3. Die moralische Betätigung

[232] Die zweite Stelle nimmt sodann das Leben im Sinne sonstiger moralischer Beschaffenheiten ein. Die Betätigungsweisen in dieser Richtung sind die eigentümlich menschlichen. Wir benehmen uns gegeneinander gerecht, mutig oder sonst der moralischen Anforderung entsprechend in Geschäften und Angelegenheiten jeder Art, indem wir auch in unseren Affekten die Linie innehalten, die jedesmal das Gebührende bezeichnet; und was sich so ergibt, ist offenbar lauter solches, was der eigentümlich menschlichen Natur entspricht. Darunter ist mancherlei, was mit der leiblichen Natur des Menschen zusammenhängt; vielfach scheint auch die angemessene Haltung des Charakters in engster Verbindung mit den Affekten zu stehen. Zu der rechten Haltung des Charakters steht ferner auch die verständige Einsicht in naher Beziehung und ebenso umgekehrt der Charakter zur Einsicht, wenn doch die in der Einsicht wirksamen Grundsätze den rechten Beschaffenheiten des Charakters, und das was im moralischen Sinne das Rechte ist, dem entspricht, was in der Einsicht lebt. Da sie nun beide wiederum auch mit den Affekten im Zusammenhange stehen, so werden sie doch wohl dem aus Leib und Seele bestehenden zusammengesetzten Wesen zuzuweisen sein, und die Attribute dieses zusammengesetzten Wesens ebenso wie die ihnen entsprechende Lebensführung mit ihrer Art von Eudämonie machen das eigentümlich Menschliche aus, während das was der reinen Vernunft angehört, vom Leiblichen getrennt ist. Soviel mag hier darüber bemerkt sein; genauer ins einzelne zu gehen, würde über die Aufgabe, die uns hier beschäftigt, hinausreichen.

Von der Eudämonie im Sinne der reinen Vernunft darf man wohl sagen,[232] daß sie der Ausstattung mit äußeren Gütern nur in geringerem Grade oder doch in geringerem als die dem moralischen Verhalten entsprechende bedarf. Des Lebens Notdurft mag beide in gleichem Maße beschäftigen, wenn auch derjenige der sein Leben in den Geschäften zubringt, sich in höherem Maße um den Leib und was mit ihm zusammenhängt zu bekümmern hat; das würde aber einen so großen Unterschied nicht machen. Dagegen ist der Unterschied sehr groß, was ihre Betätigungsweisen anbetrifft. Ein hochgesinnter Mann bedarf der äußeren Güter, um seine hohe Gesinnung zu betätigen: ein gerechter Mann bedarf ihrer, um Empfangenes zu vergelten. Denn das bloße Wollen ist unerkennbar, und auch Leute ohne gerechte Gesinnung tun so als wäre es ihre Absicht gerecht zu handeln. Ein mutiger Mann bedarf der Stärke, wenn er eine Tat im Sinne dieser wertvollen Eigenschaft vollbringen soll, und ein besonnener Mann bedarf der Möglichkeit der Unbesonnenheit. Wie sollte man sonst erkennen können ob jemand mit dieser oder mit anderen edlen Eigenschaften ausgestattet ist?

Man streitet darüber, ob die Hauptsache bei der moralischen Beschaffenheit eines Menschen die innere Gesinnung oder die äußeren guten Werke sind. Erforderlich dafür ist beides, und soll die Moralität vollkommen sein, so muß sie offenbar in beiden Formen zur Erscheinung kommen. Für die äußeren Handlungen wird an äußeren Mitteln vieles erfordert, und je bedeutender und herrlicher jene sind, desto mehr. Dagegen bedarf der der reinen Betrachtung Lebende nichts dergleichen für seine Tätigkeit; ja man möchte sagen: die äußeren Güter bilden für die reine Betrachtung eher eine Störung. Indessen, sofern er ein Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, entscheidet auch er sich für ein tätiges Leben im Sinne moralischer Handlungsweisen, und so wird denn auch er jene Dinge gebrauchen, um als Mensch unter Menschen zu leben.

Daß demgegenüber die vollkommene Eudämonie eine Betätigung des kontemplativem Vermögens ist, wird auch aus folgendem deutlich werden. Die Götter stellt man sich doch vor als im höchsten Grade selig und vollkommen. Welche Art von Betätigung soll man nun wohl ihnen zuschreiben? Etwa Handlungen der Gerechtigkeit? Es wäre aber doch lächerlich die Götter sich vorzustellen, wie sie Tauschgeschäfte machen, ein Depositum zurückerstatten oder andere ähnliche Geschäfte betreiben. Oder Handlungen der Tapferkeit, so daß sie in Schrecknissen standhielten und Gefahren beständen, weil das edle Handlungen sind? Oder Handlungen der Freigebigkeit? Wem sollen sie denn geben? Und ist es nicht töricht ihnen den Besitz von barem[233] Gelde oder dergleichen zuzuschreiben? Was soll man aber bei ihnen unter Betätigungen idealer Gesinnung verstehen? Wäre es nicht eine grobsinnliche Anschauung, sie deshalb zu preisen, weil sie niedrigen Begierden nicht zugänglich sind? Und wenn wir so alles einzelne durchgehen, immer würde das Ergebnis das sein, daß ein handelndes Leben für die Götter zu niedrig und ihrer nicht würdig wäre. Und doch stellen sich alle vor, daß die Götter leben und also auch daß sie tätig sind, nicht etwa daß sie schlafen wie Endymion. Wenn man aber dem Lebenden das Tätigsein nach außen und noch mehr das äußere Hervorbringen abnimmt, was bleibt dann übrig als die reine Betrachtung? Die Wirksamkeit Gottes, die an Seligkeit alles übertrifft, wird also in der reinen Betrachtung bestehen, und von den menschlichen Wirksamkeiten wird diejenige mit der größten Glückseligkeit verbunden sein, die jener am nächsten verwandt ist.

Man sieht das ferner auch daraus, daß die übrigen lebenden Wesen an der Eudämonie keinen Anteil haben, weil ihnen eine derartige Wirksamkeit vollkommen versagt bleibt. Der Götter Leben ist ganz und gar selig; das Leben des Menschen ist es nur so weit, als ihm ein Ebenbild einer derartigen Wirksamkeit zugänglich ist. Von den übrigen Lebewesen kommt keinem Eudämonie zu, weil es in keiner Weise an der reinen Betrachtung teil hat. So weit sich die reine Betrachtung erstreckt, so weit erstreckt sich auch die Eudämonie. Den Wesen, denen die reine Betrachtung in höherem Maße zukommt, kommt auch die Eudämonie in höherem Maße zu, nicht als bloßes Anhängsel, sondern gemäß dem Wesen der reinen Betrachtung; denn diese hat ihre Herrlichkeit an sich selbst. Und so erweist sich denn die Eudämonie als ein Zustand der Kontemplation.

Nun wird ja allerdings der Mensch als Mensch auch des äußeren Wohlergehens bedürfen. Denn die Naturausstattung ist für sich nicht ausreichend, um die Tätigkeit der reinen Betrachtung zuzulassen; es muß auch der Leib in rechter Beschaffenheit sein, er muß Nahrung und sonstige Pflege genießen. Dennoch darf man sich nicht der Meinung hingeben, daß jemand, um sich des Zustandes der Eudämonie zu erfreuen, wenn es doch nicht möglich ist ganz ohne die äußeren Güter glücklich zusein, deshalb vieler und umfangreicher Dinge bedürfe. Denn daß einer ein volles Genüge und die Möglichkeit der Betätigung habe, liegt nicht an dem großen Überschwang; man kann ganz wohl den Adel der Seele bewähren auch ohne daß man Länder und Meere beherrscht, und auch mit mäßigen Mitteln kann einer im Sinne der sittlichen Anforderung tätig sein. Das lehrt deutlich genug die[234] tägliche Erfahrung. Sie zeigt, daß oft ein einfacher Privatmann nicht in geringerem, sondern eher in höherem Maße pflichtmäßig das Seine tut als die Großen dieser Erde. Es genügt völlig, wenn man gerade nur so viel hat; denn selig ist das Leben dessen, der seine sittliche Gesinnung wirksam betätigen darf. So hat auch Solon den Begriff des glücklichen Menschen wohl zutreffend bezeichnet, wenn er sagt, glücklich sei, wer mit äußeren Gütern mäßig ausgestattet, die edelsten Taten, / was er darunter verstand, / vollbracht und ein Leben der Selbstbeherrschung geführt habe. Denn es ist ganz wohl möglich, bei mäßigem Besitz seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun. Auch bei Anaxagoras hat man den Eindruck daß er nicht den Reichen und nicht den Mächtigen als den Glücklichen betrachtet, wenn er sagt, es würde ihn nicht verwundern, wenn solch einer beim großen Haufen eine lächerliche Figur wäre. Denn die Masse urteilt nach dem Äußeren, das sie allein wahrzunehmen vermag. So dürfen wir denn annehmen, daß die Ansichten der erleuchtetsten Geister mit unseren Ausführungen übereinkommen, und eine solche Übereinstimmung bedeutet immerhin eine Bestätigung. Allerdings, die Wahrheit in Fragen des praktischen Lebens wird erst erwiesen auf Grund der erfahrungsmäßigen Tatsachen; denn diese bilden die entscheidende Probe. Was wir vorher dargelegt haben, das muß man darum prüfen. Indem man es an der Wirklichkeit des Lebens mißt. Stimmt es mit der Wirklichkeit, so muß man es gelten lassen; steht es dazu im Widerspruch, so darf man es für leeres Gerede halten.

Wer der Vernunft gemäß tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, den darf man als den Menschen in der herrlichsten Lage und als den Liebling der Götter betrachten. Denn wenn die Götter irgendwie sich um die menschlichen Dinge bekümmern, wie es doch die allgemeine Ansicht ist, so ist es auch eine vernünftige Annahme, daß sie an dem ihre Freude haben, was das Herrlichste und das ihnen Verwandteste ist, / dies aber wird doch wohl die Vernunft sein, / und daß sie denjenigen, die dies am meisten lieben und schätzen, mit Gutem vergelten, als solchen die nach dem trachten was den Göttern wohlgefällig ist, und einen rechten und löblichen Wandel führen. Daß alles dies sich im höchsten Grade bei dem Menschen von erleuchteter Vernunft findet, ist nicht zu verkennen; also ist dieser der Liebling der Götter, und damit wird derselbe naturgemäß auch der höchsten Eudämonie genießen. Und so ersehen wir denn auch daraus, daß der Mensch mit erleuchteter Vernunft der glückseligste ist.[235]

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 232-236.
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