1. Die Substanz

[93] Unter dem Seienden versteht man, wie wir vorher in unseren Auseinandersetzungen über Vielheit der Bedeutungen dargelegt haben, vielerlei. Das Seiende bedeutet nämlich das eine Mal die selbständige Existenz und das bestimmte Einzeldasein, das andere Mal die Qualität oder die Quantität oder eine andere der dahin gehörigen Bestimmungen. Unter diesen vielen Bedeutungen des Seinsbegriffes ist offenbar die erste und grundlegende die des Was, d.h. des substantiellen Wesens. Denn wenn wir aussagen wollen, welche Qualität das bestimmte Einzelwesen habe, so nennen wir es etwa gut oder schlecht, aber wir bezeichnen es nicht als drei Fuß hoch und auch nicht als einen Menschen; wollen wir dagegen das substantielle Wesen angeben, so bezeichnen wir es nicht als weiß oder als warm oder als drei Fuß hoch, sondern etwa als einen Menschen oder einen Gott. Was sonst als Sein bezeichnet wird, das bedeutet dann, daß es an dem in diesem Sinne Seienden als Quantität, als Qualität, als Affektion oder sonst etwas dergleichen vorkommt.

Darum könnte jemand sich wohl Bedenken darüber machen, ob gehen, gesund sein, sitzen als Aussage über einen Gegenstand ein Sein oder ein Nichtsein bedeutet, und ebenso bei jeder anderen ähnlichen Bestimmung. Denn keine einzige dieser Bestimmungen bedeutet ihrer Natur nach ein an sich Seiendes, noch läßt sie sich als etwas von dem substantiellen Wesen abtrennbares Selbständiges aussagen. Vielmehr bedeutet die Aussage jedesmal, daß, wenn irgend etwas, dann jedenfalls dasjenige welches geht, welches sitzt, welches gesund ist, zu den seienden Gegenständen gehöre; diesen letzteren scheint das Sein in eigentlichem Sinne zuzukommen, weil in ihnen ein Substrat von bestimmter Art gegeben ist. Dies aber ist das substantielle Wesen und zwar als Einzelwesen, das in einer derartigen Aussage mitgedacht wird. Denn gut oder sitzend sagt man nicht, ohne dieses Substrat mit zu bezeichnen, und so hat denn offenbar jede dieser Bestimmungen ein Sein nur[93] vermittelst jenes Substrates. Dieses ursprünglich Seiende, das nicht als Bestimmung an einem anderen, sondern schlechthin ist, dies ist das substantielle Wesen.

Nun wird ja freilich das Erste und Ursprüngliche selber in verschiedener Bedeutung ausgesagt; indessen, das substantielle Wesen ist in jedem Sinne ein Erstes und Ursprüngliches: dem Begriffe nach, der Erkenntnis nach und der Zeit nach. Von dem Anderen, was ausgesagt wird, ist keines als für sich selbst bestehend aussagbar; beim substantiellen Wesen allein und ausschließlich gilt solche Aussage. Sie gilt erstens dem Begriffe nach; denn notwendigerweise muß in jedem einzelnen Begriffe der des substantiellen Wesens mit enthalten sein. Wir meinen zweitens jegliches dann am besten zu erkennen, wenn wir wissen, was es ist, ein Mensch, oder Feuer, viel mehr, als wenn wir nur die Qualität oder die Quantität oder die Ortsbestimmung kennen; denn auch eine jegliche von diesen Bestimmungen erkennen wir erst dann, wenn wir wissen, was das ist, dem die quantitative oder qualitative Bestimmung zukommt. Und drittens, was man von je gesucht hat, was man jetzt sucht und immer suchen wird, das drückt sich in der Frage aus: was ist das Seiende? d.h. was ist das substantielle Wesen? Von diesem sagen die einen, es sei eines, die anderen, es sei eine Vielheit; von den letzteren bezeichnen es die einen als von begrenzter, die anderen als von unbegrenzter Zahl. Und so wird auch unsere Betrachtung sich am meisten, am ursprünglichsten und eigentlich ganz ausschließlich auf eben dieses zu richten haben, auf das in diesem Sinne Seiende, und auf die Frage, was es ist.

Die Bestimmung als substantielles Wesen kommt nach der gewöhnlichen Vorstellung am augenscheinlichsten dem Körperlichen zu. Man sagt deshalb, Tiere, Pflanzen und Glieder seien Substanzen und ebenso die körperlichen Elemente in der Natur, wie Feuer, Wasser, Erde und jegliches derartige, sowie alles was Teil dieser Dinge oder aus ihnen zusammengesetzt ist, aus einigen von ihnen oder aus allen zusammen, wie der Himmel und seine Teile, Sonne, Mond und Sterne. Ob diese nun die einzigen Substanzen sind oder ob es außerdem noch andere gibt, oder ob keines von diesen, dagegen manches andere Substanz ist, das ist die Frage.

Manche halten dafür, das was die Körper begrenzt, wie Fläche, Linie, Punkt, Einheit, das seien Substanzen, und sie seien es in eigentlicherem Sinne als die körperlichen und ausgedehnten Dinge. Manche wieder meinen, es gebe nichts Substantielles außer dem sinnlich Wahrnehmbaren; andere dagegen, es gebe noch weitere Arten von Seiendem, Seiendes in höherem[94] Sinne, das ewig sei. So bezeichnet Plato die Ideen und die mathematischen Objekte als zwei Arten von Substanzen und erst als eine dritte Art die sinnlich wahrnehmbaren körperlichen Dinge. Auch Speusippos kennt mehrere Arten von Substanzen; er geht von der Einheit aus und weist einer jeden Art von Substanzen ihr besonderes Prinzip zu, ein Prinzip für die Zahlen, ein anderes für die ausgedehnten Größen, sodann eines für die Seele; auf diese Weise erweitert er den Begriff der Substanz. Manche wieder lehren, die Ideen und die Zahlen hätten die gleiche Natur, und daran schließe sich das übrige, Linien und Flächen, bis zu der Substanz des Himmels und zu den sinnlichen Dingen. Da gilt es nun zu untersuchen, welche dieser Ansichten zutreffend ist, welche nicht. Die Frage ist: was ist Substanz? gibt es Substanzen außer den sinnlich wahrnehmbaren Dingen oder nicht? wie verhalten sich diese Substanzen? gibt es eine für sich abgetrennt bestehende Substanz? und aus welchem Grunde, in welchem Sinne? oder gibt es keine selbständige Existenz außer den sinnlich wahrnehmbaren Dingen? Dazu aber muß zuvörderst in einigen Grundzügen dargelegt werden, was den Begriff der Substanz ausmacht.

Das Wort Substanz wird, wenn nicht in noch mehr, so doch jedenfalls in vier verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Als das, was die Substanz eines jeglichen Objekts ausmacht, gilt das begriffliche Wesen, das Allgemeine und die Gattung; dazu kommt als vierte Bedeutung die des Substrats hinzu. Substrat aber ist das, wovon das andere ausgesagt wird, während es selbst nicht wieder von einem anderen ausgesagt wird. Wir müssen deshalb über dieses Letztere zunächst zu festen Bestimmungen zu gelangen suchen. Denn am geläufigsten schwebt den Menschen als das Ursprüngliche mit der Bedeutung der Substanz das Substrat vor.

Als solches Substrat bezeichnet man in dem einen Sinne die Materie, in anderem Sinne die Form, und drittens wieder das, wozu sich diese beiden vereinigen. Was ich mit der Materie meine ist etwa das Erz; die Form ist dann der Umriß, die Gestalt; und die Bildsäule als ein Ganzes ist das, wozu beide sich vereinigen. Falls also die Form der Materie gegenüber das ursprünglicher und eigentlicher Seiende ist, so wird sie aus demselben Grunde auch ursprünglicher sein als das, wozu sich beide verbinden.

Wir haben damit angedeutet, was Substanz ist, nämlich das, was nicht an einem Substrat haftet, sondern woran anderes haftet. Indessen damit kann man sich doch keineswegs begnügen; die Bestimmung erschöpft die Sache nicht. Abgesehen von der Unbestimmtheit darin, würde damit auch[95] die Materie zur Substanz erhoben. Denn ist sie nicht Substanz, so läßt sich nicht sagen, was sonst Substanz sein soll. Wird das andere ausgeschlossen, so sieht man nicht, was dann noch übrig bleibt. Dieses andere sind die Zustände, die Tätigkeiten und Vermögen der Körper; ebenso sind Länge, Breite, Tiefe quantitative Bestimmungen an ihnen; dies alles aber sind keine Substanzen. Das Quantitative ist keine Substanz; sondern das Ursprüngliche, an dem es als Bestimmung ist, das ist die Substanz. Nehmen wir aber Länge, Breite, Tiefe hinweg, so sehen wir nichts was übrig bliebe, es sei denn das, was durch jene begrenzt wird, wenn es dergleichen gibt. Und so ergibt sich, daß bei solcher Betrachtungsweise notwendig die Materie als alleinige Substanz erscheinen muß.

Wenn ich aber von Materie rede, meine ich das, was weder an sich ein Bestimmtes, noch mit einer Quantität oder mit sonst einem derjenigen Prädikate ausgestattet ist, die dem Seienden seine Bestimmtheit verleihen. Denn es existiert etwas, wovon jede dieser Bestimmungen ausgesagt wird, aber dessen Sein von dem Sein jeder dieser Aussageformen verschieden ist. Das übrige wird von der Substanz, diese wird von der Materie ausgesagt; mithin wäre das letzte an sich Seiende weder etwas Bestimmtes noch mit bestimmter Quantität noch mit sonst irgend einer Bestimmtheit und ebensowenig mit der Negation dieser Bestimmungen ausgestattet; denn auch diese ist dem Substrat gegenüber nur etwas an ihm Vorkommendes.

Betrachtet man die Sache unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt sich der Satz, daß die Materie Substanz ist. Das aber ist unmöglich. Denn bei dem Worte Substanz denkt man vor allem an ein für sich selbständiges Sein und an bestimmte Einzelexistenz. Es liegt deshalb viel näher anzunehmen, daß die Form und daß das, wozu beides, Form und Materie, sich vereinigen, in höherem Sinne Substanz sei als die Materie.

Von der Substanz nun im Sinne dessen, was beides in sich vereinigt, also von dem was aus Materie und Form besteht, dürfen wir hier absehen. Dies ist das Abgeleitete und Allbekannte. Leicht verständlich ist andererseits in gewissem Maße auch der Begriff der Materie. Dagegen den dritten Begriff müssen wir untersuchen; denn dieser bietet die größten Schwierigkeiten.

Daß es Substanzen von sinnlich wahrnehmbarer Art gibt, darüber herrscht allgemeine Übereinstimmung; unter diesen also müssen wir uns zuerst umsehen. Denn es ist zweckdienlich, von hier auszugeben, um zu dem zu gelangen, was in höherem Grade erkennbar ist. So vollzieht sich ja überall der Fortschritt in der Erkenntnis, daß man von dem was seiner Natur nach[96] weniger erkennbar ist weitergeht zu dem in höherem Grade Erkennbaren. Und wie es in Fragen des praktischen Lebens die Aufgabe ist, von dem, was dem einzelnen als das Gute gilt, auszugeben und so das schlechthin Gute jedem einzelnen als das für ihn Gute ans Herz zu legen, so ist hier die Aufgabe, von dem was jedem das leichter Erkennbare ist auszugehen und so das von Natur Erkennbare zu dem für ihn Erkennbaren zu machen. Freilich, das, was jedem einzelnen das für ihn Erkennbare und Nächstliegende ist, das ist oftmals das was an sich wenig erkennbar ist, was nur geringen oder gar keinen Seinsinhalt hat. Gleichwohl muß man versuchen, von dem was nur dunkel bekannt, für den einzelnen aber das ihm Geläufige ist, auszugehen und so das schlechthin Erkennbare erkennbar zu machen, indem man so, wie wir es bezeichnet haben, von jenem zu diesem fortschreitet.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 93-97.
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