Dritte Vallî.

[275] Vers 1-2. Der Âtman als Licht und der ihn umgebende psychische Apparat als Schatten (der ihn verhüllt, als upâdhi) wohnen, in ihrer Vereinigung[275] als individuelle Seele (bhoktar, »Geniesser«), nachdem sie im Jenseits die Vergeltung der Werke getrunken haben, zusammen in der Höhle des Herzens, wie dies nicht nur dem Brahmanwisser, sondern auch schon dem Vollbringer hervorragender ritueller Leistungen kund ist, – eine Bemerkung, welche Anlass gibt, in Vers 2 nochmals das Nâciketa-Feuer als Mittel (als »Brücke«, setu), der Brahmanerkenntnis zu empfehlen.


1. Zwei, Trinker der Vergeltung ihrer Werke

Droben im Jenseits, fuhren in die Höhle;

Schatten und Licht nennt sie, wer Brahman's kundig,

Fünffeuerhaft, Drei-Nâciketa-Zünder.1


2. Um's Nâciketa-Feu'r müht euch!

Brücke ist es den Opfernden,

Zum Ufer ohne Furcht führend,

Zum ew'gen höchsten Brahman hin.


Vers 3-9. Der psychische Organismus (der Âtman verbunden mit Buddhi, Manas und Indriya's) und die daraus sich ergebende ethische Aufgabe.


3. Ein Wagenfahrer ist, wisse,

Der Âtman, Wagen ist der Leib,

Den Wagen lenkend ist Buddhi,

Manas, wisse, der Zügel ist.


4. Die Sinne, heisst es, sind Rosse,

Die Sinnendinge ihre Bahn;

Aus Âtman, Sinnen und Manas

Das Gefügte ›Geniesser‹ heisst.


5. Wer nun besinnungslos hinlebt,

Den Manaszügel ungespannt,

Des Sinne sind unbotmässig,

Wie schlechte Rosse ihrem Herrn.


6. Doch wer besonnen stets hinlebt,

Den Manaszügel wohlgespannt,

Des Sinne bleiben botmässig,

Wie gute Rosse ihrem Herrn.


7. Wer nun besinnungslos hinlebt,

Unverständig, unlautern Sinns,[276]

Der kommt nicht zu dem Ort jenseits,

Im Samsâra verstrickt er bleibt.


8. Doch wer besonnen stets hinlebt,

Verständig und mit lauterm Sinn,

Der gelangt zu dem Ort jenseits,

Von wo keine Geburt mehr ist.


9. Wer mit Besonnenheit lenkte,

Mit Manas zügelnd, sein Gespann,

Der Mann erreicht des Wegs Endziel,

Dort, wo des Vishṇu höchster Schritt.2


Vers 10-13. Auf die ethische Forderung, die Sinne zu zügeln, folgt als höhere Aufgabe der Yoga, welcher darin besteht, die Sinne in dem Manas, dieses in der Buddhi, diese im »grossen Selbst« (mahân âtmâ), dieses endlich im Avyaktam (aus dem sie nach Sâ khya-Anschauung alle hervorgegangen) zu hemmen, wodurch der Purusha von ihnen allen isoliert, und das Ziel (die Erlösung) erreicht wird.


10. Höher als Sinne stehn Dinge,

Höher als Dinge Manas steht,

Höher als Manas steht Buddhi,

Höher als sie das ›grosse Selbst‹.


11. Höher als dies steht Avyaktam,

Höher als dies der Purusha;

Höher als dieser steht nichts mehr,

Er ist Endziel und höchster Gang.


12. In allen Wesen weilt dieser (der Purusha)

Als Âtman, unsichtbar, versteckt,

Dem schärfsten Denken nur sichtbar,

Dem feinsten des, der Feines sieht.


13. Es hemme Rede nebst Manas

Der Weise im Bewusstsein-Selbst (der Buddhi),

Dieses im ›grossen Selbst‹ hemm' er,

Dieses hemm' er im Ruhe-Selbst (dem Avyaktam).


[277] Vers 14-15. Nachdem hiermit die höchste Aufgabe bezeichnet ist, folgt nunmehr die Peroratio, bestehend in einer kräftigen Aufforderung, den von den Weisen gewiesenen Weg zu gehen, und in einer nochmaligen Hinweisung auf das Ziel desselben.


14. Steht auf! wacht auf! erlangt habend

Treffliche Lehrer, merkt auf sie.

Wie schwer zu gehn auf scharfer Messerschneide ist3,

Schwer ist der Weg! Den lehren euch die Weisen.


15. Was unhörbar, unfühlbar, unsichtbar beharrt,

Unschmeckbar und unriechbar, unvergänglich ist,

Anfanglos, endlos, grösser als Grosses, ewig bleibt,

Wer das erkennt, wird aus des Todes Rachen frei.«


Vers 16-17. Epilog, unzweifelhaft ursprünglich den Abschluss der Upanishad bildend.


16. Die Nâciketa-Mitteilung4,

Die ew'ge, die der Tod gemacht,

Wer diese lehrt und hört weislich,

Der wird herrlich in Brahman's Welt.


17. Wer dies Geheimnisvoll-Höchste

Vorträgt in der Brahmanen Kreis,

Oder beim Totenmahl, zuchtvoll5,

Dem hilft es zur Unendlichkeit,

– dem hilft es zur Unendlichkeit.


Fußnoten

1 Vgl. Manu 3,185.


2 Der »höchste Schritt des Vishṇu« (eigentlich: der Kulminationspunkt der Sonne) ist eine mythische, aus dem Ṛigveda (1,22,20. 154,5) überkommene Bezeichnungsweise des Aufenthaltes der Seligen. Vgl. Maitr. 6,26. Tejobindu 5.


3 Das Bild von dem Tänzer auf der Schwertschneide (Mahânâr. 9, oben S. 247) mag wohl auch hier vorschweben. Der Lebhaftigkeit der Rede entspricht der Wechsel des Versmasses.


4 Natürlich nicht »the story of Naciketas« (M. Müller), »die Erzählung von Naciketas« (Böhtlingk) – denn diese ist gar nicht mṛityuprokta, – sondern entweder »die Mitteilung des Feuers Nâciketa« und was sich weiter daran schliesst, – oder allenfalls »die dem Naciketas gemachte Mitteilung«.


5 Wie dies zu verstehen, lehrt Manu 3,188.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 275-278.
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