Das Yâjñavalkîyam Kâṇḍam.

[425] (Bṛihadâraṇyaka-Upanishad 3-4).


Dieser mittlere Teil der Bṛihadâraṇyaka-Upanishad besteht, von der Lehrerliste am Schlusse (4,6) abgesehen, nur aus vier Gesprächen, in denen allen Yâjñavalkya die Hauptrolle spielt, nicht unähnlich dem Sokrates in den platonischen Dialogen. Eine Steigerung ist bei der Anordnung dieser Gespräche ohne Zweifel beabsichtigt: das erste (3,1-9) ist ein grosses Redeturnier, in welchem Yâjñavalkya seine Überlegenheit gegenüber neun Mitunterrednern nacheinander beweist; das zweite (4,1-2) besteht vorwiegend in einer Kritik fremder Ansichten durch Yâjñavalkya; worauf dann derselbe endlich im dritten Gespräche (4,3-4), welches den Höhepunkt dieser und vielleicht aller Upanishad's bildet, ungehindert durch gegnerische Einwürfe und fremde Lehrmeinungen, vor dem ihn weiter und immer weiter treibenden Könige Janaka, seine philosophische Erkenntnis in ihrer ganzen Herrlichkeit strahlen lässt, – der Sonne vergleichbar, welche zunächst, aufgehend, das Heer der Sterne verscheucht, sodann die Wolkendünste am Horizonte überwindet, bis sie endlich vom unbewölkten Himmel eine Überfülle von Licht und Wärme herabsendet. Und so lässt sich wohl das vierte und letzte Gespräch (4,5) mit dem Sonnenuntergang vergleichen; es enthält nochmals das uns schon aus Bṛih. 2,4 bekannte Gespräch des Yâjñavalkya mit seiner Gattin Maitreyî, mit welchem er aus der menschlichen Gesellschaft scheidet, um in die Waldeinsamkeit zu ziehen.

Auffallend ist hierbei jedoch, dass dieses letzte Gespräch, welches man füglich das Testament des Yâjñavalkya nennen kann, hier im Yâjñavalkyateile (4,5) in einer unzweifelhaft weniger ursprünglichen Form vorliegt als vorher im Madhuteile (2,4); wie denn auch die Lehrerliste, welche 4,6 dem Yâjñavalkyateile angehängt ist, den Stammbaum der Urheber der Lehre von Brahman bis auf die Gegenwart herab verfolgt, – ohne des Yâjñavalkya Erwähnung zu tun!

Soll diese Lehrerliste irgend ernst genommen werden, so liegt in ihr das Geständnis, dass Yâjñavalkya als historische Persönlichkeit in der Tradition des Yâjñavalkyateiles gar keine Stelle hat, dass er vielmehr als geistiger Heros aus der Urzeit (in der rituellen Liste Bṛih. 6,5,3 ist er der dreizehnte nach Âditya) den von Haus aus schon, unbeschadet der anderweiten Geschichtlichkeit seiner Person, rein ideellen Mittelpunkt bildete, um welchen sich die Gedanken der Upanishadschule kristallisierten (vgl. auch oben S. 153-154). So wird der ganze Gedankenkreis des Apostels Paulus beherrscht von der Persönlichkeit Jesu, wiewohl er denselben leiblich vielleicht nie gesehen (2 Kor. 5,16) und der historischen Tradition über ihn eher auswich, als dass er sie aufsuchte (Gal. 1,17).

Aber auch für die Komposition der im Yâjñavalkyateile vereinigten Gedanken scheint Yâjñavalkya nicht sowohl der Ausgangspunkt, als vielmehr[426] nur der Endpunkt gewesen zu sein. Denn wir werden vielen Anzeichen dafür begegnen, dass die hier vorliegenden Gedanken teilweise wenigstens vorher als selbständige Reflexionen bestanden haben, ehe sie dem Yâjñavalkya in den Mund gelegt und in den poetischen Rahmen der vier Gespräche eingefügt wurden.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 425-427.
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