X. Von der Ruhe, dem Schlafe und dem Erwachen bei einem auf den Tastsinn beschränkten Menschen.

[123] 1. Die Bewegung erscheint unserer Statue als ein so natürlicher Zustand und sie trägt so grosses Verlangen darnach, sich überall hin zu begeben und Alles in die Hand zu nehmen, dass sie ohne Zweifel die Unthätigkeit, in die sie unfehlbar verfallen muss, nicht kommen sieht. Allein allmählich verlassen sie ihre Kräfte, und da sie[123] anfängt Müdigkeit zu fühlen, so bekämpft sie dieselbe einige Zeit durch das noch vorhandene Verlangen nach Bewegung; endlich wird die Ruhe das dringendste ihrer Bedürfnisse; sie fühlt ihre Wissbegierde wider ihren Willen nachlassen, lässt die Arme hängen und bleibt unbeweglich.

2. Jedoch die Thätigkeit ihres Gedächtnisses erhält sich fort, und es kommt ihr vor, als lebte sie nur noch in der Erinnerung an das, was sie gewesen; allein auch das Gedächtniss kommt zur Ruhe; die Vorstellungen, welche es erneuert, schwächen sich unmerklich ab und scheinen sich in eine Entfernung zu verlieren, aus der sie kaum einen halbverlöschenden Schimmer werfen. Endlich sind alle Kräfte eingeschlummert, und das ist für die Statue der Zustand des Schlafes.

3. Nach Verlauf einiger Stunden beginnt die Ruhe, sie neu zu kräftigen. Ihre Vorstellungen kommen langsam wieder; scheinbar treten sie nur auf, um wieder zu verschwinden, und ihre Seele, die zwischen Schlaf und Wachen in der Schwebe ist, kommt sich vor, wie ein leichter Nebel, der sich von einem Augenblick zum andern zerstreut und wieder sammelt. Inzwischen beginnt allmählich wieder die Bewegung in allen ihren Köpertheilen; ihre Vorstellungen befestigen sich, ihre Gewöhnungen erneuern sich, ihre Seele ist ihr völlig wiedergegeben: sie glaubt zum zweiten Male zu leben.

Dieses Erwachen dünkt sie höchst angenehm. Sie legt mit Verwunderung ihre Hände auf sich, auf Alles, was sie umgiebt; in ihrer Freude, sich und auch die Dinge wiederzufinden, mit denen sie vertraut ist, kehrt ihre Wissbegierde, kehren alle ihre Begehrungen mit grösserer Lebhaftigkeit wieder. Sie überlässt sich ihnen völlig, bewegt sich dahin und dorthin, erkennt wieder, was sie schon gekannt hat, und erwirbt neue Kenntnisse. Sie macht sich also zum zweiten Male müde, und indem sie ihrer Müdigkeit nachgiebt, überlässt sie sich wieder dem Schlafe.

4. Wenn sie diese verschiedenen Zustände wiederholt durchlebt hat, so wird sie sich daran gewöhnen, sie kommen zu sehen, und sie werden ihr so selbstverständlich werden, dass sie einschläft und aufwacht, ohne erstaunt zu sein.[124]

5. In der Erinnerung daran, dass sie von dem einen zum andern übergegangen ist, unterscheidet sie dieselben. Zunächst hat sie gefühlt, wie ihre Kräfte sie unmerklich verliessen; sie hat später gefühlt, wie sie sich plötzlich erneuerten. Dieser schroffe Uebergang von gänzlicher Unthätigkeit zur Ausübung aller ihrer Kräfte fällt ihr auf, überrascht sie und erscheint ihr deshalb wie ein zweites Leben. Es genügt also der Gegensatz zwischen dem Augenblicke der Schwäche, der dem Schlafe unmittelbar vorherging, und dem Augenblicke der Kraft, wo sie erwachte damit es ihr vorkomme, als hätte sie aufgehört zu sein. Hätte sie den Gebrauch ihrer Fähigkeiten durch unmerkliche Zwischenstufen wiedererlangt, so hätte sie nichts dergleichen bemerken können.

6. Sie vergegenwärtigt sich jedoch nicht, was der Zustand, aus dem sie beim Erwachen hervorgeht, sein mag, urtheilt nicht darüber, wie lange er gedauert habe, ja sie weiss nicht, ob er gedauert hat. Denn es kann sie nichts auf den Gedanken bringen, dass es in ihr und ausser ihr irgend welche Aufeinanderfolge gegeben habe. Sie hat also keinen Begriff von dem Zustand des Schlafes, und unterscheidet den wachen Zustand von ihm nur durch den Anstoss, den ihr alle ihre Fähigkeiten in dem Augenblicke geben, wo sie die Kräfte wieder erhält.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 123-125.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.