I. Vom Tastsinn mit dem Geruchsinn.

[134] 1. Wir wollen den Geruch dem Tastsinn zugesellen und, indem wir unserer Statue die Erinnerung an die Urtheile wiedergeben, die sie gefällt hat, als sie auf den ersten dieser Sinne beschränkt war, sie auf ein mit Blumen besätes Beet führen; alle ihre Gewöhnungen erneuern sich, und sie hält sich für alle die Gerüche, die sie empfindet.

2. In ihrem Erstaunen, sich als das wiederzufinden, was sie seit so langer Zeit zu sein aufgehört hat, kann sie die Ursache davon noch nicht muthmaassen. Sie weiss nicht, dass sie so eben ein neues Organ empfangen, und wenn das Getast sie gelehrt hat, dass es greifbare Dinge giebt, so lehrt es sie noch nicht, dass eines von ihnen die Ursache der Geruchsempfindungen ist, die wir ihr eben gegeben haben. Sie urtheilt im Gegentheil über sie nach ihrer ehemaligen Gewöhnung, sie als Daseinsweigen anzusehen, die sie nur sich selbst verdankt. Es erscheint ihr ganz natürlich, dass sie bald der eine Duft, bald ein anderer ist; sie denkt nicht daran, dass die Körper dazu mitwirken konnten; sie kennt nur die Eigenschaften an ihnen, die sie durch das Getast allein entdeckt.

3. So ist sie zwei ganz verschiedene Wesen zugleich, eins, das sie nicht greifen kann und das ihr jeden Augenblick[134] zu entwischen scheint, und ein anderes, das sie berührt und das sie immer wiederfinden kann.

4. Indem sie ihre Hand aufs Gerathewohl nach den Dingen ausstreckt, die sie antrifft, so ergreift sie eine Blume die ihr in den Fingern bleibt. Ihr absichtslos bewegter Arm bringt sie bald näher ans Gesicht, bald weiter davon; sie fühlt sich mit mehr oder weniger Lebhaftigkeit in einer bestimmten Art und Weise.

Voll Erstaunen wiederholt sie dieses Experiment absichtlich, nimmt jene Blume mehrere Male und thut sie wieder weg, bestärkt sich in dem Glauben, dass sie, je nachdem sie diese näher oder ferner hält, auf eine gewisse Weise ist oder zu sein aufhört, und beginnt endlich zu muthmaassen, dass sie ihr das Gefühl verdankt, das sie anwandelt.

5. Sie richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf dieses Gefühl, beobachtet, mit welcher Lebhaftigkeit es zunimmt, verfolgt seine Abstufungen, vergleicht sie mit den verschiedenen Punkten des Abstandes, in dem die Blume von ihrem Gesichte ist, und weil das Geruchsorgan mehr erregt war, da es von dem duftenden Körper berührt wurde, so entdeckt sie an sich einen neuen Sinn.

6. Sie nimmt diese Versuche wieder vor, nähert die Blume diesem neuen Organe, entfernt sie davon, bringt die gegenwärtige Blume mit dem erzeugten Gefühle, die abwesende mit dem erloschenen in Verbindung, bestärkt sich darin, dass es ihr von der Blume zukommt, und urtheilt, dass es an dieser sei.

7. Durch häufige Wiederholung dieses Urtheils eignet sie sich darin eine so grosse Fertigkeit an, dass sie es im selben Zeitpunkte fällt, wo sie riecht. Von nun an fliesst es so sehr mit der Empfindung zusammen, dass sie beide nicht unterscheiden kann. Sie urtheilt nicht mehr bloss, dass der Duft an der Blume sei, sondern sie riecht ihn an ihr.

8. Sie eignet sich eine Fertigkeit darin an, dieselben Urtheile auf Veranlassung aller Dinge zu fällen, die ihr Gefühle dieser Art erregen, und die Düfte sind nicht mehr ihre eigenen Modifikationen (Anwandlungen): es sind Eindrucke, welche die duftenden Körper auf das Geruchsorgan machen, oder vielmehr die Eigenschaften dieser Körper selbst.[135]

9. Nicht ohne Verwunderung sieht sie sich genöthigt, Urtheile zu fällen, die von den ihr vorher so selbstverständlich erschienenen so verschieden sind, und erst nach oft wiederholten Versuchen vernichtet der Tastsinn die mit dem Geruchsinn angenommenen Gewohnheiten. Es wird ihr ebenso schwer die Düfte zu den Eigenschaften der Dinge zu rechnen, als uns, sie als Anwandlungen von uns selbst anzusehen.

10. Ist sie aber schliesslich mit diesen Arten der Urtheile allmählich vertraut geworden, so unterscheidet sie die Körper, denen nach ihrem Urtheil die Gerüche angehören, von denen, welchen sie nach ihrem Urtheile nicht angehören. So entdeckt sie durch den mit dem Tastsinn vereinigten Geruch eine neue Klasse greifbarer Dinge.

11. Wenn sie späterhin denselben Duft an mehreren Blumen bemerkt, so betrachtet sie ihn nicht mehr als Einzelvorstellung, sondern als eine mehreren Körpern gemeinsame Eigenschaft. Folglich unterscheidet sie eben so viele Klassen duftender Körper, als sie verschiedene Düfte entdeckt, und bildet sich eine grössere Menge abstrakter oder allgemeiner Begriffe, als während sie auf den Geruchsinn beschränkt war.

12. Voll Verlangen, diese neuen Vorstellungen mehr und mehr zu erforschen, riecht sie die Blumen bald einzeln, bald mehrere zusammen. Sie beachtet die Empfindung, die sie gesondert, und die sie nach ihrer Vereinigung bewirken, unterscheidet an einem Blumenstrauss mehrere Düfte, und ihr Geruchsinn erlangt eine Unterscheidungsgabe, die er ohne Beihülfe des Getastes nicht bekommen haben würde.

Allein diese Unterscheidungsgabe wird ihre Grenzen haben, wenn ihr die Düfte aus einer gewissen Entfernung zukommen, wenn ihre Zahl gross, und besonders, wenn ihre Mischung so beschaffen ist, dass keine hervorstechen; dann fliessen sie zusammen in dem Eindruck, den sie mit einander machen, und es wird ihr unmöglich sein einen herauszuerkennen. Jedoch ist die Vermuthung gestattet, dass ihre Unterscheidungsgabe in dieser Hinsicht weiter reichen werde als unsere: denn da die Düfte für sie mehr Reiz als für uns haben, die wir zwischen alle Genüsse der anderen Sinne getheilt sind, so wird sie sich mehr darin üben, ihre Unterschiede herauszufinden.[136]

Diese beiden Sinne bringen also durch die Thätigkeit, die sie sich wechselseitig verschaffen, vereinigt Erkenntnisse und Lustgefühle hervor, die sie gesondert nicht geben würden.

13. Um deutlich wahrzunehmen, wie die Urtheile sich von den Empfindungen unterscheiden oder mit ihnen zusammenfliessen, wollen wir Körper, deren wenig zusammengesetzte Gestalt unserer Statue vertraut sein mag, parfümiren und sie ihr im ersten Augenblick, wo wir ihr den Geruchsinn geben, darreichen. Ein gewisser Duft sei z.B. immer an einem Dreieck, ein anderer an einem Viereck, so wird sich jeder mit der Figur verknüpfen, die ihm eigenthümlich ist, und von nun an wird die Statue von dem einen oder andern nicht mehr erregt werden können, ohne sich sofort ein Dreieck oder Viereck vorzustellen; sie wird in einem Dufte eine Figur zu riechen und in einer Figur einen Duft zu berühren glauben.

Sie bemerkt, dass, wenn es auch Figuren giebt, die keinen Geruch haben, es keinen Geruch giebt, der nicht beständig mit einer gewissen Figur aufträte, und so wird sie dem Geruchsinn Vorstellungen zuschreiben, die nur dem Tastsinn angehören. Will man weiterhin alle ihre Begriffe umstürzen, so braucht man nur Körper von gleicher Gestalt mit verschiedenen Gerüchen und Körper von verschiedener Gestalt mit dem gleichen Geruche zu parfümiren.

14. Das Urtheil, welches mit einem Geruche eine dreieckige Gestalt verknüpft, kann sich, so oft sich Gelegenheit dazu bietet, rasch wiederholen, weil es nur Vorstellungen, die wenig zusammengesetzt sind, zum Gegenstande hat. Daher ist es geeignet, mit der Empfindung zusammenzufliessen. Wäre aber die Figur verwickelt, so würde eine grössere Zahl Urtheile nöthig sein, sie mit dem Geruch zu verknüpfen. Die Statue würde sie sich nicht mit derselben Leichtigkeit vorstellen, würde nicht mehr denken, dass Figur und Geruch von ihr durch einen und denselben Sinn erkannt werden.

Wenn sie z.B. eine Rose durch Befühlen untersucht, so verknüpft sie den Geruch mit der Gesammtheit der Blätter, mit deren Gefüge und mit allen Eigenschaften, woran das Getast sie von den anderen ihm bekannten Blumen unterscheidet. Dadurch macht sie sich von ihr[137] einen vielfach verschlungenen Begriff, der eben so viele Urtheile voraussetzt, als sie an ihr Eigenschaften bemerkt, die geeignet sind sie wiedererkennen zu lassen. Zwar wird sie zuweilen beim ersten Eindruck, den sie empfindet, wenn sie die Hand an sie bringt, über sie urtheilen. Allein sie wird dabei so oft irren, dass sie bald gewahrt, zur Vermeidung alles Irrthums müsse sie sich an die deutlichste Vorstellung, die ihr das Getagt von derselben gegeben hat, erinnern und bei sich sagen: die Rose ist verschieden von der Nelke, weil sie so oder so geformt, so oder so gefugt ist etc. Ist nun die Zahl dieser Urtheile gross, so ist es ihr nicht mehr möglich, in dem Augenblick, wo sie jene Blume riecht, sie alle zu wiederholen. Anstatt also die tastbaren Eigenschaften an dem Dufte zu spüren, wird sie gewahr, dass sie sich nach und nach an sie erinnert und verfällt nicht mehr in den Irrthum, dem Geruchsinn Vorstellungen beizulegen, die sie nur dem Tastsinn verdankt.

Ihre Irrthümer sind sehr auffällig, wenn sie auf Veranlassung der Düfte, ohne es zu bemerken, Urtheile wiederholt, die ihr zur Gewohnheit geworden sind. Weit weniger werden sie es dann sein, wenn wir ihr den Sinn des Gesichts geben.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 134-138.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
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