VIII. Zauberspruch für die Reise ins Weite

[106] Meister Lü Dsu sprach: Yü Tsing hat einen Zauberspruch für die Reise ins Weite hinterlassen:


»Vier Worte kristallisieren den Geist im Raum der Kraft.

Im sechsten Monat sieht man plötzlich weißen Schnee fliegen.

Zur dritten Wache sieht man die Sonnenscheibe blendend strahlen.

Im Wasser bläst der Wind des Sanften.

Am Himmel wandelnd ißt man die Geisteskraft des Empfangenden.

Und des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis:

Das Land, das nirgends ist, das ist die wahre Heimat ...«


Diese Verse sind sehr geheimnisvoll. Die Bedeutung ist: Das Wichtigste am großen Sinn sind die vier Worte: Im Nichthandeln das Handeln. Das Nichthandeln verhindert, daß man in Form und Bild (Körperlichkeit) verwickelt wird. Das Handeln im Nichthandeln verhindert, daß man ins starre Leere und tote Nichts versinkt. Die Wirkung beruht ganz auf der zentralen Eins, die Auslösung der Wirkung liegt in den beiden Augen. Die beiden Augen sind wie die Deichsel des großen Wagens, die die ganze Schöpfung dreht; sie bringen die Pole des Lichten und des Dunkeln in Kreisbewegung. Das Elixier beruht zu Anfang und Ende auf dem einen: das Metall inmitten des Wassers, d.i. das Blei im Ort des Wassers. Bisher war vom Kreislauf des Lichts die Rede, damit war auf die Anfangsauslösung hingewiesen, die von außen her auf das Innere wirkt. Das ist um zu helfen den Herrn zu bekommen. Das ist für die Lernenden auf den Anfangsstufen: Sie pflegen die zwei unteren Übergänge, um den oberen Übergang zu gewinnen. Nachdem nun die Reihenfolge klar ist und die Art der Auslösung bekannt, spart der Himmel nicht mehr den Sinn, sondern verrätden allerhöchsten Grundsatz. Ihr Schüler, haltet ihn geheim und strengt euch an!

Der Kreislauf des Lichts ist die Gesamtbezeichnung. Je mehr die Arbeit fortschreitet, desto mehr kommt die Goldblume zum Blühen. Nun gibt es aber eine noch wunderbarere Art des Kreislaufs. Bisher haben wir von außen her auf das Innere gewirkt, nun verweilen wir im Zentrum und beherrschen das Äußere. Bisher war es ein Dienst zur Hilfe des Herrn, jetzt ist es eine Verbreitung der Befehle dieses Herrn. Das ganze Verhältnis kehrt sich jetzt um.
[108]

Meditation 4. Stadium: Mitte inmitten der Bedingungen
Meditation 4. Stadium: Mitte inmitten der Bedingungen

Wenn man mit der Methode in die feineren Gebiete eindringen will, so muß man zuerst dafür sorgen, daß man Leib und Herz vollkommen beherrscht, daß man ganz frei und ruhig ist, alle Verwicklung fahren läßt, nicht die leiseste Aufregung hat und das himmlische Herz genau in der Mitte weilt. Dann senke man die Lider der beiden Augen, wie wenn man ein heiliges Edikt erhielte, mit dem man zum Minister berufen wird: Wer wagte da nicht zu gehorchen? – Dann leuchtet man mit beiden Augen in das Haus des Abgründigen (Wasser, Kan). Wo die Goldblume hinkommt, da tritt das wahre polare Licht hervor ihr entgegen. Das Haftende (das Lichte, Li) ist außen licht und innen dunkel; das ist der Leib des Schöpferischen. Das eine Dunkle geht hinein und wird zum Herrn. Die Folge ist, daß das Herz (Bewußtsein) in Abhängigkeit von den Dingen entsteht, nach außen gerichtet ist und vom Strom umhergetrieben wird. Wenn nun das rotierende Licht nach innen scheint, so entsteht es nicht in Abhängigkeit von den Dingen und die Kraft des Dunkeln wird fixiert und die Goldblume leuchtet konzentriert. Das ist dann das gesammelte Polarlicht. Verwandtes zieht sich an. So drängt sich die lichtpolare Linie des Abgründigen nach oben. Das ist nicht nur das Lichte im Abgrund, sondern es ist das schöpferische Licht, das schöpferischem Licht begegnet. Sobald diese beiden Substanzen sich treffen, verbinden sie sich unauflöslich und es entsteht ein unaufhörlich Leben, es kommt und geht, es steigt und fällt von selbst im Haus der Urkraft. Man empfindet eine Helligkeit und Unendlichkeit. Der ganze Körper fühlt sich leicht und möchte fliegen. Das ist der Zustand von dem es heißt: Die Wolken erfüllen die tausend Berge. Allmählich geht es ganz leise hin und her, es steigt und fällt unmerklich. Der Puls bleibt stehen und der Atem hört auf. Das ist der Augenblick der wahren zeugenden Vereinigung, der Zustand von dem es heißt: Der Mond sammelt die zehntausend[108] Gewässer. Inmitten dieses Dunkels beginnt dann plötzlich das himmlische Herz eine Bewegung. Das ist die Wiederkehr des einen Lichten, die Zeit, da das Kind zum Leben kommt.

Allein die Einzelheiten davon muß man ausführlich erklären. Wenn der Mensch nach etwas ausschaut, auf etwas hört, so bewegen sich Auge und Ohr und folgen den Dingen, bis sie fort sind. Diese Bewegungen sind alles Untertanen, und wenn der himmlische Herrscher ihnen in ihrem Dienst nachfolgt, das heißt: mit Dämonen zusammenwohnen.

Wenn man nun in jeder Bewegung, jedem Stillesein mit Menschen nicht mit Dämonen zusammenwohnt, so ist der himmlische Herrscher der wahre Mensch. Wenn er sich bewegt, mit ihm sich zusammen bewegen, dann ist die Bewegung die Wurzel des Himmels. Wenn er still ist, mit ihm zusammen still sein, dann ist die Stille die Höhle des Mondes. Wenn er mit Bewegung und Stille unaufhörlich fortmacht, mit ihm zusammen in Bewegung und Ruhe unaufhörlich weitermachen; wenn er im Ein- und Ausatmen auf- und ab steigt, mit ihm zusammen im Ein- und Ausatmen auf- und absteigen: das ist was man hin- und hergehen zwischen Himmelswurzel und Mondhöhle nennt. Wenn das himmlische Herz noch Ruhe wahrt, so ist Bewegung vor der rechten Zeit ein Fehler der Weichheit. Wenn das himmlische Herz schon sich bewegt hat, so ist Bewegung, die hinterher erfolgt, um ihm zu entsprechen, ein Fehler der Starrheit. Sowie das himmlische Herz sich regt, muß man sofort mit ganzem Gemüte nach oben steigen in das Haus des Schöpferischen, so sieht das Geisteslicht die Spitze; das ist der Führer. Diese Bewegung entspricht der Zeit. Das Himmelsherz steigt auf die Spitze des Schöpferischen, da breitet es sich in voller Freiheit aus. Dann will es plötzlich tiefe Stille, dann muß man es schleunigst mit ganzem Gemüt in das Gelbe Schloß hinein führen, so sieht das Augenlicht die zentrale gelbe Geisteswohnung.

Wenn dann die Lust zur Stille kommt, da entsteht nicht ein einziger Gedanke; der nach innen Blickende vergißt plötzlich, daß er blickt. Zu dieser Zeit müssen Leib und Herz vollkommen losgelassen werden. Alle Verstrickungen sind spurlos verschwunden. Dann weiß ich auch nicht mehr an welchem Ort mein Geisteshaus und Schmelztiegel ist. Will man sich seines Leibes vergewissern, so ist er nicht zu erreichen. Dieser Zustand ist das Eindringen des Himmels in die Erde, die Zeit,[109] da alle Wunder zu ihrer Wurzel kehren. Das ist es, wenn der kristallisierte Geist in den Raum der Kraft eingeht.

Das eine ist der Kreislauf des Lichts. Wenn man beginnt, so ist es zunächst noch zerstreut und man will es sammeln; die sechs Sinne sind nicht tätig. Das ist die Pflege und Ernährung des eigenen Ursprungs, das Auffüllen des Öls, wenn man geht, um das Leben zu empfangen. Wenn man dann soweit ist, es gesammelt zu haben, so fühlt man sich leicht und frei und braucht sich nicht die geringste Mühe mehr zu geben. Das ist die Beruhigung des Geistes im Ahnenraum, das Ergreifen des früheren Himmels.

Wenn man dann soweit ist, daß jeder Schatten und jedes Echo erloschen ist, daß man ganz still und fest ist, das ist die Geborgenheit in der Höhle der Kraft, da alles Wunderbare zur Wurzel zurückkehrt. Man ändert nicht den Ort, aber der Ort teilt sich. Das ist der unkörperliche Raum, da sind tausend Orte und zehntausend Orte ein Ort. Man ändert nicht die Zeit, aber die Zeit teilt sich. Das ist die unmeßbare Zeit, da sind alle Äonen wie ein Augenblick.

Solange das Herz nicht die höchste Ruhe erreicht hat, kann es sich nicht bewegen. Man bewegt die Bewegung und vergißt die Bewegung; das ist nicht die Bewegung an sich. Darum heißt es: Wenn man von den Außendingen gereizt sich bewegt, das ist der Trieb des Wesens. Wenn man nicht von den Außendingen gereizt sich bewegt, das ist die Bewegung des Himmels. Das Wesen, das dem Himmel gegenüber gestellt wird, kann fallen und gerät unter die Herrschaft der Triebe. Die Triebe beruhen darauf, daß es Außendinge gibt. Das sind Gedanken, die über die eigene Stellung hinausgehen. Dann führt Bewegung zur Bewegung. Wenn aber keine Vorstellung sich erhebt, so entstehen die richtigen Vorstellungen. Das ist die wahre Idee. Wenn in der Ruhe, wenn man ganz fest ist, die Auslösung des Himmels sich plötzlich bewegt, ist das nicht eine Bewegung ohne Absicht? Das Handeln im Nichthandeln hat eben diese Bedeutung.

Was das Gedicht zu Anfang anlangt, so beziehen sich die beiden ersten Verse gänzlich auf die Tätigkeit der Goldblume. Die beiden nächsten Verse beschäftigen sich mit dem gegenseitigen Ineinanderübergehen von Sonne und Mond. Der sechste Monat ist das Haften (Li), das Feuer. Der weiße Schnee, der fliegt, ist das wahre Polardunkle inmitten des Zeichens Feuer, das im Begriff ist, in das Empfangende[110] umzuschlagen. Die dritte Wache ist das Abgründige (Kan), das Wasser. Die Sonnenscheibe ist der eine polare Strich im Zeichen Wasser, das im Begriff ist in das Schöpferische umzuschlagen. Darin ist enthalten, wie man das Zeichen des Abgründigen nimmt und das Zeichen des Haftens umkehrt.

Die folgenden zwei Zeilen beschäftigen sich mit der Betätigung der Deichsel des großen Wagens, das Aufsteigen und Absteigen der ganzen Polarauslösung. Das Wasser ist das Zeichen des Abgründigen, das Auge ist der Wind des Sanften (Sun). Das Augenlicht leuchtet in das Haus des Abgründigen und regiert dort den Samen des großen Lichten. »Am Himmel«: das ist das Haus des Schöpferischen (Kiën). »Wandelnd ißt man die Geisteskraft des Empfangenden.« Das bedeutet wie der Geist in die Kraft eindringt; wie der Himmel in die Erde eindringt, das geschieht um das Feuer zu nähren.

Die beiden letzten Zeilen endlich deuten auf das tiefste Geheimnis, das man von Anfang bis Ende nicht entbehren kann. Das ist das Waschen des Herzens und die Reinigung der Gedanken; das ist das Bad. Die heilige Wissenschaft nimmt die Kenntnis des Haltmachens als Anfang und das Haltmachen beim höchsten Guten als Schluß. Ihr Anfang ist jenseits des Polaren und sie mündet wieder jenseits des Polaren.

Buddha spricht vom Vergänglichen als Erzeuger des Bewußtseins als dem Grundsatz der Religion. Und in unserem Taoismus liegt in dem Ausdruck »Leere bewirken« die ganze Arbeit, um Wesen und Leben zu vollenden, beschlossen. Alle drei Religionen stimmen überein in dem einen Satz, das geistige Elixier zu finden, um aus dem Tod ins Leben einzugehen. Worin besteht dieses geistige Elixier? Es heißt: Immer im Absichtslosen verweilen. Das tiefste Geheimnis des Bades, das es in unsrer Lehre gibt, ist so auf die Arbeit beschränkt, das Herz leer zu machen. Damit erledigt man es. Was ich hier mit einem Wort verraten habe, ist die Frucht einer jahrzehntelangen Anstrengung.

Wenn ihr noch nicht klar seid darüber, inwiefern in einem Abschnitt alle drei Abschnitte gegenwärtig sein können, so will ich es euch durch die dreifache buddhistische Kontemplation über Leere, Wahn, Zentrum deutlich machen.

Unter den drei Kontemplationen kommt als erste die Leere. Man schaut alle Dinge als leer an. Dann folgt der Wahn. Obwohl man weiß,[111] daß sie leer sind, zerstört man die Dinge nicht, sondern macht inmitten der Leere seine Geschäfte fort. Aber indem man die Dinge nicht zerstört, achtet man doch nicht auf die Dinge: das ist die Kontemplation des Zentrums. Während man die Kontemplation der Leere pflegt, weiß man auch, daß man die zehntausend Dinge nicht zerstören kann und beachtet sie dennoch nicht. Auf diese Weise fallen die drei Kontemplationen zusammen. Aber schließlich beruht die Stärke in der Anschauung des Leeren. Darum, wenn man die Kontemplation des Leeren pflegt, so ist das Leere sicher leer, aber auch der Wahn ist leer, und das Zentrale ist leer. Wenn man die Kontemplation des Wahns pflegt, so bedarf es dazu einer großen Stärke; dann ist der Wahn wirklich Wahn, aber auch das Leere ist Wahn, und das Zentrum ist auch Wahn. Bei dem Weg des Zentrums erzeugt man auch Bilder des Leeren, aber man nennt sie nicht leer, sondern nennt sie zentral. Man pflegt auch Kontemplationen des Wahns, aber man nennt sie nicht Wahn, sondern nennt sie zentral. Was nun das Zentrum anlangt, so braucht man darüber nicht weiter zu reden.


Dieser Abschnitt erwähnt zunächst den Zauberspruch Yü Tsings für die Reise ins Weite. Dieser Zauberspruch besagt, daß das geheimnisvolle Wunder des Sinnes darin besteht, wie aus dem Nichts das Etwas entsteht. Indem der Geist und die Kraft sich kristallisiert vereinigen, bildet sich mit der Zeit inmitten der Leere des Nichts ein Punkt des wahren Feuers. In dieser Zeit wird, je ruhiger der Geist ist, das Feuer desto heller. Helligkeit des Feuers wird verglichen mit der Sonnenhitze des sechsten Monats. Indem das lodernde Feuer das Wasser des Abgründigen verdampft, so wird der Wasserdampf erhitzt, und wenn er den Siedegrad überschritten, so steigt er in die Höhe wie fliegender Schnee; das ist damit gemeint, daß man im sechsten Monat Schnee fliegen sehe. Aber weil das Wasser vom Feuer verdampft wird, so regt sich die wahre Kraft; doch wenn das Dunkle ruhig ist, bewegt sich das Helle; das gleicht dem Zustand der Mitternacht. Darum nennen die Adepten diese Zeit die Zeit der lebendigen Mitternacht. Zu dieser Zeit wirkt man mit der Absicht auf die Kraft, daß sie rückläufig emporsteigt und rechtläufig herabsteigt, wie das Sonnenrad sich emporwälzt. Darum heißt es: »Zur dritten Wache sieht man die Sonnenscheibe blendend strahlen.« Die Methode der Umdrehung bedient sich des Atems, um das Feuer der Lebenspforte anzublasen; dadurch gelingt es, daß die wahre Kraft an ihren ursprünglichen Ort kommt. Darum heißt es, daß der Wind im Wasser blase. Aus der einen[112] Kraft des früheren Himmels entwickelt sich der aus- und eingehende Atem des späteren Himmels und seine anfachende Kraft.

Der Weg führt vom Kreuzbein nach oben in rückläufiger Weise bis zum Gipfel des Schöpferischen und durch das Haus des Schöpferischen hindurch; dann geht er abwärts durch die beiden Stockwerke in rechtläufiger Weise in das Sonnengeflecht und erwärmt es. Darum heißt es: »Am Himmel wandelnd ißt man die Geisteskraft des Empfangenden.« Indem die wahre Kraft zurückkehrt in den leeren Ort, wird mit der Zeit Kraft und Gestalt reich und voll, Leib und Herz werden froh und heiter. Wenn man nicht durch die Arbeit des Drehens des Rades der Lehre das erreicht, wie sollte es sonst gelingen, diese Reise ins Weite antreten zu können? Worauf es ankommt das ist, daß der kristallisierte Geist auf das Geistesfeuer zurückstrahlt und durch äußerste Ruhe das inmitten der leeren Höhle befindliche »Feuer inmitten des Wassers« anfacht. Darum heißt es: »Und des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis: Das Land, das nirgends ist, das ist die wahre Heimat.« Der Lernende ist in seiner Arbeit nun schon in die geheimnisvollen Gebiete vorgedrungen; aber wenn er die Methode des Schmelzens nicht kennt, so ist zu fürchten, daß das Lebenselixier schwerlich zustande kommt. Darum hat der Meister das von früheren Heiligen streng gewahrte Geheimnis verraten. Wenn der Lernende den kristallisierten Geist inmitten der Höhle der Kraft haften läßt und dabei die äußerste Ruhe walten läßt, so entsteht in der dunklen Finsternis aus dem Nichts ein Etwas, d.h. die Goldblume des Großen Einen erscheint. Zu dieser Zeit unterscheidet sich das bewußte Licht vom Wesenslicht. Darum heißt es: »Von Außendingen gereizt sich bewegen, führt dazu, daß es rechtläufig nach außen geht und einen Menschen erzeugt: das ist das bewußte Licht.« Wenn der Lernende zur Zeit, da die wahre Kraft sich reichlich gesammelt hat, sie nicht rechtläufig nach außen läßt, sondern rückläufig werden läßt, das ist das Lebenslicht; man muß die Methode des Drehens des Wasserrads anwenden. Wenn man dauernd dreht, so wendet sich die wahre Kraft Tropfen um Tropfen der Wurzel zu. Dann hält das Wasserrad an, der Leib ist rein, die Kraft ist frisch. Eine einmalige Drehung heißt ein Himmelsumlauf, das was Meister Kiu einen kleinen Himmelsumlauf nennt. Wenn man nicht wartet bis die Kraft sich genügend gesammelt hat und sie benützt, so ist sie zu dieser Zeit noch zu zart und schwach und das Elixier bildet sich nicht. Wenn die Kraft da ist und man benützt sie nicht, so wird sie zu alt und starr und das Lebenselixier kommt auch schwerlich zustande. Wenn sie weder zu alt noch zu zart ist, dann die Absicht darauf richtend sie benützen, das ist die rechte Zeit. Das ist, was Buddha meint, wenn er sagt: »Die Erscheinung mündet ins Leere ein.« Das ist das Sublimieren des Samens zur Kraft. Wenn der Lernende dieses Prinzip nicht versteht und sie rechtläufig[113] hinausläßt, dann verwandelt sich die Kraft in Samen; das ist es, wenn es heißt: »Das Leere mündet in die Erscheinung ein.« Aber jeder Mann, der sich leiblich mit einem Weib vereinigt, der fühlt erst Lust und dann Bitterkeit; wenn der Same ausgeflossen ist, so ist der Leib müde und der Geist abgespannt. Ganz anders, wenn der Adept Geist und Kraft sich vereinigen läßt. Das gibt erst Reinheit und dann Frische; wenn der Same umgewandelt ist, so ist der Leib wohl und frei. Die Welt hat überliefert, daß der alte Meister Pong 880 Jahre alt geworden sei, indem er dienende Mädchen benützt habe, um sein Leben zu nähren; doch ist das ein Mißverständnis. In Wirklichkeit hat er die Methode der Sublimation von Geist und Kraft gebraucht. In den Lebenselixieren werden nun meist Symbole gebraucht, und da wird das Feuer des Haftenden häufig mit der Braut verglichen und das Wasser des Abgründigen mit dem Knaben (Puer aeternus); daher entstand das Mißverständnis, daß der Meister Pong seine Männlichkeit durch Weibliches ersetzt habe. Das sind später eingedrungene Irrtümer.

Aber die Adepten können das Mittel, das Abgründige und das Haftende umzustürzen, nur gebrauchen, wenn sie wahrhaft mit ihren Absichten bei der Sache sind, sonst läßt sich die Mischung nicht rein bewirken. Die wahre Absicht untersteht der Erde, die Farbe der Erde ist gelb; darum wird sie in den Lebenselixierbüchern mit dem gelben Keim symbolisiert. Indem das Abgründige und das Haftende sich verbinden, erscheint die Goldblume, die Goldfarbe ist weiß; darum wird der weiße Schnee als Symbol gebraucht. Aber die Weltleute, die die geheimen Worte der Lebenselixierbücher nicht verstehen, haben gelb und weiß dahin mißverstanden, daß sie das für ein Mittel, um aus Steinen Gold zu machen, hielten. Ist das nicht töricht?

Ein alter Adept sprach: »Früher kannte jede Schule dieses Kleinod, nur Toren wußten es nicht ganz.« Wenn man das überlegt, so erkennt man, daß die Alten in Wirklichkeit mit Hilfe der in ihrem eigenen Körper vorhandenen Samenkraft langes Leben erlangten, nicht durch Verschlucken irgendwelcher Elixiere ihre Jahre verlängerten. Aber die Weltleute verloren die Wurzel und hielten sich an den Wipfel. Das Buch vom Elixier sagt auch: »Wenn ein rechter Mann (weißer Magier) sich verkehrter Mittel bedient, so wirken die verkehrten Mittel recht.« – Damit ist die Umwandlung der Samen in Kraft gemeint. – »Wenn aber ein verkehrter Mann die rechten Mittel gebraucht, so wirkt das rechte Mittel verkehrt« – damit ist die leibliche Vereinigung von Mann und Weib gemeint, aus der Söhne und Töchter entspringen. Der Tor verschwendet das höchste Kleinod seines Leibes in unbeherrschter Lust und versteht es nicht, seine Samenkraft zu wahren. Wenn sie dann zu Ende ist, so geht der Leib zugrunde. Die Heiligen und Weisen haben keine andre Art ihr Leben zu pflegen, als die Lüste zu vernichten,[114] und den Samen zu wahren. Der angesammelte Samen wird in Kraft verwandelt und die Kraft, wenn sie reichlich genug ist, schafft den schöpferisch starken Leib. Der Unterschied der gewöhnlichen Menschen beruht nur auf der Anwendung des rechtläufigen oder rückläufigen Weges.

Der ganze Sinn dieses Abschnitts ist darauf gerichtet, dem Lernenden die Methode des Auffüllens des Öls beim Begegnen des Lebens klar zu machen. Die Hauptsache dabei sind die beiden Augen. Die beiden Augen sind die Handhabe des Polargestirns. Wie der Himmel sich um das Polargestirn als Mitte dreht, so muß beim Menschen die rechte Absicht der Herr sein. Darum beruht die Vollendung des Lebenselixiers ganz auf der Harmonisierung der rechten Absicht. Wenn dann davon die Rede ist, daß in hundert Tagen das Fundament sich gründen lasse, so muß man dabei vor allem den Fleißgrad der Arbeit und den Stärkegrad der körperlichen Konstitution in Betracht ziehen. Wer eifrig bei der Arbeit ist und eine starke Konstitution hat, dem gelingt es rascher, das Wasserrad des hinteren Flusses zu drehen. Wer dann die Methode gefunden hat, Gedanken und Kraft harmonisch aufeinander abzustimmen, der kann schon innerhalb der hundert Tage das Elixier vollenden. Wer schwach und träge ist, bringt es aber auch nach den hundert Tagen noch nicht zustande. Wenn das Elixier vollendet ist, so ist Geist und Kraft rein und klar, das Herz ist leer, das Wesen offenbar, und das Bewußtseinslicht verwandelt sich in das Wesenslicht. Wenn man das Wesenslicht dauernd festhält, so kommen das Abgründige und das Haftende von selbst in Verkehr. Wenn das Abgründige und das Haftende sich mischen, so wird die heilige Frucht getragen. Die Ausreifung der heiligen Frucht ist die Wirkung eines großen Himmelsumlaufs. Die weiteren Ausführungen machen bei der Methode des Himmelsumlaufs halt.

Dieses Buch beschäftigt sich mit den Mitteln zur Pflege des Lebens und zeigt zunächst, wie man durch Blicken auf den Nasenrücken Hand anlegt; hier ist nun die Methode der Umwendung gezeigt; die Methoden zur Festigung und des Loslassens stehen in einem andern Werk, dem Sü Ming Fang (Methode das Leben fortzusetzen).

Quelle:
Das Geheimnis der goldenen Blüte. Olten/Freiburg i. Br. 1971, S. 106-115.
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