses Etwas nur eine Richtung bedeutet, die unsichtbar und vollkommen unkörperlich ist, hat man im Chinesischen das Lehnwort Tao = Weg, Lauf dafür gewählt, der ja auch nichts in sich selber ist und doch alle Bewegungen regelt. Über die Gründe der Übersetzung dieses Worts mit SINN vgl. die Einleitung zu meiner Übersetzung des Laotse.


2 Man sieht hier, wie die Anschauung des Buchs der Wandlungen auf das Organische eingestellt ist. Im Organischen gibt es keine Entropie.


3 Hier ist wohl die Stelle, auf der die Lehre des Mongtse begründet ist, daß das Wesen des Menschen gut sei.


4 Vgl. R. Wilhelm, Chinesische Lebensweisheit, pag. 16ff.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 275-279.
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