VIII. Von einem auf den Gehörsinn beschränkten Menschen.

[59] 1. Wir wollen unsere Statue auf den Gehörsinn beschränken und Folgerungen ziehen, wie erst, als sie nur den Geruchsinn hatte.[59]

Wenn ihr Ohr getroffen wird, so wird sie die Empfindung werden, die sie erfährt; sie wird wie die Echo sein, von der Ovid sagt: »sonus est, qui vivit in illa«, es ist der Schall, der in ihr lebt. Demnach werden wir sie beliebig in ein Geräusch, einen Schall, eine Symphonie verwandeln; denn sie muthmasst nicht, dass es etwas Anderes als sie gebe. Das Gehör verschafft ihr keine Vorstellung von einem in gewisser Entfernung befindlichen Objekt. Die Nähe oder Ferne tönender Körper erzeugt für ihren Standpunkt nur einen starkem oder schwachem Ton; sie fühlt nur ihre Existenz dadurch mehr oder weniger.

2. Die Körper erregen im Ohr zwei Arten der Empfindungen12: die eine ist der eigentliche Ton, die andere das Geräusch.

Das Ohr ist dazu eingerichtet, ein bestimmtes Verhältniss zwischen einem Tone und einem andern Tone aufzufassen, aber zwischen einem Geräusche und dem andern Geräusche kann es nur ein unklares Verhältniss auffassen. Das Geräusch ist für den Gehörsinn ungefähr das, was eine Vielheit von Düften für den Geruchsinn ist.[60]

3. Wenn im ersten Zeitpunkt sich mehrere Geräusche mit einander unserer Statue vernehmbar machen, so wird das stärkere das schwächere verhüllen, und sie werden sich so vermengen, dass sich für sie nur eine einfache Daseinsweise ergiebt, worin sie zusammenfliessen.

Wenn sie sich folgen, so bewahrt sie die Erinnerung an das, was sie gewesen. Sie unterscheidet ihre verschiedenen Daseinsweisen, vorgleicht sie, urtheilt darüber und bildet daraus eine Reihe, die ihr Gedächtniss in der Anordnung festhält, in der sie verglichen worden sind, vorausgesetzt, dass diese Reihe sie wiederholt erregt habe. Sie wird also diese Geräusche wiedererkennen, wenn sie sich wieder folgen werden, aber sie wird sie nicht mehr wiedererkennen, wenn sie sich gleichzeitig vernehmen lassen. Es ergeben sich hier dieselben Folgerungen, wie oben bei den Gerüchen.

4. Was die Töne im engem Sinne betrifft, so hat das Ohr, da es so gebaut ist, dass es ihre Verhältnisse genau empfindet, für sie eine feinere und ausgedehntere Unterscheidungskraft. Seine Fibern scheinen sich in die Schwingungen der tönenden Körper zu theilen, und es kann deutlich mehrere Töne auf einmal hören. Indess braucht man nur zu erwägen, dass es bei den Menschen, die in der Musik nicht geübt sind, nicht ganz diese Unterscheidungskraft hat, um wenigstens überzeugt zu[61] sein dass unsere Statue nicht gleich im ersten Zeitpunkte zwei Töne, die sie zusammen hört, unterscheiden wird.

Aber wird sie dieselben herausfinden, wenn sie sie gesondert studirt hat? Ich halte es nicht für wahrscheinlich; obgleich ihr Ohr durch seinen Mechanismus befähigt ist, einen Unterschied zwischen ihnen zu machen, so haben doch die Töne unter sich so viel Verwandtes, dass man annehmen darf, es werde, weil es nicht durch die Urtheile unterstützt wird, nach denen sie auf verschiedene Körper zu beziehen sind, noch fortfahren, sie zu vermengen.

5. Wie dem auch sei: durch die Abstufung der Lust und des Schmerzes wird sie dieselben Vermögen erwerben, wie mit dem Geruch. Doch sind darüber einige besondere Bemerkungen zu machen.

6. Erstens, die Lustgefühle des Ohres bestehen vorzüglich in der Melodie, d.h. in einer Aufeinanderfolge harmonischer Töne, denen die Messung einen verschiedenen Charakter verleiht. Die Begehrungen unserer Statue werden also nicht blos einen Ton zum Gegenstand haben, und sie wird wünschen, wieder eine ganze Melodie zu werden.

7. Zweitens haben sie einen von denen des Geruchsinnes ganz verschiedenen Charakter. Geeigneter zu Erregungen als die Düfte werden die Töne unserer Statue z.B. jene Traurigkeit oder jene Freude geben, die nicht von den erworbenen Vorstellungen abhängt und die einzig auf gewissen Veränderungen beruht, die mit dem Körper vorgehen.13[62]

8. Drittens beginnen sie, wie die des Geruchsinnes, mit der leisesten Empfindung. Das erste Geräusch, so schwach es sein mag, ist also ein Lustgefühl für unsere Statue. Das Geräusch nehme zu, so wird die Lust wachsen und erst aufhören, wenn die Schwingungen das Trommelfell schädigen.

9. Was die Musik betrifft, so wird sie ihr umsomehr gefallen, je mehr sie mit der geringen Uebung ihres Ohres in Verhältniss steht. Anfangs werden einfache und rohe Gesänge sie zu entzücken vermögen. Gewöhnen wir sie darauf nach und nach an künstlichere, so wird sich das Ohr die Uebung aneignen, die sie erheischen: sie wird neue Lustgefühle kennen lernen.

10. Uebrigens ist dieser Fortschritt nur für wohlgebaute Ohren möglich. Wenn die Fibern unter sich nicht in gewissen Verhältnissen stehen, so wird das Ohr falsch sein, wie ein schlecht gestimmtes Instrument. Je beträchtlicher dieser Fehler ist, desto weniger wird sie für Musik empfänglich sein, möglicherweise sogar nicht mehr als für Geräusch.

11. Viertens: Da die Lust an einer Aufeinanderfolge von Tönen die an einem andauernden Geräusch so weit überwiegt, so darf man vermuthen, dass die Statue, wenn sie gleichzeitig ein Geräusch und eine Melodie hört, von denen keins vor dem andern vorherrscht, und die sie gesondert kennen gelernt hat, sie nicht vermengen werde.

Hätte sie im ersten Augenblicke ihres Daseins sie zusammen gehört, so würde sie zwischen ihnen keinen Unterschied gemacht haben. Denn wir erfahren an uns selbst, dass wir an den Sinneseindrücken nur das unterscheiden, was wir haben bemerken können, und dass wir[63] nur die Vorstellungen bemerken können, denen wir nacheinander unsere Aufmerksamkeit zugewandt haben.

Wenn aber unsere Statue, nachdem sie abwechselnd ein Gesang und das Geräusch eines Baches gewesen, die Fertigkeit erlangt hat, diese zwei Daseinsweisen zu unterscheiden und ihre Aufmerksamkeit zwischen sie zu theilen, so sind sie, scheint mir, zu verschieden, um noch, so oft sie dieselben zusammen erfährt, zusammenzufliessen, besonders wenn, wie ich voraussetze, keine vorherrscht. Sie muss also jedenfalls bemerken, dass sie zugleich jenes Geräusch und jener Gesang ist, deren sie sich als zweier Wandlungen erinnert, die sich früher gefolgt sind.

Das Prinzip, worauf ich diese meine Annahmen gründe, wird in der Fortsetzung dieses Werkes ein neues Licht gewinnen, weil ich Veranlassung haben werde, es auf noch deutlichere Beispiele anzuwenden.

Wir werden sehen, wie wir zufolge unseres Verfahrens beim Beurtheilen unserer Empfindungen nur das zu unterscheiden vermögen, worauf die Umstände uns hingewiesen haben, wie alles Uebrige für uns verworren ist und wir davon eben so wenig Vorstellungen bewahren, als wenn wir keine Empfindung davon gehabt hätten. Das ist eine von den Ursachen, welche bewirken, dass die Menschen bei denselben Sinneserregungen so verschiedene Erkenntnisse haben. Der Keim ist überall derselbe; allein bei den Einen bleibt er unentwickelt, bei Anderen entwickelt, nährt und vergrössert er sich.

12. Weil endlich die Geräusche für das Ohr das sind, was die Düfte für die Nase, so wird ihre Verbindung im Gedächtniss dieselbe wie bei den Düften sein. Da jedoch die Töne vermöge ihrer Natur und der des Organs ein viel stärkeres Band haben, so wird das Gedächtniss ihre Aufeinanderfolge leichter behalten.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 59-64.
Lizenz:
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