5. Appell an den Herzog

[129] Der Meister sprach: »Meine Worte sind noch nicht zu Ende. Darf ich sie zu Ende führen und Ew. Hoheit zur Beurteilung vorlegen?«

Er sprach: »Hier ist z.B. ein Arbeiter; er hat scharfe Geräte, er hat Schleifstein und Axt. Zuzeiten wird er sie aufbewahren, und dann sicher sehr sorgfältig, aber dann wird er sie auch wieder hervorholen und gebrauchen. (Die Geräte, von denen ich rede, dienen dazu, daß) man das Altertum erkennen kann und die Neuzeit erforschen, den Nächsten dienen und dem Fürsten dienen, daß man sie im Leben brauchen kann und beim Tode.

Heil und Unheil äußern sich gleichzeitig. Glück und Unglück erzeugen einander. Endgültig aber entsteht das Glück, wenn große Geisteskraft in Gemeinschaft mit dem Himmel wirkt.«[129]

Der Herzog errötete, und sprach: »Das ist schwer einzurichten.«

Der Meister sprach: »Ich möchte, daß Ihr wenigstens das, was Ihr von Hören und Sehen wißt, einrichtet. Richtet Euch in der Zeit nach des Himmels Perioden, benützet die Gaben der Erde, um Tod und Leben über das Volk zu verteilen. Dem Tod verfallen seien unter dem Volke nur die, die sich nicht durch Belehrung bessern lassen.«

Der Herzog sprach: »Ist es denn möglich, daß ich das ausführe?«

Der Meister sprach: »Das steht nur bei Ew. Hoheit. Wenn Ihr sagen würdet: ›Ich bin fähig dazu‹, so würde ich fürchten, daß Ihr noch nicht fähig seid. Wenn Ihr aber sagt, Ihr seid nicht fähig, so sage ich: Ihr seid fähig! Wenn man das Vordere aufnimmt, so muß man auch das Hintere aufnehmen; wenn man die linke Seite aufhebt, muß man auch die rechte aufheben. Wenn Ihr die Leute belehrt, wer kann da nicht gut werden!«

Der Herzog kam in Verlegenheit und sprach: »Groß fürwahr ist, was Ihr mich zu tun lehrt. Reichhaltig ist die Regierung und viel, was noch nicht vollendet ist.«

Der Meister sprach: »Wenn Ihr erkennt, daß noch manches nicht vollendet ist, so heißt das, daß noch manches zu tun übrigbleibt.

Wenn an einer Pflanze die Wurzel Schaden gelitten hat, so werden Zweige und Blätter allenthalben welk. Wenn alles welk ist, so trägt sie keine Früchte mehr. Mit der Regierung ist es ebenso. Wenn die Oberen die Regierung im großen verfehlen, so erstrecken sich die Wirkungen auf Menschen, Vieh und Getreide.«

Der Herzog sprach: »Heißt Verfehlen der Regierung dasselbe wie bei den Häusern Hia und Schang?«

Der Meister sprach: »Nein. Was Hia und Schang anbetrifft, so hat es ihnen der Himmel genommen, weil ihre Seele keine Geisteskräfte mehr erzeugte.«

Der Herzog sprach: »Was bedeuten dann Verfehlungen in der Regierung?«

Der Meister sprach: »Diese Verfehlungen in der Regierung bedeuten, daß die Grenzen noch keine Minderung erlitten[130] haben, daß die Menschen noch nicht sich verändert haben und Geister und Götter noch nicht fort sind, daß das Wasser noch nicht in Unordnung ist, daß Spreu noch immer Spreu und Korn noch immer Korn ist, daß Nephrit noch immer Nephrit ist, daß Blut noch immer Blut und Wein noch immer Wein ist. In aller Ruhe und Bequemlichkeit geht die Regierung aus den Toren der Adelsfamilien hervor25. Das verstehe ich unter Verfehlung der Regierung. Nicht der Himmel ist entgegen. Die Menschen sind sich selbst entgegen. Darum sage ich: Ew. Hoheit mögen nicht über Eure Gefühle mit mir sprechen, sondern Ew. Hoheit mögen nicht die Macht im Staate anderen Menschen leihen. Ew. Hoheit mögen nicht die Beurteilung der Namen anderen Menschen leihen!«

Der Herzog sprach: »Gut fürwahr!«

25

Hier beantwortet Kung Dsï (Konfuzius) die konfidentielle Äußerung, die der Fürst zu Beginn des Gesprächs tun wollte und die er, weil gefährlich im Munde des Fürsten, zurückwies.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 129-131.
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