3. Der Willensinhalt

[52] Wir haben dargelegt, daß ein Wollen auf einen Zweck geht. Dieser ist nach den einen ein Gutes, nach den anderen ein solches, was als gut erscheint. Bezeichnet man das Gewollte als das Gute, so kommt man zu dem Ergebnis, daß dasjenige, was einer auf Grund einer unrichtigen Wahl will gar kein wirklich Gewolltes ist; denn wäre es gewollt, so würde es ja auch etwas Gutes sein; es kann aber vorkommen, daß es geradezu etwas Schlechtes ist. Denen dagegen, die das Gewollte als ein anscheinend Gutes bezeichnen, stellt sich die Sache so dar, daß etwas nicht durch seine eigene Natur zum Willensinhalt wird, sondern daß es für jeden jedesmal das ist, was ihm gefällt. Nun gefällt aber dem einen dies, dem andern jenes, und es kann vorkommen, daß dies gerade Entgegengesetztes ist. Wenn nun eine solche Ansicht keineswegs befriedigt, so wird man sich dabei beruhigen dürfen, daß zwar schlechthin und in Wahrheit das Gewollte das Gute, daß es aber für das einzelne Subjekt das ihm als gut Erscheinende ist. Für den sittlich gebildeten Menschen wäre es dann das wahrhaft Gute, für den unedel Gesinnten aber jedes Beliebige, und es wäre damit gerade so wie da, wo es sich um leibliche Dinge handelt. Denn dem der sich in der rechten Verfassung befindet, bekömmt dasjenige, was in Wahrheit gesund ist, dem Kranken dagegen anderes, und mit dem Bitteren, dem Süßen, dem Warmen, dem Schweren wie mit allem anderen steht es ebenso. Der sittlich Gebildete hat über alles ein richtiges Urteil, und im einzelnen Falle ist das, was ihm gut erscheint, das wahrhaft Gute. Denn von der eigentümlichen Beschaffenheit eines jeden hängt es ab, ob gerade ihm dieses Bestimmte wertvoll und erfreulich ist, und vielleicht ist es des sittlich Gebildeten größte Auszeichnung, daß er in allem Einzelnen das herauserkennt, was wahrhaft gut ist, so daß er dafür gleichsam als Richtschnur und Maßstab dienen kann. Als die Quelle der Täuschung aber für die Masse der Menschen darf man das Motiv der Lust ansehen; denn diese erscheint ihnen als das Gute, während sie doch nicht wirklich das Gute ist. Wenigstens entscheiden sich die Menschen für das, was Lust bereitet, als wäre es das Gute, und meiden das, was Unlust bereitet, als wäre es das Schlechte.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 52.
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