I. Das himmlische Bewusstsein (Herz)

[76] Der Meister Lü Dsu sprach: Das durch sich selbst Seiende heißt Sinn (Tao). Der Sinn hat nicht Name noch Gestalt. Er ist das eine Wesen, der eine Urgeist. Wesen und Leben kann man nicht sehen. Es ist enthalten im Licht des Himmels. Das Licht des Himmels kann man nicht sehen, es ist enthalten in den beiden Augen. Ich will heute Euer Geleitsmann sein und Euch zuerst das Geheimnis der Goldblume des Großen Einen eröffnen, um von da aus das Weitere einzeln zu erklären.

Der Große Eine ist die Bezeichnung dessen, das nichts mehr über sich hat. Das Geheimnis des Lebenszaubers besteht darin, daß man das Handeln benützt, um zum Nichthandeln zu kommen, man darf nicht alles überspringen und direkt eindringen wollen. Der überlieferte Grundsatz ist, die Arbeit am Wesen in die Hand zu nehmen. Dabei kommt es darauf an, nicht in Abwege zu geraten.

Die Goldblume ist das Licht. Welche Farbe hat das Licht? Man nimmt die Goldblume zum Gleichnis. Das ist die wahre Kraft des transzendenten Großen Einen. Das Wort: »Das Blei der Wassergegend hat nur einen Geschmack« deutet darauf hin.


Im Buch der Wandlungen heißt es1: »Der Himmel erzeugt durch die Eins das Wasser«. Das ist eben die wahre Kraft des Großen Einen. Wenn der Mensch dieses Eine erlangt, so wird er lebendig, verliert er es, so stirbt er. Aber obwohl der Mensch in der Kraft (Luft, Prana) lebt, so sieht er die Kraft (Luft) nicht, ebenso wie die Fische im Wasser leben, aber das Wasser nicht sehen. Der Mensch stirbt, wenn er keine Lebensluft hat, ebenso wie die Fische ohne Wasser zu Grunde gehen. Darum haben die Adepten die Leute[76] gelehrt das Ursprüngliche festzuhalten und das eine zu wahren, das ist der Kreislauf des Lichts und die Wahrung des Zentrums. Wenn man diese echte Kraft wahrt, so kann man seine Lebenszeit verlängern und dann die Methode anwenden durch »Schmelzen und Mischen« einen unsterblichen Leib zu schaffen.


Die Arbeit des Kreislaufs des Lichts beruht ganz auf der rückläufigen Bewegung, daß man die Gedanken (die Stelle des himmlischen Bewußtseins, das himmlische Herz) sammelt. Das himmlische Herz liegt zwischen Sonne und Mond (d.h. den beiden Augen).

Das Buch vom gelben Schloß sagt: »In dem zollgroßen Feld des fußgroßen Hauses kann man das Leben ordnen.« Das fußgroße Haus ist das Gesicht. Im Gesicht das zollgroße Feld: was könnte es anderes sein als das himmlische Herz? Inmitten des Geviertzolls wohnt die Herrlichkeit. In dem purpurnen Saal der Nephritstadt wohnt der Gott der äußersten Leere und Lebendigkeit. Die Konfuzianer nennen es: Zentrum der Leere, die Buddhisten: Terrasse der Lebendigkeit, die Taoisten: Ahnenland oder gelbes Schloß oder dunkler Paß oder Raum des früheren Himmels. Das himmlische Herz gleicht der Wohnung, das Licht ist der Hausherr.

Darum, sowie das Licht im Kreislauf geht, stellen sich die Kräfte des ganzen Körpers vor seinem Thron ein, wie wenn ein heiliger König die Hauptstadt festgesetzt und die Grundordnung geschaffen hat, alle Staaten mit Tributgaben nahen, oder wie, wenn der Herr ruhig und klar ist, Knechte und Mägde von selbst seinen Befehlen gehorchen und jedes seine Arbeit tut.

Darum braucht ihr nur das Licht in Kreislauf zu bringen; das ist das höchste und wunderbarste Geheimnis. Das Licht ist leicht zu bewegen, aber schwer zu fixieren. Wenn man es lang genug im Kreis laufen läßt, dann kristallisiert es sich; das ist der natürliche Geistleib. Dieser kristallisierte Geist bildet sich jenseits der neun Himmel. Das ist der Zustand, von dem es im Buch vom Siegel des Herzens heißt: »Schweigend fliegst du des Morgens empor.«

Bei der Durchführung dieses Grundsatzes braucht ihr nach keinen andern Methoden zu suchen, sondern müßt einfach die Gedanken darauf sammeln. Das Buch Long Yen2 sagt: »Durch Sammlung der Gedanken[77] danken kann man fliegen und wird im Himmel geboren.« Der Himmel ist nicht der weite blaue Himmel, sondern der Ort, wo die Leiblichkeit im Haus des Schöpferischen erzeugt wird. Wenn man lang damit fortfährt, so entsteht ganz natürlich außer dem Leibe noch ein anderer Geistesleib.

Die Goldblume ist das Lebenselixier (Gin Dan, wörtlich Goldkugel, Goldpille). Alle Wandlungen des geistigen Bewußtseins hängen vom Herzen ab. Hier gibt es einen geheimen Zauber, der obwohl er ganz genau stimmt, dennoch so fließend ist, daß er äußerster Intelligenz und Klarheit und der äußersten Vertiefung und Ruhe bedarf. Menschen ohne diese äußerste Intelligenz und Verständnis finden den Weg der Anwendung nicht, Menschen ohne diese äußerste Versenkung und Ruhe können ihn nicht festhalten.


Dieser Abschnitt erklärt den Ursprung des großen Sinns der Welt (Tao). Das himmlische Herz ist der Wurzelkeim des großen Sinns. Wenn man ganz ruhig zu sein vermag, dann wird das himmlische Herz von selbst offenbar. Wenn das Gefühl sich regt und rechtläufig sich äußert, so entsteht der Mensch als ursprüngliches Lebewesen. Dieses Lebewesen weilt vor der Geburt nach der Empfängnis im wahren Raum. Wenn der eine Ton der Individuation in die Geburt eintritt, ist das Wesen und das Leben in zwei geteilt. Von da ab sehen sich – wenn nicht die äußerste Ruhe erreicht wird – Wesen und Leben nicht wieder.

Darum heißt es im Plan des großen Pols: Das Große Eine befaßt in sich die wahre Kraft (Prana), den Samen, den Geist, den Animus und die Anima. Wenn die Gedanken ganz ruhig sind, so daß man das himmlische Herz sieht, so erreicht von selbst die geistige Intelligenz den Ursprung. Dieses Wesen wohnt allerdings im wahren Raum, aber der Lichtglanz wohnt in den beiden Augen. Darum lehrt der Meister den Kreislauf des Lichts, um das wahre Wesen zu erlangen. Das wahre Wesen ist der ursprüngliche Geist. Der ursprüngliche Geist ist eben das Wesen und Leben, und wenn man das Reale daran nimmt, so ist es eben die Urkraft. Und der große Sinn ist eben dieses Ding.

Der Meister ist nun weiterhin besorgt, daß die Leute den Weg ja nicht verfehlen, der vom bewußten Handeln zum unbewußten Nichthandeln führt. Darum sagt er: Der Zauber des Lebenselixiers bedient sich des bewußten Handelns um zum unbewußten Nichthandeln zu gelangen. Das bewußte Handeln besteht darin, daß man das Licht durch Reflexion in Kreislauf versetzt, um die Auslösung des Himmels zur Erscheinung zu bringen. Wenn[78] dann der wahre Same geboren wird und man die rechte Methode anwendet um ihn zu schmelzen und zu mischen und so das Lebenselixier zu schaffen, dann geht es durch den Paßweg; der Embryo bildet sich, der durch die Arbeit des Wärmens, Nährens, Badens und Waschens entwickelt werden muß. Das geht in das Gebiet des unbewußten Nichthandelns hinüber. Es bedarf eines vollen Jahrs dieser Feuerperiode, ehe der Embryo geboren wird, die Schalen abstreift und aus der gewöhnlichen Welt in die heilige übergeht.

Diese Methode ist ganz einfach und leicht. Aber es gibt so viele sich wandelnde und verändernde Zustände dabei, daß es heißt: Nicht mit einem Sprung kann man plötzlich hinein gelangen. Wer das ewige Leben sucht, der muß den Ort suchen, wo ursprünglich das Wesen und Leben entspringt.

1

Dieser Kommentar stammt vermutlich aus dem 17. oder 18. Jahrhundert

2

Long Yen ist das buddhistische Suramgama-sutra.

Quelle:
Das Geheimnis der goldenen Blüte. Olten/Freiburg i. Br. 1971, S. 76-79.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die Betschwester. Lustspiel

Die Betschwester. Lustspiel

Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon