2. Das Leben nach reiner Vernunft

[227] Nach diesen Ausführungen über die sittlichen Tätigkeiten, über die Gemeinschaftsformen und über die Arten der Lust bleibt uns noch die Aufgabe, in aller Kürze von der Eudämonie zu handeln, da wir diese doch als den letzten Endzweck für alles Menschliche betrachten. Unsere Erörterung des Gegenstandes wird sich kürzer fassen können, wenn wir an das früher von uns Ausgeführte erinnern.

Wir haben ausgemacht, daß die Eudämonie keine ruhende Beschaffenheit ist; sonst könnte sie auch dem beigelegt werden, der sein Leben verschläft oder der ein Pflanzenleben führt, und ebenso dem der die schwersten Unglücksfälle erleidet. Wenn nun dem kein Mensch zustimmen wird; wenn im Gegenteil die Eudämonie, wie oben dargelegt worden ist, eher in eine Art der Betätigung zu setzen ist; und wenn nun von den Arten der[227] Betätigung die einen notgedrungen und um durch sie anderes zu erreichen betrieben werden, die anderen aber an und für sich den Gegenstand des Wollens bilden: so muß man die Eudämonie offenbar zu der Klasse derjenigen Betätigungen zählen, die an und für sich, und nicht zu denen, die um anderes zu erreichen gewollt werden. Denn die Eudämonie bedarf nichts, sie genügt sich selbst.

An und für sich aber gewollt werden diejenigen Betätigungen, bei denen nichts weiter begehrt wird als die Tätigkeit selbst. Dahin nun zählen die Menschen erstens die der sittlichen Anforderung entsprechenden Handlungsweisen; denn das Edle und Würdige zu tun gehört zu dem, was an und für sich gewollt werden soll. Aber sie zählen dahin zweitens auch von den Arten des Spieles diejenigen, die Vergnügen bereiten; denn auch diese werden nicht betrieben, um durch sie anderes zu erreichen. Bringen sie doch eher eine Schädigung als einen Gewinn mit sich, weil man ihnen zuliebe wohl auch die Sorge für Leib und Vermögen verabsäumt. Gleichwohl greifen die vom Glück Begünstigten meistenteils zu diesen Arten des Zeitvertreibs, und die in solchen Künsten der Erholung besonders Gewandten machen deshalb bei den Mächtigen der Erde ihr Glück, weil sie sich gerade in dem angenehm zu machen wissen, woran diese ihr Vergnügen finden; solche Leute sind es eben, die sie brauchen können.

Nun meint man wohl, diese Dinge müßten doch Bestandteile der Glückseligkeit bilden, weil die Mächtigen und Großen darin ihr Vergnügen finden. Indes diese Art von Menschen kann man kaum als Beweismittel gelten lassen. Tugend und Vernunft, die Quellen edler Betätigung, haben nichts mit Macht und Herrschaft zu schaffen, und wenn jene Menschen in ihrer Unfähigkeit zum Genüsse reiner und eines gebildeten Geistes würdiger Freuden zu sinnlichen Genüssen greifen, so darf man sich deshalb nicht der Meinung hingeben, diese verdienten wirklich den Vorzug. Meinen doch auch die Kinder, daß dasjenige was unter ihnen den Vorrang verleiht, das Herrlichste sei. Und so liegt die Vermutung nahe, daß wie den Kindern anderes für preiswürdig gilt als den Erwachsenen, das gleiche der Fall sein wird mit Niedriggesinnten und Edelgesinnten. Wie wir nun vielfach dargelegt haben: dasjenige ist rühmlich und erfreulich, was den Würdigen als rühmlich und erfreulich gilt. Für jeden aber bildet diejenige Betätigung den bevorzugtesten Willensinhalt, die seiner eigentümlichen Beschaffenheit entspricht, und also für den Edelgesinnten die der sittlichen Gesinnung angemessene Betätigung.[228]

Also ist die Eudämonie nicht im Spiele zu suchen. Es wäre auch wider alle Vernunft, daß das Spiel der letzte Zweck sein sollte, und daß man die Mühen und Schmerzen eines ganzen Lebens um des bloßen Spieles willen tragen sollte. Denn alles, darf man sagen, ergreifen wir, um ein anderes dadurch zu erreichen, nur die Eudämonie nicht; sie ist selbst der Zweck. Daß man sich aber mühen und quälen sollte nur um des Spielens willen, das wäre doch offenbar eine gar zu törichte und kindische Vorstellung. Das Spiel dagegen, sofern es dazu dient die ernste Anstrengung zu fördern, so wie es Anacharsis auffaßte, das darf für das Richtige gelten. Denn Spielen bedeutet ein Ausruhen, und des Ausruhens bedarf man, weil man nicht imstande ist sich unausgesetzt zu mühen. Also nicht der letzte Zweck ist die Erholung; vielmehr sie wird vorgenommen damit man nachher in seiner Tätigkeit um so besser fortfahren könne.

Und so ergibt sich denn, daß das glückselige Leben doch wohl das der sittlichen Gesinnung gemäße Leben ist; dieses aber ist ein Leben ernster Tätigkeit und nicht des Spieles. Wir nennen denn auch ernste Tätigkeit preiswürdiger als die Belustigung, auch wenn sie unterhaltend ist, und wir bezeichnen jedesmal diejenige Betätigung als die edlere, welche die des höher stehenden Vermögens und des höher stehenden Menschen ist. Die Tätigkeit dieses Höherstehenden ist mithin auch die wertvollere und glückseligere. Sinnliche Befriedigung mag ein Beliebiger und ein Sklave nicht weniger genießen als der Herrlichste. Anteil an seiner Glückseligkeit aber gewährt niemand einem Sklaven, wenn er ihm nicht auch einen Anteil an der entsprechenden Lebensführung gewährt. Denn nicht in Unterhaltungen von jener Art besteht die Eudämonie, sondern in den der sittlichen Gesinnung entsprechenden Tätigkeiten. Das haben wir schon oben dargelegt.

Besteht aber die Eudämonie in der der rechten Beschaffenheit entsprechenden Betätigung, so liegt nahe, daß es sich dabei um diejenige innerliche Beschaffenheit handeln wird, die die herrlichste ist, also doch wohl um die rechte Beschaffenheit dessen, was an uns das Edelste ist. Mag dieses nun denkende Vernunft, mag es etwas anderes sein, was seiner Natur nach zur Herrschaft und Leitung und zum bewußten Ergreifen des Idealen und Göttlichen berufen scheint; mag es an sich ein Göttliches, oder das in uns am meisten Gottähnliche sein: die Betätigung eben dieses Herrlichsten gemäß seines ihm eigentümlichen Adelswürde die vollendete Eudämonie bedeuten.

Daß nun diese Betätigung die reine Betrachtung ist, haben wir dargelegt.[229] und wir dürfen wohl sagen, daß es wie mit dem vorher Ausgeführten, so auch mit der Wahrheit der Tatsachen übereinstimmt. Denn unter allen Betätigungsarten ist diese die herrlichste, wie unter unseren Vermögen die denkende Vernunft, unter den Objekten aber die der reinen Vernunfterkenntnis entsprechenden die herrlichsten sind. Diese Betätigungsart ist außerdem die am meisten stetige. Denn in reiner Betrachtung vermögen wir eher als in irgendeiner Tätigkeit nach außen stetig zu verharren. Wir sind ferner überzeugt, daß die Eudämonie mit innerer Befriedigung verbunden sein müsse. Solche Befriedigung gewährt nach allgemeinem Zugeständnis unter den der rechten inneren Beschaffenheit entsprechenden Betätigungen am meisten diejenige, die der Wahrheitserkenntnis gilt. Wenigstens darf man soviel sagen, daß das Wahrheitsstreben eine Befriedigung von wunderbarer Reinheit und Zuverlässigkeit gewährt, und es ist ein einleuchtender Satz, daß der Zustand des Wissens noch größere Freude bereitet als der des Suchens. Auch was man Selbstgenüge nennt, findet sich am meisten bei der reinen Betrachtung. Denn die Bedürfnisse des Lebens sind dem Weisen und Gerechten ebenso nötig wie den übrigen. Sind sie aber mit dergleichen hinlänglich versehen, so bedarf der Gerechte noch anderer, in bezug auf welche und in Verbindung mit welchen er seine Gerechtigkeit betätigen kann, und das gleiche gilt von dem Besonnenen und dem Willensstarken und jedem anderen. Der Wahrheitsfreund dagegen kann auch für sich allein der Betrachtung leben, und um so mehr, je mehr er Wahrheitsfreund ist. Vielleicht ist es noch besser, wenn er gleichgesinnte Genossen hat, aber gleichwohl, sich selbst genug zu sein, das kommt ihm am meisten zu.

Und auch das dürfte gelten, daß die reine Betrachtung das einzige ist, was um seiner selbst willen geliebt wird; denn man hat von ihr weiter keinen Gewinn als das Betrachten selbst, während man von den äußeren Tätigkeiten irgendeinen Ertrag, einen größeren oder einen geringeren, noch neben der Tätigkeit ins Auge faßt. Ferner gilt als ausgemacht, daß die Eudämonie sich in der Muße finde. Denn den Geschäften geben wir uns hin zu dem Zwecke, um Muße zu gewinnen, wie wir Krieg führen, um uns des Friedens zu erfreuen. Die Betätigung praktischer Tugenden nun dreht sich um Staatsgeschäfte oder kriegerische Aktionen; Tätigkeiten auf diesen Gebieten aber dürften sich mit der Muße kaum vertragen, kriegerische Aktionen nun gar vollends. Denn niemand begehrt kriegerische Tätigkeit um der kriegerischen Tätigkeit willen, nicht einmal die Vorbereitung für den[230] Krieg hat dieses Ziel. Würde man doch den für überaus blutdürstig halten, der seine Freunde sich deshalb zu Feinden machen wollte, damit es nur zum Losschlagen und Blutvergießen komme. Aber auch die Tätigkeit des Staatsmannes ist der Muße feindlich; auch sie sucht etwas außer der staatsmännischen Tätigkeit selber Liegendes, Machtstellung und Ruhm oder auch Glückseligkeit für ihn selbst und für seine Mitbürger, eine Glückseligkeit, die etwas anderes ist als staatsmännische Tätigkeit, und offenbar auch eine andere als die, von der wir eben hier handeln.

Erwägt man nun, daß unter den Tätigkeiten, in denen hohe Vorzüge wirksam werden, diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, die an Glanz und Bedeutung hervorragendsten sind, eben diese aber der Muße feindlich sind, einem äußeren Zwecke zustreben und nicht um ihrer selbst willen zu begehren sind; erwägt man ferner, daß wohl mit Recht die Betätigung der denkenden Vernunft, weil sie der reinen Betrachtung zugewandt ist, an innerem Werte den Vorrang beansprucht, daß sie keinen Zweck erstrebt, der außer ihr selbst läge, und daß sie eine ihr eigentümliche Befriedigung mit sich bringt, die selbst wieder die Betätigung zu steigern vermag; daß das Selbstgenüge aber, das Element der Muße und Ungestörtheit in ihr, soweit es einem Menschen zugänglich ist, und alles was sonst noch Attribut eines seligen Lebens bildet, daß das alles augenscheinlich in dieser Art der Betätigung vorhanden ist: so darf eben diese als die vollendete Eudämonie eines Menschen gelten, falls sie nur die normale Dauer eines Menschenlebens hindurch währt. Denn in dem was zur Eudämonie gehört, gibt es nichts was nicht vollendet wäre.

Ein Leben dieser Art nun ist herrlicher als daß es der bloß menschlichen Natur zukäme. Denn nicht sofern einer Mensch ist, wird er solch ein Leben führen, sondern sofern in ihm etwas Göttliches wohnt. So weit aber dieses Leben über das mit der sinnlichen Natur verbundene Leben hervorragt, so weit übertrifft auch diese Form der Betätigung diejenige, die aller sonstigen Vorzüglichkeit gemäß ist. Wenn aber die denkende Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches ist, so ist auch das dieser Vernunftgemäße Leben ein göttliches im Vergleich mit dem menschlichen Leben.

Es soll also nicht, wie die Moralprediger mahnen, wer ein Mensch ist auf Menschliches gerichtet sein, noch wer sterblich ist sich am Sterblichen genügen lassen; sondern man soll, soweit es möglich ist, das Unsterbliche ins Herz fassen und all sein Tun darauf einrichten, daß man lebe entsprechend dem was in uns das Herrlichste ist. Denn wenn dies auch dem[231] äußeren Maßstab nach in uns ein Unscheinbares ist, so ist es doch seiner Macht und seinem Werte nach das bei weitem über alles Hervorragende. Ja, man darf sagen, daß jeglicher eben dieses Göttliche selber ist; ist dies doch an ihm sein eigentliches Wesen und sein besseres Teil. Es wäre also wider die Vernunft, wenn er nicht sein eigenes Leben, sondern das eines fremden Wesens führen wollte. So wird denn, was wir früher ausgeführt haben, auch mit dem jetzt Dargelegten übereinstimmen: was für einen jeden seinem eigentümlichen Wesen nach das Entsprechende ist, das ist für jeden auch das Wertvollste und Erfreulichste. Für den Menschen also ist es dasjenige Leben, das der denkenden Vernunft entspricht, wenn doch diese am meisten der Mensch selber ist. Dieses Leben ist also auch das glückseligste.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 227-232.
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