IV. Warum man geneigt ist, dem Gesichtsinn Vorstellungen zuzuschreiben, die man allein dem Tastsinn verdankt. Durch welche Reihe von Betrachtungen es gelungen, dieses Vorurtheil zu zerstören.

[160] 1. Es ist uns so zur Natur geworden, Grössen, Gestalten, Entfernungen und Lagen mit dem Auge zu beurtheilen, dass man vielleicht immer noch viele Mühe haben wird, sich einzureden, es sei das nur eine der Erfahrung zu dankende Gewöhnung. Alle diese Vorstellungen scheinen mit den Farbenempfindungen so innig verknüpft zu sein, dass man sich nicht denken kann, sie seien jemals von ihnen getrennt gewesen. Das ist wohl der einzige Umstand, der in dem Vorurtheil erhalten kann. Aber um es gänzlich zu zerstören, braucht man nur von ähnlichen Annahmen, wie wir oben, auszugehen.

2. Unsere Statue würde unfehlbar glauben, Gerüche und Töne kämen ihr durch die Augen zu, wenn wir ihr Gesicht, Gehör und Geruch zusammen geben und annehmen wollten, diese drei Sinne würden immer so miteinander geübt, dass sie bei jeder Farbe, die sie sieht, einen bestimmten Duft riecht und einen bestimmten Ton hört und dass sie aufhört, zu riechen und zu hören, wenn sie nichts sieht.

Darum also, weil die Gerüche und Töne sich mittheilen, ohne sich mit den Farben zu vermischen, findet sie so gut heraus, was dem Gehör und dem Geruche gehört. Allein da der Gesicht- und der Tastsinn gleichzeitig thätig sind, der eine, um uns von Licht und Farbe, der andere, um uns von Grösse, Gestalt, Entfernung und Lage Vorstellungen zu geben, so unterscheiden wir nur schwer, was jedem dieser Sinne zugehört und legen einem allein bei, was wir unter sie theilen müssten. So bereichert sich das Gesicht auf Kosten des Tastsinnes, weil es nur mit diesem oder nur in Folge der von ihm empfangenen Unterweisungen thätig ist und seine Empfindungen darum mit den Vorstellungen, die es ihm verdankt, sich mischen. Das Tastgefühl hingegen ist oft[161] allein thätig und macht es uns unmöglich, zu denken, dass Licht- und Farbenempfindungen ihm zugehören. Wenn jedoch die Statue immer nur die Körper sähe, welche sie berührt, und immer nur die berührte, welche sie sieht, so würde sie nicht einmal auf die Vermuthung kommen, dass sie Angen hat. Ihre Hände würden ihr Alles zugleich zu sehen und zu berühren scheinen.

Es sind also Gewohnheitsurtheile, welche bewirken, dass wir Vorstellungen, die wir nur dem Getast verdanken, dem Gesichtsinn zuschreiben.

3. Es ist meines Erachtens wünschenswerth, dass man, wenn eine Entdeckung gemacht worden, die ersten Muthmaassungen der Philosophen und besonders die Erwägungen derer kennen lernt, die auf dem Punkte standen, das Wahre zu treffen.

Malebranche ist wohl der Erste, der gesagt hat, dass sich Urtheile in unsere Empfindungen einmischen. Sehr viele Leser, bemerkt er, würden über diese Ansicht betroffen sein. Aber sie werden es besonders dann sein, wenn sie die Erläuterungen lesen, die dieser Philosoph dazu giebt; denn er vermeidet ein Vorurtheil nur, um in einen Irrthum zu verfallen. Da er nicht zu begreifen vermag, wie wir diese Urtheile selber bilden könnten, so schreibt er sie Gott zu, eine sehr bequeme Art zu philosophiren, und fast immer die letzte Zuflucht der Philosophen.

»Ich glaube darauf hinweisen zu müssen,« sagt er, »dass es keineswegs unsere Seele ist, welche die Urtheile über die Entfernung, Grösse etc. der Dinge bildet,.... sondern dass es Gott zufolge der Gesetze der Vereinigung von Seele und Leib thut. Aus diesem Grunde habe ich derartige Urtheile natürliche genannt, um anzudeuten, dass sie in uns, ohne uns und wider unsern Willen zu Stande kommen.... Gott allein kann uns in einem Augenblick von der Grösse, Gestalt, Bewegung und den Farben der uns umgebenden Dinge unterrichten.«

Er setzt in einer Erläuterung zur Optik noch weiter auseinander, wie er es sich denkt, dass Gott diese Urtheile für uns bilde.

[162] Locke war nicht der Mann, dergleichen Systeme aufzustellen. Er erkennt an, dass wir konvexe Figuren nur vermöge eines Urtheils sehen, welches wir selbst bilden und in dem wir uns eine Fertigkeit angeeignet haben. Allein der Grund, den er dafür angiebt, ist nicht befriedigend.

»Da wir uns,« sagt er, »im täglichen Leben daran gewöhnt haben, zu unterscheiden, welcherlei Bilder die konvexen Körper für gewöhnlich in uns erzeugen, und welche Aenderungen in der Zurückstrahlung des Lichtes je nach der Verschiedenheit der fühlbaren Gestalt der Körper eintreten, so setzen wir alsbald an die Stelle dessen, was uns erscheint, gleich die Ursache des Bildes, das wir sehen, und zwar vermöge eines Urtheils, welches uns durch Gewohnheit geläufig geworden. Daher bilden wir uns, indem wir mit dem Sehen ein Urtheil verbinden und mit ihm zusammenfliessen lassen, die Vorstellung einer konvexen Figur.....«

Kann man annehmen, dass die Menschen die Bilder kennen, welche die konvexen Körper in ihnen erzeugen, und die Aenderungen, die in der Zurückwerfung des Lichts je nach der Verschiedenheit der fühlbaren Gestalten der Körper eintreten?

Molineux scheint bei seiner Aufstellung eines Problems, das Veranlassung gegeben hat, Alles ans Licht zu ziehen, was das Gesicht betrifft, das Wahre doch nur zum Theil getroffen zu haben.

»Man denke sich,« lässt ihn Locke sagen, »einen bereits erwachsenen Blindgebornen, den man gelehrt hat eine. Kugel und einen Würfel von einerlei Metall und ungefähr der nämlichen Grösse durch die Berührung zu unterscheiden.... Es ist fraglich, ob er sie, wenn er sie sieht, wird unterscheiden können.«

Die Bedingungen, dass diese zwei Körper von einerlei Metall und gleicher Grösse seien, sind überflüssig, und die letztere scheint vorauszusetzen, dass das Gesicht ohne[163] Hülfe des Tastgefühls verschiedene Grössenvorstellungen geben kann. Ist das so, dann sieht man nicht ein, warum Locke und Molineux leugnen, dass es die Figuren ganz allein erkennen könne.

Zudem hätten sie dasselbe wie bei den Figuren auch in Betreff der Entfernungen, Lagen und Grössen folgern und schliessen sollen, dass ein Blindgeborner in dem Augenblick, wo er die Augen dem Licht öffnet, über nichts von dem Allen urtheilt. Denn das findet sich Alles im Kleinen in der Wahrnehmung der verschiedenen Theile einer Kugel und eines Würfels. Man widerspricht sich, wenn man annimmt, dass ein Auge, welches Lagen, Grössen und Entfernungen erkennt, die Figuren nicht zu erkennen vermöge. Dr. Barklai hat zuerst den Gedanken[164] gehabt, das Gesicht könne für sich allein über nichts von dem Allen urtheilen.

Eine andere Folgerung, die Locken nicht hätte entgehen sollen, ist die, dass Augen ohne Erfahrung Licht und Farben nur in sich sehen würden, und dass allein das Getast sie lehren kann nach aussen zu sehen.

Endlich hätte Locke beachten sollen, dass sich Urtheile mit allen unseren Empfindungen vermengen, durch welches Organ sie auch der Seele übermittelt werden mögen. Aber er sagt gerade das Gegentheil.

Alles das beweist, dass viel Zeit, viele Missgriffe und viele Halbwahrheiten erforderlich sind, ehe man zur Wahrheit gelangt. Oft ist man ihr ganz nahe und kann sie doch nicht greifen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 160-165.
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