VII. Schlussfolgerung aus den vorhergehenden Kapiteln.

[57] 1. Nachdem wir bewiesen haben, dass unsere Statue im Stande ist, aufzumerken, sich zu erinnern, zu vergleichen, zu urtheilen, zu sondern, vorzustellen; dass sie abstrakte Begriffe, Vorstellungen von Zahl und Dauer hat; dass sie allgemeine und besondere Wahrheiten kennt; dass sie Begehrungen bildet, Leidenschaften annimmt, liebt, hasst, will; dass sie der Hoffnung, der Furcht und des Erstaunens fähig ist, und dass sie endlich Gewöhnungen sich aneignet, so müssen wir schliessen, dass bei einem einzigen Sinn der Verstand eben so viele Vermögen hat, als bei den fünf vereinigten. Wir werden sehen, dass die, welche uns besondere zu sein scheinen, nur diese selben Vermögen sind, die sich, weil sie sich mit einer grössern Anzahl von Objekten befassen, mehr entwickeln.

2. Wenn wir erwägen, dass sich erinnern, vergleichen, urtheilen, sondern, vorstellen, erstaunen, abstrakte Vorstellungen und die der Zahl und Dauer haben, allgemeine und besondere Wahrheiten kennen, nur verschiedene Weisen des Aufmerkens sind, dass Leidenschaften haben, lieben, hassen, hoffen, fürchten und wollen nur verschiedene[58] Weisen des Begehrens sind, und dass endlich Aufmerken und Begehren ursprünglich gleich Empfinden sind: so werden wir schliessen, dass die Empfindung alle Seelenvermögen einschliesst.

3. Wenn wir endlich bedenken, dass es keine vollkommen gleichgültige Empfindungen giebt, so werden wir weiter schliessen, dass die verschiedenen Grade der Lust und des Schmerzes das Gesetz sind, nach welchem der Keim alles dessen, was wir sind, sich entwickelt hat, um alle unsere Vermögen zu erzeugen.

Dieses Prinzip kann die Namen Bedürfniss, Erstaunen und andere, die wir ihm sonst geben wollen, annehmen, aber es ist stets das Nämliche; denn stets sind wir durch die Lust oder den Schmerz bei Allem bewegen, was Bedürfniss oder Erstaunen uns thun heisst.

Unsere ersten Vorstellungen sind in der That nur Schmerz oder Lust. Bald folgen andere ihnen nach und ermöglichen Vergleiche, woraus unsere ersten Bedürfnisse und Begehrungen entstehen. Durch unsere Bemühungen sie zu befriedigen erlangen wir andere Vorstellungen, die wiederum neue Begehrungen erzeugen. Das Erstaunen, welches dazu beiträgt, uns aussergewöhnliche Vorkommnisse lebhaft empfinden zu lassen, erhöht von Zeit zu Zeit die Thätigkeit unserer Vermögen, und es bildet sich eine Kette, deren Glieder abwechselnd Vorstellungen und Begehrungen sind, und der mau nur zu folgen braucht, um den Fortgang aller Erkenntnisse des Menschen zu entdecken.

4. Fast Alles, was ich über die Seelenvermögen bei Besprechung des Geruchsinnes gesagt habe, das hätte ich auch sagen können, wenn ich bei irgend einem andern Sinne angefangen hätte. Die Anwendung auf sie ist leicht zu machen. Es bleibt mir nur noch übrig zu prüfen, was jedem von ihnen besonders zukommt.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 57-59.
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