3. Wirkung auf die Keime

[206] Die Erkenntnis der gewöhnlichen Menschen ist so beschaffen, daß sie das Vorhandene, aber nicht das Künftige zu sehen vermögen. Die Sitte verhindert Künftiges zum voraus, die Strafe verurteilt Geschehenes nachträglich. Darum ist die Wirkung der Strafe leicht zu sehen, aber das, was die Sitte erzeugt, schwer zu erkennen.[206]

Was den Weg anlangt, durch Beförderung und Belohnung die Guten anzufeuern, durch Bußen und Strafen die Bösen abzuschrecken, so haben die früheren Könige ihn als Grundlage der Ordnung festgehalten wie Erz und Stein. Sie haben ihn in Gang gehalten, zuverlässig wie die vier Jahreszeiten. Sie sind dabei verharrt, gerecht ohne Parteilichkeit wie Himmel und Erde. Wie hätten sie ihn mißachten und beiseite setzen sollen? Aber wenn man von Sitte spricht, von Sitte, so kommt alles darauf an, das Böse zu vertilgen, bevor es sich zeigt, und die Ehrfurcht zu stärken in ihren unsichtbaren Anfängen, so daß das Volk sich täglich dem Guten nähert und vom Bösen entfernt, ohne daß es selbst weiß, wie es geschieht. Meister Kung sprach: »Im Anhören von Klagesachen bin ich nicht besser als ein anderer; woran mir aber alles liegt, das ist zu bewirken, daß gar keine Klagesachen entstehen.« Dies bezieht sich eben darauf.

Wer für einen Menschenherrscher planen will, der muß vor allem in Ruhe beurteilen, was er tun und lassen soll. Wenn die Richtlinie für Tun und Lassen im Innern festgesetzt ist, so werden ihr die Keime von Ruhe und Gefahr im Äußeren entsprechen. Ruhe ist nicht etwas, das sich in einem Tag als Gefahr auswirkt. Beides entsteht durch Ansammlung. Das darf man nicht unbeachtet lassen. Wenn das Gute nicht angesammelt wird, so reicht es nicht aus, um seinem Täter einen Namen zu machen. Wenn das Böse nicht angesammelt wird, so reicht es nicht aus, um seinen Täter ums Leben zu bringen. Beim Handeln der Menschen kommt aber alles darauf an, was einer sich in seinem Tun und Lassen als Ziel gesetzt hat. Wer Sitte und Gerechtigkeit als Regierungsgrundsatz gewählt hat, der wird Sitte und Gerechtigkeit ansammeln; wer Bußen und Strafen als Regierungsgrundsatz gewählt hat, der wird Bußen und Strafen ansammeln. Sammeln sich Bußen und Strafen, so wird das Volk unzufrieden und widerspenstig; sammeln sich Sitte und Gerechtigkeit, so wird das Volk friedlich und anhänglich.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 206-207.
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