IV. Vorläufige Betrachtungen zur Lösung der Frage: wie wir von unsern Empfindungen zur Erkenntniss der Körper gelangen.

[89] 1. Wir können Ausdehnung nur mit Ausdehnung herstellen, wie wir Körper nur mit Körpern herstellen können; denn wir sehen nicht, dass unter mehreren unausgedehnten Dingen Zusammenhang stattfinden und sie folglich ein Ganzes bilden könnten. Wir stellen uns jedoch nothwendiger Weise jeden einzelnen Körper als ein, durch den Zusammenhang mehrerer anderer ausgedehnter Körper gebildetes Ganze vor. Ja wir sind gezwungen, selbst die ganz kleinen so vorzustellen, die sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehen; wir denken uns jeden aus andern ausgedehnten Körpern und diese wieder aus andern zusammengesetzt und wissen nicht, wo wir inne halten sollen.[89]

Augenscheinlich werden wir also von unsern Empfindungen nur dann zur Erkenntniss der Körper gelangen, wenn sie die Erscheinung der Ausdehnung zu Stande bringen, und weil ein Körper ein durch den Zusammenhang anderer ausgedehnter Körper gebildetes Ganze ist, so muss die Empfindung, die ihn darstellt, ein durch den Zusammenhang anderer ausgedehnter Empfindungen gebildetes Ganze sein. Wir haben diese Eigenschaft in keiner der von uns beobachteten Empfindungen gefunden, und müssen weiter suchen, ob wir sie in andern finden. Da die Empfindungen nur der Seele angehören, so können sie nur Daseinsweisen dieser Substanz sein; sie sind auf sie eingeschränkt und erstrecken sich nicht weiter. Nähme sie nun die Seele nur als auf sie beschränkte Daseinsweisen wahr, so würde sie in ihren Empfindungen nur sich sehen; es würde ihr mithin unmöglich sein, zu entdecken, dass sie einen Körper hat, und dass es über diesen Körper hinaus noch andere giebt.

Diese Entdeckung ist jedoch eine der ersten, die sie macht, und sie darf auch mit ihr nicht zögern. Wie könnte ein neugebornes Kind sich mit seinen Bedürfnissen befassen, wenn es keine Kenntniss von seinem Körper hätte und sich nicht eben so leicht eine Vorstellung von den Körpern bildete, die ihm förderlich sein können?

Ich habe mehrmals, und besonders in meiner Logik darauf hingewiesen, es komme nur dann vor, dass wir etwas absichtlich thun, wenn wir es schon unabsichtlich gethan haben. Das ist eine fruchtbare Wahrheit; ich sage nicht: ein »Prinzip«; denn man hat so viel Missbrauch mit diesem Worte getrieben, dass man nicht mehr weiss, was es bedeutet.

Aus dieser Wahrheit ergiebt sich, dass in uns Alles von der Natur begonnen wird; auch habe ich nachgewiesen, dass[90] unsere Erkenntnisse ursprünglich oder von vornherein ihr Werk sind, dass wir uns nur nach ihrer Unterweisung unterrichten, und dass alle Kunst des Denkens darin besteht, so fortzufahren, wie sie uns hat beginnen lassen.

Die erste Entdeckung nun, die ein Kind macht, ist die seines Körpers. Es macht sie also eigentlich nicht selbst, sondern die Natur ist es, die sie ihm gleich fertig zeigt. Allein die Natur würde ihm seinen Körper nicht zeigen, wenn sie es die Empfindungen, die es erfährt, immer nur als Modifikationen wahrnehmen liesse, die blos seiner Seele angehören. Das Ich eines Kindes könnte, weil es alsdann auf seine Seele eingeschränkt wäre, die verschiedenen Theile seines Körpers nie als eben so viele Theile seiner selbst ansehen.

Die Natur hatte demnach nur ein Mittel, ihm Kunde von seinem Körper zu geben, und dieses war, es seine Empfindungen nicht als Modifikationen seiner Seele, sondern als Modifikationen der Organe, die eben so viele Gelegenheitsursachen derselben sind, wahrnehmen zu lassen. Dadurch musste das Ich, statt auf die Seele eingeschränkt zu sein, sich ausdehnen, ausbreiten und sich gewissermassen in allen Körpertheilen wiederholen.

Dieses Hülfsmittel, in Folge dessen wir uns in den Organen zu finden glauben, die nicht eigentlich wir selbst sind, hat ohne Zweifel seine Begründung im Mechanismus des menschlichen Körpers, und ohne Zweifel wird auch dieser Mechanismus aus Rücksicht auf die Natur der Seele gewählt und eingerichtet worden sein. Das ist Alles, was wir in dieser Hinsicht wissen können. Wenn man die Natur der Seele und den Mechanismus des menschlichen Körpers vollständig kennen wird, so wird man wahrscheinlich leicht erklären, wie das Ich, das nur in der Seele ist, sich in dem Körper zu finden scheint. Für uns aber wird es genügen, dass wir diese Thatsache beobachten und uns ihrer vergewissern.

Obwohl die Statue Empfindungen haben muss, die sie in Folge ihrer Beschaffenheit als Modifikationen ihrer Organe wahrnimmt, so wird sie doch nicht sogleich von ihrem Körper Kunde erlangen, wenn sie dergleichen Empfindungen[91] erfährt. Um ihn zu entdecken, muss sie analysiren, d.h. ihr Ich nach einander in allen Theilen, wo es sich zu befinden scheint, beobachten. Nun steht aber fest, dass sie diese Analyse nicht von selbst anstellen wird. Die Natur muss sie also dazu veranlassen. Machen wir unsere Beobachtungen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 89-92.
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