1. Die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft

[168] An das bisher Ausgeführte wird sich passend die Betrachtung der menschlichen Gemeinschaften anschließen. Das Band, das die Menschen verbindet ist selber etwas Sittliches oder es erscheint doch im Gefolge der Sittlichkeit, und überdies gehört es zu den schlechthin unentbehrlichen Bedingungen des menschlichen Lebens. Niemand möchte sich, auch wenn er alle übrigen Güter sein nennte, zu leben wünschen ohne die liebevolle Teilnahme anderer. Ja, man darf sagen, daß gerade für diejenigen, die Reichtum, Herrschaft und Macht besitzen, das Bedürfnis solcher liebevollen Beziehungen zu anderen sich am dringlichsten erweist. Denn was hätten sie von ihrem ganzen Glückszustande, wenn sie nicht vermittels desselben die Möglichkeit hätten, anderen Freude zu bereiten? Dies aber ist solchen gegenüber, zu denen man in freundschaftlichen Beziehungen steht, am meisten am Platze und am verdienstlichsten. Oder wie ließe sich das Glück bewahren und aufrecht erhalten ohne die wohlwollende Gesinnung anderer? Ist es doch, je größer es ist, auch desto mehr gefährdet. In Armut und sonstigem Mißgeschick aber hält man sich an die Freunde als an die einzige Zuflucht. Jungen Leuten erwächst aus der Freundschaft Bewahrung vor Verfehlungen, älteren Leuten Hilfe und Pflege und Ersatz für das, was sie aus Mangel an Kräften selbst nicht mehr zu leisten vermögen, den auf des Lebens Höhe Stehenden Förderung bei jedem edlen Vornehmen. »Zwei auf dem Marsche vereint«, [heißt's bei Homer]; dadurch wird das Vermögen zu Rat und Tat gesteigert.

Sympathische Zuneigung findet man als natürliche Empfindung bei dem Erzeuger dem Erzeugten, wie bei dem Erzeugten dem Erzeuger gegenüber, und das nicht bloß bei Menschen, sondern auch bei Tieren, wie bei den Vögeln und der Mehrzahl der Säugetiere; man begegnet ihr bei Wesen, die gleicher Abstammung sind, und so am meisten bei den Menschen. Darum gilt es als ein Lob, für die Menschen Sympathie zu hegen. Wo einer in der[168] Fremde weilt, da kann man recht erkennen, wie jeder schon als Mensch dem Menschen nahe steht und ihm empfohlen ist. Das Band welches die Sympathie stiftet, hält augenscheinlich auch die staatliche Gemeinschaft im Gange, und die Gesetzgeber legen auf dasselbe größeren Wert als selbst auf die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht, die zu erhalten ihr dringendstes Anliegen ist, steht zu den Gefühlen der Sympathie in enger Verwandtschaft, und die Zwietracht, die auf Gefühlen der Abneigung beruht, suchen sie so weit wie möglich fern zu halten. Wo das Gefühl des Wohlwollens herrscht, da braucht man nicht die Gerechtigkeit anzurufen; dagegen wo der Sinn für das Recht vorhanden ist, da bedarf es immer noch der wohlwollenden Gesinnung, und die Gerechtigkeit im höchsten Sinne erscheint geradezu als Frucht wohlwollender Triebe. Aber nicht bloß als unentbehrliche Bedingung hat solches Wohlwollen seine Bedeutung; es ist auch sittlich wertvoll. Wir schätzen diejenigen hoch, die Liebe mit Liebe erwidern, und vielen wohlwollend gesinnt zu sein, gilt als eine der edlen Eigenschaften des Menschen. Überdies herrscht die Überzeugung, daß eben dieselben, die sonst brave Männer sind, auch einander befreundet sind.

Es ist nun die Zahl von Fragen nicht gering, die den hier berührten Gegenstand betreffen und zu einer Verschiedenheit der Ansichten Anlaß geben. Die einen führen das Gefühl der Zuneigung auf Gleichheit des Wesens zurück und meinen, Freunde seien solche, die einander von Wesen gleichen; daher das Wort: »Gleich zu gleich«, oder »Eine Krähe zur anderen Krähe«, und was dergleichen mehr ist. Andere sagen im Gegenteil, die Menschen verhielten sich sämtlich so zueinander, wie ein Kunstgewerbler zum andern, und suchen die Erklärung dafür in allgemeineren Beziehungen, auch in Erscheinungen der äußeren Natur. So sagt Euripides: »Es liebt das Land den Regen«, das ausgedörrte nämlich, und »Es liebt der hehre Himmel, wenn er regenschwer, zur Erde sich zu senken« und Heraklit spricht vom »Widerstrebenden, das zusammenhält«; er meint, aus der Verschiedenheit ergebe sich die schönste Harmonie, und alles erzeuge sich auf dem Wege des Streites. In den Gegensatz zu diesen stellt sich mit anderen auch Empedokles, nach dem das Gleiche dem Gleichen zustrebt. Wir nun wollen diese aus der Natur entnommenen Gleichnisse für die zu lösenden Fragen lieber beiseite lassen; / sie sind für das Gebiet unserer gegenwärtigen Untersuchung doch zu wenig bezeichnend; / und richten unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf das, was den Menschen angeht, was seinen Charakter und seine Gefühlsweise betrifft. Dahin gehört die Frage, ob Gefühle der Sympathie unter[169] allen bestehen können, oder ob es nicht vielmehr bei schlechten Menschen unmöglich ist, daß sie für einander Zuneigung empfinden; ferner die Frage, ob es nur eine Art von freundschaftlicher Verbindung gibt oder mehrere. Diejenigen, welche nur eine Art annehmen, aus dem Grunde, weil sie ja ein Mehr oder Minder zulasse, stützen ihre Ansicht auf ein Kennzeichen, das man keineswegs als triftig anzuerkennen braucht. Denn ein Mehr oder Minder kommt auch da vor, wo sicher eine Verschiedenheit von Arten vorhanden ist. Wir haben darüber an anderer Stelle gehandelt.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 168-170.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik: Griechisch - Deutsch
Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik (Vollständige Ausgabe)
Die Nikomachische Ethik