III. Von den Empfindungen, welche dem Tastsinn zugeschrieben werden, jedoch keine Vorstellung von Ausdehnung geben.

[87] 1. Das Gefühl unserer Statue möge nicht länger gleichförmig bleiben, und wir wollen es in allen ihren Körpertheilen gleichzeitig mit derselben Lebhaftigkeit, aber doch auf verschiedene Weise abändern: so wird sie nach meinem Dafürhalten noch keine Vorstellung von Ausdehnung haben. Kommen diese Empfindungen zugleich, so ergiebt sich daraus ein verworrenes Gefühl, wobei die Statue sie nicht unterscheiden kann; denn da sie dieselben noch nicht einzeln bemerkt hat, so versteht sie noch nicht, mehrere zusammen zu bemerken.

Machen aber Wärme und Kälte sich nach einander bemerklich, so wird sie dieselben unterscheiden und von jedem dieser Gefühle eine Vorstellung behalten. Sie möge sie hierauf mit einander erfahren, so wird sie den Eindruck, den sie empfindet, mit den Vorstellungen vergleichen, an die das Gedächtniss sie erinnert, und erkennen, dass sie auf zwei verschiedene Weisen zugleich ist.

Gleicherweise können wir ihr Vorstellungen von mehreren andern Arten der Lust und des Schmerzes geben; denn in dem Maasse, als sie einander folgende Empfindungen bemerken lernt, wird sie sich daran gewöhnen, sie zu bemerken, wenn sie mit einander kommen; ja sie wird es dahin bringen, in einem Zeitpunkte eine so grosse Zahl derselben zu unterscheiden, dass es ihr nicht möglich ist, sie genau anzugeben.

Nehmen wir z.B. an, sie empfinde gleichzeitig Wärme in dem einen und Kälte in dem andern Arme, Schmerz am Kopfe, Kitzeln an den Füssen, Bewegung in den Eingeweiden u.s.w. Ich glaube, sie wird diese Daseinsweisen bemerken, vorausgesetzt, dass sie dieselben gesondert kennen gelernt hat, und wenn keine vorherrscht, wird ihre Aufmerksamkeit sich gleichmässig unter sie theilen. Man muss hier die Grundsätze in Anwendung bringen, die wir aufstellten, als wir vom Gesichtsinn sprachen.

Diese Daseinsweisen, die sie zugleich bemerkt, bestehen[88] neben einander, unterscheiden sich mehr oder weniger und sind insofern ausser einander; allein weil sich daraus weder Angrenzung noch Zusammenhang ergiebt, können sie der Statue eben so wenig als Töne oder Dufte eine Vorstellung von Ausdehnung geben. Wenn wir sie uns als ausgedehnt vorstellen, so geschieht es nicht, weil sie an und für sich diese Vorstellung geben, sondern weil wir anderswoher wissen, dass wir einen Körper haben und sie deshalb auf etwas beziehen, dessen neben und an einander liegende Theile ein zusammenhängendes Ganze bilden. Hier haben wir also Empfindungen, die dem Tastsinn angehören, die Erscheinung der Ausdehnung jedoch nicht zu bewirken vermögen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 87-89.
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