XI. Von dem Gedächtniss, der Einbildungskraft und den Träumen in einem auf den Tastsinn beschränkten Menschen.

[125] 1. Die Empfindungen, die durch das Getast zu Stande kommen, sind zwiefacher Art: die einen sind Ausdehnung, Gestalt, Raum, Festigkeit, Flüssigkeit, Härte, Weichheit, Bewegung, Ruhe, die andern Wärme und Kälte und verschiedenerlei Lust- und Schmerzgefühle. Die Verhältnisse dieser letztern sind ihrer natürlichen Beschaffenheit zufolge unbestimmt. Sie erhalten sich demnach nur dadurch im Gedächtniss, dass die Organe sie zu wiederholten Malen übermittelt haben. Die ersteren jedoch haben Verhältnisse, die sich mit grösserer Genauigkeit erkennen lassen. Unsere Statue misst den Umfang der Körper mit ihren[125] Händen, misst den Raum, indem sie sich von einem Ort an den andern versetzt, bestimmt die Gestalten, indem sie ihre Seiten zählt und ihren Umriss verfolgt, beurtheilt die Festigkeit oder Flüssigkeit, die Härte und Weichheit nach dem Widerstande, erkennt endlich eine merkbare Verschiedenheit zwischen Bewegung und Ruhe, wenn sie Acht giebt, ob ein Körper in Bezug auf andere seine Lage ändert oder nicht. Das sind also die Vorstellungen, die sich unter allen am stärksten und leichtesten in ihrem Gedächtniss verknüpfen.

2. Einerseits hat sie sich gewöhnt, alle ihre Empfindungen auf die Ausdehnung zu beziehen, weil sie dieselben als die Eigenschaften der berührten Objekte ansieht. Alle ihre Vorstellungen sind nur warme oder kalte, feste oder flüssige etc. Ausdehnung. Dadurch sind diejenigen, deren Verhältnisse am unbestimmtesten sind, wie diejenigen, deren Verhältnisse sich am besten bestimmen lassen, alle mit einer und derselben Vorstellung verknüpft. Kurz, alle ihre Empfindungen sind für sie nur nähere Bestimmungen der Ausdehnung.

3. Andererseits ist die Empfindung der Ausdehnung so beschaffen, dass unsere Statue sie nur in einem tiefen Schlafe verlieren kann. Wenn sie erwacht ist, fühlt sie immer, dass sie ausgedehnt ist; denn sie fühlt alle ihre Körpertheile, die auf dem Orte, wo sie ruhen, lasten und ihn messen. So lange sie wach ist, kann sie also mit dem Tastsinn nicht wie mit den andern Sinnen von jeder Art Empfindung gänzlich frei sein. Es bleibt ihr immer eine, mit der alle andern verknüpft sind, und die ich deswegen als die Grundlage aller Vorstellungen, von denen ich Erinnerung bewahre, ansehe. Alles deutet also darauf hin, dass die Erinnerung an Vorstellungen, welche durch das Getast zu Stande kommen, stärker sein und viel länger dauern muss, als die Erinnerung an Vorstellungen, die durch die andern Sinne zu Stande kommen.

4. Die Vorstellungen können sich mit grösserer oder geringerer Lebhaftigkeit auffrischen. Wenn sie nur schwach erweckt werden, so erinnert sich die Statue bloss, dass sie dieses oder jenes Ding berührt hat; erwachen sie dagegen mit Sachdruck, so erinnert sie sich der Dinge so, als wenn sie sie noch berührte. Dieses lebhafte Gedächtniss[126] nun, welches das Abwesende als gegenwärtig erscheinen lässt, habe ich Einbildungskraft genannt.

5. Wenn wir dieser Kraft die Reflexion, oder diejenige Thätigkeit, welche die Vorstellungen zusammenbringt, zugesellen, so werden wir sehen, wie die Statue sich an dem einen Ding die Eigenschaften, welche sie an dem andern bemerkt hat, vorstellen kann. Nehmen wir an sie wünsche mehrere Eigenschaften auf einmal zu geniessen, die sie noch nicht beisammen angetroffen hat, so wird sie sich dieselben vereinigt denken und ihre Einbildungskraft wird ihr einen Genuss verschaffen, den sie durch das Getast nicht würde erlangen können.

6. Das ist die weiteste Bedeutung, die man dem Worte Einbildungskraft gilbt, wenn man es nämlich als den Namen einer Kraft ansieht, welche die Eigenschaften der Dinge zusammenstellt, um Ganze daraus zu bilden, für welche die Natur keine Muster bietet. Dadurch verschafft sie Genüsse, die in gewissen Beziehungen die Wirklichkeit selbst übertreffen; denn sie ermangelt nicht, an den Objekten, die man durch sie geniesst, alle Eigenschaften vorauszusetzen, die man an ihnen zu finden wünscht.

7. Aber der Genuss durch den Tastsinn kann sich mit dem durch die Einbildungskraft erzeugten vereinigen, und das werden alsdann für die Statue die grössten Lustgefühle sein, von denen sie Kunde bekommen kann. Wenn sie ein Ding berührt, so hindert nichts, dass die Einbildungskraft es ihr zuweilen mit angenehmen Eigenschaften vorstelle, die es nicht hat, und die verschwinden lasse, deretwegen es ihr missfallen könnte. Es genügt dazu ein lebhaftes Begehren, jene an ihm anzutreffen und diese nicht daran zu finden.

8. Die Einbildungskraft kann ihr so viele Reize von Seiten der Objekte nicht bieten, ohne dass sie oft ein Vergnügen daran fände, sich zu bewegen, selbst dann, wenn ihre ermüdeten Glieder anfangen, ihren Wünschen, den Dienst, zu versagen. Ja, sie stellt ihr dieses Vergnügen oft so lebhaft wieder vor, dass sie die Müdigkeit der Organe vergisst. Nur infolge eines Uebermaasses von Ermüdung kann sie alsdann an der Ruhe Gefallen finden Ein Zustand der Unlust und des Schmerzes wird die Frucht eines Begehrens sein, dem sie[127] sich mit zu wenig Mässigung überlassen hat, und wenn sie das öfters erprobt hat, so wird sie lernen, den Reizen der Lust zu misstrauen und wird ihre Kräfte sorgsamer zu Rathe ziehen.

9. Zwischen Wachen und tiefem Schlaf können wir zwei Mittelzustände unterscheiden, einen, wo das Gedächtniss die Vorstellungen nur sehr schwach, und einen andern, wo die Einbildungskraft sie so lebhaft zurückruft und so deutliche Kombinationen mit ihnen vornimmt, dass man die Dinge, die man sich nur einbildet, zu berühren glaubt.

Wenn die Statue an einem Orte eingeschlafen ist, an dem sie, wie sie weiss, ohne Gefahr sich bewegen kann, so kann sie sich einbilden, er sei mit Dornen, mit Kieseln besäet, sie gehe und zerreisse sich bei jedem Schritte, falle, stosse sich und empfinde Schmerz. Obgleich über diese Verwandlung erstaunt, kann sie doch an ihr nicht zweifeln, und ihr Zustand ist für sie der nämliche, als wenn sie wach und der Ort wirklich so beschaffen wäre, wie er ihr erscheint.

10. Um die Ursache dieses Traumes zu erforschen, braucht man nur zu bedenken, dass sie vor dem Schlafe die Vorstellungen von einem Orte hatte, wo sie ohne Furcht auf- und abgehen konnte, ferner die von Dornen, Kieseln, Zerreissen, Fall, Schmerz, endlich die von einem Orte, wo sie das Alles erfahren hatte. Was geschieht nun im Schlafe? Diese letztere Vorstellung wird gar nicht, wach. Die von den Dornen, Kieseln, vom Zerreissen, Fall, Schmerz und von dem Orte, wo sie nichts derartiges kennen gelernt, erneuern sich mit derselben Lebhaftigkeit, als wenn die Objekte gegenwärtig wären, und da sie sich vereinigen, muss die Statue glauben, dieser Ort sei so geworden, wie ihn ihre Einbildungskraft ihr darstellt. Hätte sie sich desjenigen Ortes erinnert, wo sie sich zerrissen hat, wo sie gefallen ist, so würde sie nicht in diesen Irrthum gerathen sein. Nur dadurch also bilden sich in den Träumen so bizarre und wahrheitswidrige Verbindungen, dass die Vorstellungen, welche die Ordnung wiederherstellen würden, dazwischen fehlen.

Es ist nicht zu verwundern, dass sich die Vorstellungen alsdann in einer Unordnung wieder erzeugen, welche die fremdartigsten an einander bringt und vereinigt. Wie der[128] Schlaf Ruhe des Körpers ist, so auch des Gedächtnisses, der Einbildungskraft und aller Seelenkräfte, und diese Ruhe hat verschiedene Grade. Sind diese Kräfte gänzlich eingeschläfert, so ist der Schlaf tief; sind sie es nur bis zu einem gewissen Punkte, so sind Gedächtniss und Einbildungskraft zwar wach genug, um gewisse Vorstellungen, aber doch nicht wach genug, um andere zurückzurufen; von da an bilden die, welche auftreten, die unnatürlichsten Zusammensetzungen.

11. Ich gebe der Statue mitten in ihrem Traume einen Schlag und entreisse sie dem Schlafe. Ihr erstes Gefühl ist Furcht; indem sie sich kaum zu bewegen wagt, streckt sie voll Misstrauen ihre Arme aus und, ganz erstaunt, die Dinge, von denen sie Wunden zu erhalten glaubte, nicht vorzufinden, erhebt sie sich und wagt zu gehen. Nach und nach wird sie sicherer; sie weiss nicht, täuscht sie sich jetzt oder hat sie sich im Augenblicke vorher getäuscht. Ihre Zuversicht wächst, und sie vergisst den Zustand, worin sie sich im Traum befunden hat, um einzig den zu geniessen, in dem sie beim Erwachen ist.

12. Jedoch der Schlaf wird ihr abermals nothwendig. Sie überlässt sich ihm, hat neue Träume, und beim Erwachen folgt auf sie das nämliche Erstaunen.

Diese Vorspiegelungen müssen ihr in der That sehr befremdlich erscheinen. Sie kann nicht auf den Gedanken kommen, dass sie sich während der Zeit, als sie schlief, ihr darboten, da sie keine Vorstellung von der Dauer ihres Schlafes hat. Sie zweifelt im Gegentheil nicht daran, dass sie wach gewesen sei; denn wach sein ist für sie so viel wie berühren und über das, was sie berührt, nachdenken. Ihre Träume erscheinen ihr also nicht als Träume, und sie muss dadurch nur noch mehr beunruhigt werden. Sie begreift nicht, warum sie über die nämlichen Dinge so verschiedene Urtheile fällt, weiss nicht, wo der Irrthum liegt und schwankt zwischen dem Misstrauen, das ihre Träume ihr beibringen, und der Zuversicht, die ihr der wache Zustand giebt, hin und her.

13. Es ist nicht möglich, dass sie sich aller Vorstellungen, die sie wachend gehabt hat, erinnere,[129] eben so muss es mit denen sein, die sie im Schlafe gehabt hat.

In Bezug auf die Ursache, durch die sie an manche ihrer Träume erinnert wird, hege ich folgende Vermuthungen.

War ihr Eindruck lebhaft und haben sie die Vorstellungen in einer Unordnung dargestellt, die in auffälliger Weise den Urtheilen vor der Zeit ihres Einschlafens widerspricht, so verknüpft in diesem Falle ihr Erstaunen diese Vorstellungen mit der Reihe ihrer Kenntnisse. Beim Erwachen treibt sie dasselbe Erstaunen, das noch fortdauert, dazu an, sich ihrer Einzelheiten zu erinnern, und sie erinnert sich derselben. Dagegen wird sie keine Erinnerung von ihnen haben, wenn die Zeit zwischen Traum und Wachen so lang und von einem so tiefen Schlafe ausgefüllt gewesen ist, dass der Eindruck des Erstaunens, in welchem sie sich befunden, ganz verwischt wird. Bleibt endlich nur wenig Verwunderung in ihr zurück, so wird sie bisweilen sich auf ihren Traum nur theilweise besinnen, bisweilen auch sich nur erinnern, sehr ungewöhnliche Vorstellungen gehabt zu haben.

Ihre Träume prägen sich also ihrem Gedächtnisse nur deshalb ein, weil sie sich mit gewohnheitsmässigen Urtheilen verknüpfen, denen sie widersprechen, und sich auf sie zu besinnen, dazu nöthigt sie die Verwunderung, in der sie sich noch bei ihrem Erwachen befindet.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 125-130.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.

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