8. Gattung, Falsch, Akzidens

[316] Von Gattung, Stamm, spricht man, wo sich kontinuierlich eine Generation von Wesen, die dieselbe Form haben, an die andere reiht. So sagt man: solange die menschliche Gattung besteht, und meint damit: solange sich eine Generation von Menschen an die andere reiht. Man gebraucht das Wort aber auch da, wo es einen ersten Urheber und eine gemeinsame Abstammung gibt. So spricht man von dem Stamm der Hellenen und dem der Jonier, weil jene den Hellen, diese den Jon zum Stammvater haben. Der Stammvater ist dabei wichtiger als die Materie, die Stammutter; doch wird der Stamm auch wohl von einem Weibe abgeleitet; so spricht man von der Nachkommenschaft der Pyrrha. Man spricht weiter auch von Gattung bei einem Verhältnis wie dem der Ebene zu den ebenen Figuren und des Körpers zu den körperlichen Gestalten. Denn jede ebene Figur ist wieder die Ebene in bestimmter Begrenzung, und jedes körperliche Gebilde ein Körper mit dieser Bestimmtheit. Hier heißt Gattung das Substrat für die Unterschiede der Arten. Bei den Begriffsbestimmungen ferner ist Gattung der erste Bestandteil, der aussagt, was der Gegenstand ist, und die Artunterschiede werden dann durch die besonderen Beschaffenheiten gebildet. Das also sind die verschiedenen Bedeutungen, in denen das Wort Gattung gebraucht wird: die Kontinuität der Erzeugung innerhalb der identischen Form; die Gleichartigkeit der Abstammung von dem gemeinsamen Urheber und dann von der gemeinsamen Stammaterie. Denn das woran der Artunterschied und die qualitative Bestimmung sich findet, ist das Substrat, das wir Materie nennen.

Der Gattung nach verschieden heißt das, dessen ursprüngliches Substrat verschieden ist, wo ferner das eine sich nicht in das andere und beide sich nicht in ein drittes auflösen lassen. So ist Form und Materie der Gattung nach verschieden, und ferner auch das, was unter verschiedene Kategorien des Seienden fällt. Denn das Seiende bedeutet teils das selbständige Wesen, teils die qualitative Bestimmung, teils eine der anderen Bestimmungen, die[316] wir früher aufgezählt haben. Denn diese lassen sich weder auf einander noch auf eine sonstige Einheit zurückführen.

Den Ausdruck falsch, unwahr, gebraucht man das eine Mal in dem Sinne, daß die Sache falsch heißt, und zwar zunächst deshalb, weil zwei Bestimmungen entweder tatsächlich nicht verbunden sind, oder weil sie unmöglich verbunden sein können. So wenn es heißt, daß die Diagonale kommensurabel sei, oder daß du sitzest; hier ist jenes immer, dieses zuzeiten falsch; denn in so verschiedener Weise ist doch beides ein Nicht-Seiendes. Unwahr ist aber auch, was zwar wirklich da ist, was aber die Natur hat, so zu erscheinen, wie es in Wirklichkeit nicht beschaffen, oder als das was es in Wirklichkeit nicht ist, wie perspektivische Bilder oder Träume, die ja an sich wirklich etwas, aber nicht das sind, wovon sie die Vorstellung erregen. Sachen also werden in diesem Sinne unwahr genannt, entweder weil sie selbst nicht sind, oder weil sie die Vorstellung von etwas erzeugen, was nicht wirklich ist.

Eine Aussage aber ist falsch als Aussage über solches, was nicht wirklich ist, sofern sie als diese falsch ist. Darum ist eine Aussage falsch auch dann, wenn sie von einem anderen Gegenstande gemacht wird als von dem, für den sie richtig ist. So wird eine Aussage über den Kreis falsch, wenn sie von dem Dreieck gemacht wird. Die Aussage über einen jeden Gegenstand ist in dem einen Sinne nur eine einzige, indem sie das eigentliche Wesen bezeichnet; sie kann aber auch eine mehrfache sein, da ein und derselbe Gegenstand wohl er selber, aber er selber auch mit einer Bestimmung ist, wie Sokrates und Sokrates mit dem Prädikat gebildet. Die falsche Aussage aber ist von keinem Gegenstande die Aussage ohne weiteres. Aus diesem Grunde meinte Antisthenes töricht genug, man dürfe von keinem Gegenstande etwas anderes aussagen als seinen eigenen Begriff: »von einem nur eines«. Daraus ergab sich denn, daß es unmöglich sei, widersprechende, und beinahe unmöglich, falsche Aussagen zu machen. Aber vielmehr ist es wohl möglich, jedem Gegenstand nicht bloß seinen eigenen Begriff, sondern auch den Begriff von etwas anderem beizulegen, und solche Bezeichnung kann ja sicherlich falsch, sie kann aber auch richtig sein, wie wenn man 8 als ein Doppeltes bestimmt, indem man den Begriff der 2 darauf anwendet.

Das wäre also soweit die Bedeutung von falsch. Nun spricht man aber auch von einem falschen, unwahren Menschen und meint damit einen leichtfertigen Menschen mit einem Hange zu Aussagen von der bezeichneten Art, nicht weil er etwas anderes damit bezweckt, sondern nur um ihrer selbst[317] willen, und der anderen dergleichen vorredet; ebenso wie wir auch die Sachen als unwahr bezeichnen, die unwahre Vorstellungen erzeugen. Darum trifft die Ausführung im Dialog »Hippias« daneben, als sei ein und derselbe wahr und unwahr zugleich. Hier wird der, der die Unwahrheit zu sagen vermag, für einen unwahren Menschen genommen; wer aber die Unwahrheit zu sagen vermag, ist gerade der Wissende und Einsichtige; und obendrein wird derjenige, der mit Willen schlecht ist, als der Höherstehende betrachtet gegenüber dem, der es nicht mit Willen ist. Dieses falsche Ergebnis wird erlangt auf dem Wege der Induktion. Wer mit Willen hinkt, ist besser daran als der, der unfreiwillig hinkt: da heißt es also von einem, er hinke, wenn er nur so tut. Aber vielmehr, wäre einer mit Willen lahm, so würde er doch dem gegenüber, der es Widerwillen ist, der Minderwertige sein, und es ist damit hier gerade so wie da, wo es sich um sittliche Eigenschaften handelt.

Ein Akzidens symbebêkos nennt man eine Bestimmung, die einem Gegenstande zukommt und ihm mit Recht beigelegt wird, indessen nicht notwendig und auch nicht regelmäßig. So wenn einer beim Graben einer Grübe für eine Pflanze einen Schatz findet. Für den, der die Grübe gräbt, ist eben dies, das Finden eines Schatzes, ein akzidentielles Ereignis; denn daß einer beim Pflanzen einen Schatz findet, das ist nicht notwendig, weder als Folge daraus, noch als Folge danach, noch trifft es regelmäßig ein. Ebenso kann einer, der gebildet ist, ganz wohl auch blaß sein; aber da dies nicht notwendig noch regelmäßig zutrifft, so nennen wir es ein Akzidens, einen Zufall. Wenn daher eine Bestimmung vorkommt und an einem gewissen Gegenstande vorkommt, und zuweilen auch wenn sie an diesem Orte oder zu dieser Zeit vorkommt, so ist eine solche Bestimmung, die zwar vorhanden ist, aber nicht aus dem Grunde vorhanden ist, weil dieses Bestimmte war oder jetzt oder hier war, ein Akzidens. Für das Akzidentielle gibt es keine bestimmte, sondern nur eine beliebige Ursache, und diese ist unbestimmbar.. Es geschieht einem in akzidentieller Weise, zufällig, daß er nach Ägina kommt, wenn er nicht aus dem Gründe daselbst angekommen ist, weil er dorthin fahren wollte, sondern etwa weil ihn ein Sturm dorthin verschlagen oder Räuber ihn entführt haben. Solches Akzidentielle ist ja geschehen und ist vorhanden, aber nicht, sofern es selber ist, sondern sofern etwas anderes ist. So war der Sturm die Ursache, daß er nicht dahin gelangte, wohin er auf der Fahrt war; dies aber war Ägina. Man gebraucht dann das Wort akzidentiell auch noch in anderem Sinne und bezeichnet[318]

damit das was einem Gegenstande an und für sich zukommt, ohne doch zu seinem begrifflichen Wesen zu gehören, wie es eine Bestimmung des Dreiecks ist, daß die Winkelsumme zwei Rechte beträgt, und in dieser Bedeutung kann das Akzidentielle auch ein Ewiges sein, nicht in jener Bedeutung. Genaueres hierüber bringen wir an anderem Orte.[319]


Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 316-320.
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