X. Von dem Geschmack allein und von dem mit Geruch und Gehör verbundenen Geschmack.

[66] 1. Wenn ich nur dem Innern des Mundes unserer Statue Reizempfänglichkeit verleihe, so kann ich sie nicht veranlassen, Nahrung zu sich zu nehmen; allein ich nehme an, die Luft trage ihr nach meinem Belieben alle Geschmacksarten zu und sei geeignet sie zu ernähren, so oft ich es für nothwendig erachten werde.

Sie wird dieselben Fähigkeiten wie mit dem Gehör und Geruch erwerben, und weil ihr Mund für die Geschmacksarten das ist, was die Nase für die Düfte und das Ohr für das Geräusch, so erscheinen ihr mehrere vereinigte Geschmacksarten als eine einzige, und sie wird sie nur insoweit unterscheiden, als sie auf einander folgen.

2. Der Geschmack kann für gewöhnlich mehr als der Geruch zu ihrem Glück und Unglück beitragen; denn Geschmacksarten reizen gemeiniglich stärker als Gerüche.

Er trägt sogar noch mehr dazu bei, als die harmonischen Töne, weil das Nahrungsbedürfniss ihr die Geschmacksempfindungen nothwendiger macht und sie folglich mit grösserer Lebhaftigkeit geniessen lässt. Hunger wird sie unglücklich machen können; aber sowie sie auf die Empfindungen geachtet hat, die geeignet sind, ihn zu stillen, so wird sie ihre Aufmerksamkeit mehr auf sie[66] richten, sie mit grösserer Heftigkeit begehren und mit grösserer Wonne geniessen.

3. Vereinigen wir den Geschmack mit dem Gehör und dem Geruch, so wird die Statue es dahin bringen, die Empfindungen, die sie ihr gleichzeitig übermitteln, zu scheiden, wenn sie dieselben gesondert kennen gelernt hat, immer vorausgesetzt, dass ihre Aufmerksamkeit sich annähernd gleich unter sie theilt. Hiermit ist ihr Dasein gewissermassen verdreifacht.

Freilich wird es ihr nicht immer ebenso leicht sein, eine Geschmacksempfindung von einem Geruche zu unterscheiden, wie von einem Ton. Geruch und Geschmack haben eine so nahe Verwandtschaft, dass ihre Empfindungen zuweilen zusammenfliessen müssen.14

4. Da wir eben gesehen haben, dass die Geschmacksempfindungen sie mehr als jede andere Empfindung interessiren müssen, so wird sie sich desto mehr mit ihnen beschäftigen, je grösser ihr Hunger ist. Der Geschmack wird also den anderen Sinnen schaden, ja die Statue unempfindlich machen können gegen Düfte und Harmonie.

5. Die Vereinigung dieser Sinne wird die Reihe ihrer Vorstellungen ausgedehnter und mannichfaltiger machen, die Zahl ihrer Begehrungen vermehren und sie neue Fertigkeiten erwerben lassen.

6. Indessen ist es sehr schwierig zu bestimmen, wie weit die Statue die Daseinsweisen, die sie ihnen verdankt, wird unterscheiden können. Vielleicht ist ihre Unterscheidungsgabe weniger ausgedehnt, als ich mir denke, vielleicht auch mehr. Um das zu entscheiden, müsste man sich ganz und gar an ihre Stelle setzen und sich aller seiner Fertigkeiten völlig begeben; allein ich schmeichle mir nicht, es immer dahin gebracht zu haben.

Die Fertigkeit, jede Art Empfindung auf ein besonderes Organ zu beziehen, muss viel dazu beitragen, dass wir sie unterscheiden. Ohne dieselbe würden[67] unsere Empfindungen wohl eine Art Chaos für uns sein. In diesem Falle wäre die Unterscheidungsgabe der Statue sehr beschränkt.

Man muss jedoch beachten, dass die Unsicherheit oder selbst Unrichtigkeit mancher Vermuthungen der Grundlage dieses Werkes nicht zu schaden vermag. Wenn ich diese Statue beobachte, so geschieht es weniger um mich dessen zu versichern, was in ihr vorgeht, als um zu entdecken, was in uns vorgeht. Ich kann mich darin täuschen, dass ich ihr Operationen zuschreibe, deren sie noch nicht fähig ist, allein dergleichen Irrthümer bleiben ohne weitere Folgen, wenn sie den Leser in den Stand setzen zu beobachten, wie sich jene Operationen in ihm selbst vollziehen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 66-68.
Lizenz:
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Abhandlung über die Empfindungen
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