Sechste Vallî.

[284] Vers 1. Die Welt ist ein Açvattha-Baum; die vielen Wesen hier unten sind seine Zweige, das eine Brahman droben ist seine Wurzel. – An den Nyagrodha-Baum (der seine Zweige in die Erde senkt, wo sie neue Wurzel treiben) kann nur denken, wer niemals beide Bäume gesehen; sie sind nach Wuchs und Blättern völlig verschieden.


1. Die Wurzel hoch, die Zweig' abwärts

Steht jener ew'ge Feigenbaum;

Das ist das Reine, ist Brahman,

Das heisset das Unsterbliche;

In ihm die Welten all ruhen,

Ihn überschreitet keiner je (5,8).


Wahrlich, dieses ist das!


Vers 2-3. Die »Furcht Gottes« ist vorwiegend ein semitischer Begriff; sie entspringt daraus, dass man den Âtman nicht als Selbst in sich, sondern personifiziert ausser sich auffasst (Bṛih. 1,4,2: dvitîyâd vai bhayam bhavati), wozu den Menschen die natürliche Neigung, das Göttliche zu erkennen (zum Objekte zu machen), gelegentlich auch in der Upanishadreligion veranlasst. So hier Vers 2, woran sich Vers 3 ein Spruch reiht, der in älterer Form Taitt. 2,8 erhalten ist, wo vorher (oben, S. 232) der Ursprung dieser »Furcht Gottes« sehr klar darge legt wird.


2. Alles was ist, das Weltganze,

Lebt im Prâṇa, dem es entsprang;

Ein grosser Schreck ist's, ein gezückter Blitzstrahl,

Unsterblich werden solche, die es wissen.


3. Aus Furcht vor ihm brennt das Feuer,

Aus Furcht vor ihm die Sonne brennt,[284]

Aus Furcht vor ihm eilt hin Indra

Und Vâyu und der Tod zu fünft.


Vers 4-5. Vergleichbar der spätern Theorie von der Kramamukti (Syst. d. Ved., S. 472), werden hier, wie es scheint, für die verschiedenen Grade der Brahmanerkenntnis verschiedene Welten (Körperwelt, Väterwelt, Gandharvawelt, Brahmanwelt) in Aussicht gestellt, in welchen, entsprechend der vor dem Tode erworbenen Erkenntnis (vgl. Chând. 3,14,1. Bṛih. 4,4,5), der Âtman in stufenweise zunehmender Deutlichkeit angeschaut wird. Die Erläuterung der unvollkommenen Erkenntnisstufen durch das Bild im Spiegel, im Traume, im Wasser erinnert an Chând. 8,7 fg., aber die Anordnung ist eine andre. Im Spiegel sieht man nur einen Teil der Gestalt, im Traume die ganze, aber schemenhaft, wie man sich die Manen denkt (treffend erinnert Weber an Çatap. Br. 12,9,2,2), im Wasser spiegelt sich die Gestalt vollständig (pari iva dadṛiçe), aber erst mit dem Auseinandertreten der höchsten und der individuellen Seele (Licht und Schatten, oben 3,1) wird die vollkommene Erkenntnis ermöglicht.


4. Wer zur Erkenntnis aufwachte

Hienieden vor des Leibs Zerfall,

Dem ist in Schöpfungen1, Welten

Es dienlich zur Verkörperung.


5. Wie im Spiegel, so in der Leiblichkeit;

Wie im Traume, so in der Väterwelt;

Wie er im Wasser ganz erscheint, so in der Gandharvawelt;

Wie im Schatten und Licht, so in der Brahmanwelt.


Vers 6-13. Wieder wird zum Schlusse, mit Anknüpfung an 3,10-13 und übereinstimmend damit, als Weg zum höchsten Ziele der Yoga empfohlen, dessen Theorie und Terminologie jedoch hier merklich entwickelter erscheint als in der frühern Stelle.


6. Der Sinne Einzelwahrnehmung,

Ihr Auftauchen und Untergehn

Und ihr gesondert Auftreten

Kennt der Weise und grämt sich nicht.


7. Höher als Sinne steht Manas,

Höher als Manas Sattvam steht,

Höher als dies das ›grosse Selbst‹,

Über diesem Avyaktam steht.
[285]

8. Dies überragt der Purusha,

Alldurchdringend und merkmallos2,

Wer ihn erkannt, erlöst wird er

Und geht ein zur Unsterblichkeit,


9.3 Nicht ist zu schauen die Gestalt desselben,

Nicht sieht ihn irgendwer mit seinem Auge;

Nur wer an Herz und Sinn und Geist bereitet, –

Unsterblich werden, die ihn also kennen.


10. Erst wenn gelangt zum Stillstande

Mit den fünf Sinnen Manas ist,

Und unbeweglich steht Buddhi,

Das nennen sie den höchsten Gang.


11. Das ist es, was man nennt Yoga,

Der Sinne starke Fesselung4,

Doch ist man nicht dabei lässig5:

Yoga ist Schöpfung und Vergang.6


12. Nicht, durch Reden, nicht durch Denken,

Nicht durch Sehen erfasst man ihn:

›Er ist!‹ durch dieses Wort wird er

Und nicht auf andre Art erfasst.


13.›Er ist!‹ so ist er auffassbar,

Sofern er beider Wesen ist7,

›Er ist!‹ wer so ihn auffasste,

Dem wird klar seine Wesenheit.


Vers 14-16. Die Vollendung. Sie besteht nicht in der Erreichung eines künftigen oder jenseitigen Zustandes, sondern ist schon jetzt und[286] hier für den verwirklicht, der sich als Brahman weiss. Die beste Erläuterung bietet Bṛih. 4,4,6-7, woher Vers 14 entnommen sein mag. Hiermit ist die Lehre beschlossen (etâvad anuçâsanam). Der weitere Hinweis in Vers 16 = Chând. 8,6,6 auf Devayâna und Pitṛiyâna betrifft die nicht zur vollen Erkenntnis des Âtman Durchgedrungenen.


14. Wenn alle Leidenschaft schwindet,

Die nistet in des Menschen Herz,

Dann wird, wer sterblich, unsterblich,

Hier schon erlangt das Brahman er.


15. Wenn alle Knoten8 sich spalten,

Die umstricken das Menschenherz,

Dann wird, wer sterblich, unsterblich. –

So weit erstreckt die Lehre sich.


16. Hundert und eine sind des Herzens Adern,

Von diesen leitet eine nach dem Haupte:

Auf ihr steigt auf, wer zur Unsterblichkeit geht.

Nach allen Seiten Ausgang sind die andern.


Vers 17. Noch einmal weist der Schluss auf die Isolie rung des Purusha (kaivalyam) hin, in welcher Sânkhyam und Yoga das höchste Ziel erblicken, und erläutert dieselbe durch ein treffendes, merkwürdigerweise in Prosaworten dem Verse eingeschobenes, Bild.


17. Der Purusha, zollhoch, als innre Seele

Ist stets zu finden in der Geschöpfe Herzen.

Den ziehe aus dem Leibe man – wie den Halm aus dem Schilfe – besonnen,

Den wisse man als Reines, als unsterblich,

– den wisse man als Reines, als unsterblich.


Vers 18 ist (wie schon die Wiederholung der vorhergehenden Zeile beweist) ein erbaulicher Zusatz von späterer Hand. Der Verfasser ist seinem Stoffe so sehr entfremdet, dass er, das Feuer mit dem Jüngling verwechselnd, den letztern Nâciketa nennt.


18. Vom Tod empfangen habend, Nâciketa,

Dies Wissen und die ganze Yoga-Vorschrift,

Fand Brahman und ward sündlos und unsterblich.

Und so, wer dies erfuhr am eignen Selbste.


Fußnoten

1 Die Emendation svargeshu liegt sehr nahe, ist aber doch nicht durchaus notwendig.


2 Der Purusha ist (wie in der Sâ khyalehre) vyâpaka und ali ga; letzteres kann »ohne Merkmale«, »unvergänglich« oder »ohne feinen Leib« bedeuten; alle drei Bestimmungen treffen auf den Purusha der Sâ khya's zu.


3 Derselbe Vers Mahânâr. 1,11. Çvet. 4,20 (vgl. 4,17. 3,13), wozu Böhtlingk noch Mahâbh. 5,1774 beibringt.


4 Genauer bezieht sich der pratyâhâra auf die Indriya's, die dhâraṇâ auf das Manas (Yogasûtra 2,54. 3,1).


5 Lässigkeit (pramâda) ist eines der neun Hindernisse des Yoga (Yogaṣûtra 1,30).


6 Die Welt versinkt im Yoga, aber eine neue entsteht (Yogasûtra 1,35).


7 Der Âtman ist Subjekt und Objekt zugleich; daher kann er nicht, wie ein Objekt, erkannt, sondern muss durch das unmittelbare Bewusstsein »er ist« im Yoga erfasst werden.


8 Die »Knoten des Herzens« (die das Herz an die nichtrealen Dinge und Genüsse der Aussenwelt knüpfen) kommen ausser an unsrer Stelle und Muṇḍ. 2,1,10. 2,2,8. 3,2,9 noch Chând. 7,26,2 vor, worauf die andern Stellen beruhen mögen. Vgl. unsre Einleitung zu Bṛih. 3,2.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 284-287.
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