IV. Kreislauf des Lichts und Rhythmisierung des Atems

[92] Meister Lü Dsu sprach: Den Entschluß muß man mit gesammeltem Herzen ausführen, nicht Erfolg suchen, dann kommt der Erfolg von selbst. In der ersten Auslösungsperiode gibt es hauptsächlich zwei Fehler: die Trägheit und die Zerstreutheit. Doch dem läßt sich abhelfen: man darf das Herz nicht allzusehr in den Atem legen. Der Atem kommt vom Herzen14. Was aus dem Herzen hervorkommt ist Atem.Sowie das Herz sich regt, entsteht Atemkraft. Die Atemkraft ist ursprünglich verwandelte Herztätigkeit. Wenn unsere Vorstellungen sehr schnell gehen, so kommt es unversehens zu Phantasievorstellungen, die immer von einem Atemzug begleitet sind, denn dieser innere und äußere Atem hängt miteinander zusammen wie Ton und Echo. Täglich tun wir zahllose Atemzüge und haben ebenso zahllose Phantasievorstellungen. Und so entrinnt die Geistesklarheit, wie das Holz verdorrt und die Asche stirbt.

Soll man also keine Vorstellungen haben? Man kann nicht ohne Vorstellungen sein. Soll man nicht atmen? Man kann nicht ohne Atem sein. Das beste Mittel ist aus der Krankheit eine Arznei zu machen.
[94]

Meditation 2. Stadium: Entstehung der Neugeburt im Raum der Kraft
Meditation 2. Stadium: Entstehung der Neugeburt im Raum der Kraft

Da nun Herz und Atem voneinander abhängen, so muß man den Kreislauf des Lichts vereinigen mit der Rhythmisierung des Atems. Dazu bedarf es vor allem des Ohrenlichts. Es gibt ein Augenlicht und ein Ohrenlicht. Das Augenlicht ist das vereinigte Licht der Sonne und des Mondes draußen. Das Ohrenlicht ist der vereinigte Same der Sonne und des Mondes drinnen. Der Same ist also das Licht in kristallisierter Form. Beides hat denselben Ursprung und unterscheidet sich nur durch den Namen. Darum ist Verständnis (Ohr) und Klarheit (Auge) gemeinsam ein und dasselbe wirkende Licht.

Beim Niedersitzen benützt man die Augen nach dem Senken der Lider, um eine Richtschnur festzusetzen, und verlegt das Licht dann nach unten. Wenn aber die Verlegung nach unten nicht gelingen will, so richtet man das Herz auf das Hören des Atems. Das Aus- und Eingehen des Atems darf man nicht mit dem Ohr hören können. Was man hört ist eben, daß es keinen Ton hat. Sowie es einen Ton gibt, ist der Atem grob und oberflächlich und dringt nicht ins Freie. Dann muß man das Herz ganz leicht und gering machen. Je mehr man es losläßt, desto geringer wird es, je geringer desto ruhiger. Auf einmal wird es so leise, daß es aufhört. Dann tritt der Atem in Erscheinung und die Gestalt des Herzens läßt sich bewußt machen. Wenn das Herz fein ist, so ist der Atem fein; denn jede Bewegung des Herzens wirkt Atemkraft. Wenn der Atem fein ist, so ist das Herz fein; denn jede Bewegung der Atemkraft wirkt auf das Herz. Um das Herz zu fixieren, geht man zuerst daran, die Atemkraft zu pflegen. Auf das Herz kann man nicht direkt[94] wirken. Darum hält man sich an die Atemkraft als Handhabe, das ist was man Bewahrung der gesammelten Atemkraft nennt.

Kinder, versteht ihr denn nicht das Wesen der Bewegung? Die Bewegung läßt sich durch äußere Mittel erzeugen. Es ist nur ein anderer Name für Beherrschung. So kann man einfach durch Laufen das Herz zur Bewegung bringen. Sollte man es nicht auch durch gesammelte Ruhe zur Stille bringen können? Die großen Heiligen, die erkannt haben, wie Herz und Atemkraft einander gegenseitig beeinflussen, haben ein erleichtertes Verfahren ersonnen um der Nachwelt zu nützen.

Im Buch des Elixiers15 heißt es: »Die Henne kann ihre Eier ausbrüten, weil ihr Herz immer hört«. Das ist ein wichtiger Zauberspruch. Der Grund, warum die Henne brüten kann, ist die Kraft der Wärme. Die Kraft der Wärme kann aber nur die Schalen wärmen, nicht ins Innere eindringen. Deshalb leitet sie diese Kraft mit dem Herzen nach innen. Das tut sie durch das Gehör. Damit konzentriert sie ihr ganzes Herz. Wenn das Herz eindringt, dringt die Kraft ein, und das Junge erlangt die Kraft der Wärme und wird lebendig. Darum hat die Henne, auch wenn sie manchmal ihre Eier verläßt, doch immer die Gebärde mit geneigtem Ohr zu hören: die Konzentration des Geistes erfährt so keine Unterbrechung. Weil die Konzentration des Geistes keine Unterbrechung erfährt, so erleidet die Kraft der Wärme auch Tag und Nacht keine Unterbrechung und der Geist erwacht zum Leben. Das Erwachen des Geistes wird bewirkt, weil das Herz zuerst gestorben ist. Wenn der Mensch sein Herz sterben lassen kann, dann erwacht der Urgeist zum Leben. Das Herz ertöten bedeutet nicht sein Vertrocknen und Abdorren, sondern es bedeutet, daß es ungeteilt und gesammelt eins geworden ist.

Der Buddha sprach: »Wenn du dein Herz auf einem Punkt festlegst, dann ist dir kein Ding unmöglich«. Das Herz läuft leicht weg, so muß man es durch Atemkraft sammeln. Die Atemkraft wird leicht grob, darum muß man sie mit dem Herzen verfeinern. Wenn man es so macht, wird es da vorkommen können, daß es nicht fixiert wird?

Die beiden Fehler der Trägheit und Zerstreuung muß man durch ruhige Arbeit, die täglich ohne Unterbrechung fortgeführt wird, bekämpfen; dann wird der Erfolg sicher eintreten. Wenn man nicht bei der Meditation sitzt, so wird man oft zerstreut sein, ohne daß man es[95] merkt. Der Zerstreutheit bewußt zu werden, das ist der Mechanismus, der zur Beseitigung der Zerstreutheit führt. Trägheit, deren man nicht bewußt ist und Trägheit, deren man bewußt wird, sind tausend Meilen weit voneinander entfernt. Unbewußte Trägheit ist wirklich Trägheit, bewußte Trägheit ist keine volle Trägheit, weil noch etwas Klarheit darin ist. Die Zerstreuung beruht darauf, daß der Geist umherschweift, Trägheit darauf, daß der Geist noch nicht rein ist. Zerstreuung ist viel leichter zu bessern als Trägheit. Es ist wie bei einer Krankheit; wenn man Schmerzen und Jucken fühlt, so kann man ihr mit Arzneien beikommen, aber die Trägheit gleicht einer Krankheit, die mit Gefühllosigkeit verbunden ist. Zerstreuung läßt sich sammeln, Verwirrung läßt sich ordnen, aber Trägheit und Versunkenheit sind dumpf und dunkel. Zerstreuung und Verwirrung haben wenigstens noch einen Ort, aber bei der Trägheit und Versunkenheit betätigt sich allein die Anima. Bei der Zerstreutheit ist noch Animus dabei, aber bei der Trägheit herrscht das reine Dunkel. Wenn man bei der Meditation schläfrig wird, das ist eine Wirkung der Trägheit. Zur Beseitigung der Trägheit dient allein der Atem. Obwohl der durch Nase und Mund ein- und ausströmende Atem nicht der wahre Atem ist, so erfolgt das Aus- und Einströmen des wahren Atems doch in Verbindung damit.

Beim Sitzen muß man daher stets das Herz ruhig halten und die Kraft gesammelt. Wie kann man das Herz ruhig bekommen? Durch den Atem. Des Atems Aus- und Einströmen darf sich nur das Herz bewußt werden, man darf es nicht mit den Ohren hören. Wenn man es nicht hört, so ist der Atem fein, ist er fein, so ist er rein. Wenn man es hört, so ist die Atemkraft grob, ist sie grob, so ist sie trüb, ist sie trüb, so entsteht Trägheit und Versunkenheit und man bekommt Neigung zum Schlafen. Das versteht sich ganz von selbst.

Aber das Herz beim Atmen richtig zu gebrauchen, das will verstanden sein. Es ist ein Gebrauch ohne Gebrauch. Man darf nur ganz leise auf das Hören Licht fallen lassen. Dieser Satz enthält einen geheimen Sinn. Was heißt Licht fallen lassen? Es ist das eigene Strahlen des Augenlichts. Das Auge blickt nur nach innen und nicht nach außen. Ohne nach außen zu blicken, Helligkeit empfinden, das heißt nach innen blicken; es handelt sich nicht um ein wirkliches Einwärtsblicken. Was heißt hören? Es ist das eigene Hören des Ohrenlichts. Das Ohr horcht nur nach innen, ohne nach außen zu horchen. Ohne nach außen[96] zu horchen, Helligkeit empfinden, das heißt nach innen horchen; es handelt sich nicht um ein wirkliches Horchen nach innen. Bei diesem Hören hört man nur, daß kein Laut da ist; bei diesem Schauen sieht man nur, daß keine Gestalt da ist. Wenn das Auge nicht nach außen blickt und das Ohr nicht nach außen horcht, so schließen sie sich und sind geneigt nach innen zu sinken. Nur wenn man nach innen blickt und nach innen horcht, geht das Organ nicht nach außen und sinkt auch nicht nach innen. Auf diese Weise wird die Trägheit und Versunkenheit beseitigt. Das ist die Verbindung der Samen und des Lichts von Sonne und Mond.

Wenn man infolge von Trägheit schläfrig wird, so stehe man auf und gehe umher. Wenn der Geist klar geworden ist, dann setze man sich wieder. Wenn man des Morgens Zeit hat, so mag man über das Abbrennen einer Weihrauchkerze sitzen, das ist das beste. Nachmittags stören die menschlichen Geschäfte, und man fällt deshalb leicht in Trägheit. Aber man braucht sich nicht auf eine Weihrauchkerze festzulegen. Nur muß man alle Verwicklungen beiseite legen und eine Zeitlang ganz stille sitzen. Mit der Zeit wird es dann gelingen, ohne daß man in Trägheit fällt und einschläft.


Der Hauptgedanke dieses Abschnitts ist, daß das Wichtigste zum Kreislauf des Lichts die Rhythmisierung des Atems ist. Je mehr die Arbeit fortschreitet, desto tiefer werden die Lehren. Der Lernende muß beim Kreislauf des Lichts Herz und Atem zueinander in Beziehung setzen, um die Beschwerden der Trägheit und Zerstreuung zu vermeiden. Der Meister fürchtet, daß die Anfänger während des Sitzens, wenn sie eben die Lider gesenkt haben, wirre Phantasievorstellungen bekommen, durch die das Herz zu laufen beginnt, so daß es schwer zu lenken ist. Darum lehrt er die Arbeit des Atemzählens und des Fixierens der Gedanken des Herzens, um zu verhindern, daß die Geisteskraft nach außen läuft.

Weil der Atem aus dem Herzen kommt, so kommt der unrhythmische Atem von der Unruhe des Herzens her. Darum muß man ausatmen und einatmen ganz sachte, so daß es für das Ohr unhörbar bleibt und nur das Herz ganz still die Atemzüge zählt. Wenn das Herz die Zahl der Atemzüge vergißt, so ist das ein Zeichen, daß das Herz nach außen davongelaufen ist. Dann muß man das Herz festhalten. Wenn das Ohr nicht aufmerksam hört oder die Augen nicht auf den Nasenrücken blicken, so kommt es auch vor, daß das Herz nach außen läuft oder der Schlaf kommt. Das ist ein Zeichen,[97] daß der Zustand in Verwirrung und Versunkenheit übergeht und man den Samengeist in Ordnung bringen muß. Wenn man beim Senken der Lider und Richtungnehmen nach der Nase den Mund nicht ganz schließt und die Zähne nicht ganz fest zusammenbeißt, so geschieht es auch leicht, daß das Herz nach außen eilt; dann muß man rasch den Mund schließen und die Zähne zusammenbeißen. Die fünf Sinne richten sich nach dem Herzen und der Geist muß die Atemkraft zu Hilfe nehmen, damit Herz und Atem in Übereinstimmung kommen. Auf diese Weise bedarf es höchstens einer täglichen Arbeit von einigen Viertelstunden, so kommen Herz und Atem von selbst in die rechte Zusammenwirkung und Übereinstimmung, dann braucht man nicht mehr zu zählen und der Atem wird von selbst rhythmisch. Wenn der Atem rhythmisch geht, so verschwinden die Fehler der Trägheit und Zerstreutheit mit der Zeit ganz von selbst.

14

Das chinesische Zeichen für Atem, Si, setzt sich zusammen aus dem Zeichen Dsï »von«, »selbst« und dem Zeichen Sin »Herz«, »Bewußtsein«. Es kann also gedeutet werden als »vom Herzen kommend«, »seinen Ursprung im Herzen habend«, aber gleichzeitig bezeichnet es auch den Zustand, da »das Herz bei sich selbst« ist, die Ruhe.

15

Ein Geheimbuch der Sekten der goldenen Lebenspille.

Quelle:
Das Geheimnis der goldenen Blüte. Olten/Freiburg i. Br. 1971, S. 92-98.
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