V. Irrtümer beim Kreislauf des Lichts

[98] Meister Lü Dsu sprach: Eure Arbeit wird allmählich gesammelt und reif, aber vor dem Zustand, da man wie ein dürrer Baum vor dem Felsen sitzt, liegen noch viele Möglichkeiten des Irrtums, auf die ich genau aufmerksam machen möchte. Diese Zustände erkennt man erst, wenn man sie persönlich erlebt. So will ich sie hier aufzählen. Meine Richtung unterscheidet sich von der buddhistischen Yoga-Richtung (Dschan Dsung)16, indem sie Schritt für Schritt ihre Bestätigungszeichen hat. Erst möchte ich von den Irrtümern reden und dann auf die Bestätigungszeichen zu sprechen kommen.

Wenn man sich anschickt seinen Entschluß auszuführen, so muß man vorher dafür sorgen, daß alles in bequem gelassener Haltung vor sich gehen kann. Man soll das Herz nicht zu sehr beanspruchen. Man muß dafür sorgen, daß ganz automatisch die Kraft und das Herz einander entsprechen. Dann erst gelangt man in den Ruhezustand. Während des Ruhezustands muß man für die richtigen Verhältnisse und den richtigen Raum sorgen. Man darf sich nicht niedersetzen inmitten nichtiger Geschäfte, wie es heißt: man soll nicht Leeres im Sinn haben. Alle Verwicklungen soll man beiseite legen, ganz souverän und selbständig sein. Auch darf man nicht die Gedanken auf die richtige Ausführung[98] richten. Wenn man sich zu viele Mühe gibt, so tritt diese Gefahr ein. Ich sage nicht, daß man sich keine Mühe geben soll, aber das richtige Verhalten ist in der Mitte zwischen Sein und Nichtsein; wenn man absichtlich die Absichtslosigkeit erlangt, dann hat man es erfaßt. Souverän und ohne Trübung lasse man sich gehen in selbständiger Weise.

Ferner darf man nicht in die bestrickende Welt fallen. Die bestrickende Welt ist, wo die fünf Arten der dunkeln Dämonen ihr Spiel treiben; das ist z.B. der Fall, wenn man nach der Fixierung hauptsächlich Gedanken des dürren Holzes und der toten Asche hat und wenig Gedanken des lichten Frühlings auf der großen Erde. Dadurch versinkt man in der Welt des Dunkeln. Die Kraft ist da kalt, der Atem schwer, und es zeigen sich eine Menge Vorstellungsbilder des Kalten und Absterbenden. Wenn man darin lange verweilt, so gerät man in den Bereich der Pflanzen und Steine.

Auch darf man sich nicht verleiten lassen von den zehntausend Verstrickungen. Dies geschieht, wenn ohne Unterbrechung allerlei Bindungen plötzlich auftreten, nachdem man den Ruhezustand begonnen hat. Man will sie durchbrechen und kann nicht, man folgt ihnen und fühlt sich dadurch wie erleichtert. Das heißt: Der Herr wird zum Knecht. Wenn man lange dabei verweilt, so gerät man in die Welt des Begehrens des Wahns.

Im besten Fall kommt man in den Himmel, im schlimmsten unter die Fuchsgeister17. Ein solcher Fuchsgeist vermag wohl auch sich in berühmten Gebirgen zu betätigen, des Windes und Mondes, der Blumen und Früchte zu genießen, an Korallenbäumen und Juwelengräsern seine Freude zu haben. Aber nachdem er sich drei- bis fünfhundert Jahre so betätigt hat oder im höchsten Fall nach ein paar tausend Jahren, dann ist sein Lohn dahin und er wird wieder hereingeboren in die Welt der Unrast.

Das alles sind Irrwege. Wenn man die Irrwege kennt, dann mag man nach Bestätigungszeichen forschen.
[99]

Der Sinn dieses Abschnittes18 ist, auf die Irrwege bei der Meditation aufmerksam zu machen, damit man in den Raum der Kraft und nicht in die Höhle der Phantasie kommt. Dies ist die Welt der Dämonen. Das ist z.B. der Fall, wenn man sich zur Meditation hinsetzt und sieht Lichtflammen oder bunte Farben erscheinen, oder sieht Bodhisatvas und Götter sich nahen und was dergleichen Phantasien mehr sind. Oder wenn man es nicht fertig bringt, daß Kraft und Atem sich vereinigen, wenn das Wasser der Nieren nicht nach oben kann, sondern nach unten drängt, die Urkraft kalt und der Atem schwer wird, dann sind die milden Lichtkräfte der großen Erde zu wenig und man gerät in die leere Phantasiewelt. Oder wenn beim langen Sitzen die Vorstellungen in Scharen sich erheben, man will sie hemmen, es geht nicht; man läßt sich von ihnen treiben und fühlt sich leichter: dann darf man unter keinen Umständen mit der Meditation fortfahren, sondern muß aufstehen und eine Weile umhergehen, bis Kraft und Herz wieder im Einklang sind; dann erst mag man sich wieder zur Meditation hinsetzen. Beim Meditieren muß man eine Art von bewußter Intuition haben, daß man im Feld des Elixiers Kraft und Atem sich vereinigen fühlt, daß eine warme dem wahren Licht angehörige Auslösung sich dumpf zu regen beginnt; dann hat man den rechten Raum gefunden. Wenn man diesen rechten Raum gefunden hat, so ist man der Gefahr enthoben, in die Welt des Wahnbegehrens oder der finsteren Dämonen zu geraten.

16

Auf japanisch Zen.

17

Nach dem chinesischen Volksglauben können auch die Füchse das Lebenselixier pflegen; sie erhalten dadurch die Fähigkeit, sich in Menschen zu verwandeln. Sie entsprechen den Naturdämonen der westlichen Mythologie.

18

Dieser Abschnitt zeigt deutlich buddhistischen Einfluß. Die Versuchung, die hier erwähnt wird, besteht darin, daß man durch solche Phantasien veranlaßt wird, sie für wirklich zu halten und ihnen zu verfallen (vgl. die Szene, wie Mephisto den Faust durch seine Dämonen einschläfern läßt).

Quelle:
Das Geheimnis der goldenen Blüte. Olten/Freiburg i. Br. 1971, S. 98-100.
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