VII. Von der Vorstellung, welche das mit dem Tastsinn verbundene Gesicht von der Dauer gewährt.

[173] 1. Wenn unsere Statue zum ersten Male das Licht geniesst, so weiss sie noch nicht, dass die Sonne der Grund davon ist. Um so zu urtheilen, müsste sie bemerkt haben, dass das Tageslicht fast zugleich mit dem Verschwinden dieses Gestirnes aufhört. Dieses Ereigniss nimmt sie, wenn es das erste Mal eintritt, jedenfalls sehr Wunder. Sie glaubt die Sonne für immer verloren. Von dichter Finsterniss umgeben, befürchtet sie, dass alle Dinge welche von ihr erleuchtet wurden, mit ihr verloren seien sie wagt sich kaum von der Stelle; die Erde, meint sie, werde unter ihren Tritten schwinden. Allein in dem Augenblicke, wo sie sich bemüht, sie durch Tasten zu erforschen, wird der Himmel hell, der Mond verbreitet sein Licht, eine Menge Sterne glänzen am Firmamente. Heber dieses Schauspiel betroffen, weiss sie nicht, ob sie ihren Augen trauen soll.[173]

Bald ladet sie das Schweigen der ganzen Natur zum Schlummer ein. Eine wonnige Ruhe setzt ihre Sinne ausser Thätigkeit; ihr Augenlid wird schwer; ihre Vorstellungen schwinden, vergehen: sie schläft ein.

Wie gross ist ihre Ueberraschung, wenn sie beim Erwachen das Gestirn, das sie für immer erloschen glaubte, wiederfindet. Sie zweifelt daran, dass es verschwunden gewesen sei, und weiss nicht, was sie von dem Schauspiel, das darauf folgte, denken soll.

2. Diese Umläufe sind jedoch so häufig, dass sie ihre Zweifel endlich zerstreuen müssen. Sie urtheilt, die Sonne werde wieder erscheinen und verschwinden, weil sie bemerkt hat, dass sie mehrmals erschienen und verschwunden ist, und fällt dieses Urtheil mit um so grösserer Zuversicht, weil es durch die Ereignisse immer bestätigt worden ist. Die Aufeinanderfolge von Tagen und Nächten wird für sie also etwas ganz Selbstverständliches. Somit beruhen ihre Vorstellungen von »Möglichkeit« bei der Unwissenheit, in der sie sich befindet, nur auf Gewohnheitsurtheilen. Das ist von uns bereits früher beobachtet worden und muss sie unfehlbar zu vielen Irrthümern verleiten. Etwas z.B., das heute unmöglich ist, weil das Zusammenwirken der Ursachen, die es allein herbeiführen können, nicht stattfindet, wird ihr möglich erscheinen, weil es gestern eingetreten ist.

3. Die Umläufe der Sonne ziehen ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr auf sich. Sie beobachtet sie, wenn sie aufgeht, wenn sie untergeht, folgt ihr auf ihrem Laufe, und erkennt an der Aufeinanderfolge ihrer Vorstellungen, dass ein Zeitraum zwischen dem Auf- und Untergange dieses Gestirnes und wieder zwischen seinem Unter- und seinem Aufgange vergeht.

Somit wird die Sonne in ihrem Laufe für sie das Zeitmaass und bezeichnet die Dauer aller Zustände, die sie erlebt. Vorher mochte eine und die andere Vorstellung, eine und dieselbe Empfindung, die sich nie änderte, noch so lange währen: für sie war es nur ein untheilbarer Zeitpunkt, und welche Ungleichheit auch zwischen den Zeitpunkten ihrer Dauer sein mochte, ihr waren sie alle gleich; sie bildeten eine Aufeinanderfolge, an der sie weder Langsamkeit noch Schnelligkeit bemerken konnte. Aber jetzt, wo sie ihre eigne Dauer nach dem Raum beurtheilt,[174] den die Sonne durchlaufen hat, erscheint sie ihr langsamer oder geschwinder. Somit beurtheilt sie, nachdem sie erst die Sonnenumläufe nach ihrer Dauer beurtheilt hat, nun ihre Dauer nach den Sonnenumläufen, und dieses Urtheil wird ihr so zur Natur, dass sie nicht mehr auf den Gedanken kommt, die Dauer werde ihr nur durch die Aufeinanderfolge ihrer Vorstellungen bekannt.

4. Je mehr sie die Ereignisse, von denen sie Erinnerung behält, und die, welche sie vorauszusehen gewöhnt ist, auf die verschiedenen Umläufe der Sonne bezieht, desto besser wird sie ihre ganze Folge auffassen. Sie wird also besser in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen.

Nähme man uns alle Zeitmaasse, hätten wir keine Vorstellung mehr von Jahr, Monat, Tag, Stunde, vergässen wir sogar deren Namen: sicherlich würde alsdann die Dauer, da wir allein auf die Reihenfolge unserer Vorstellungen angewiesen wären, sich uns sehr undeutlich darstellen. Jenen Zeitmaassen also verdanken wir die deutlichsten Vorstellungen von ihr.

Beim Studium der Geschichte z.B. vergegenwärtigt die Reihenfolge der Thatsachen die Zeitdauer nur undeutlich; die Eintheilung der Dauer in Jahrhunderte, Jahre, Monate giebt eine deutlichere Vorstellung von ihr; die Verknüpfung endlich eines jeden Ereignisses mit seinem Jahrhundert, seinem Jahre, seinem Monat befähigt uns, sie nach der Reihe zu überblicken. Bei diesem Hülfsmittel kommt es besonders darauf an, dass man sich Epochen macht; auch unsere Statue kann das begreiflicher Weise. Uebrigens ist es nicht nothwendig, dass die Umläufe von gleicher Dauer seien, um als Maass zu dienen; es genügt, dass die Statue es voraussetzt. Wir selbst urtheilen nicht an ders.

5. Dreierlei wirkt also zu den Urtheilen mit, die wir über die Dauer fällen: erstens die Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen, zweitens die Kenntniss der Sonnenumläufe, endlich die Verknüpfung der Ereignisse mit diesen Umläufen.

6. Darum kommen dem gemeinen Mann die Tage so lang und die Jahre so kurz, und nur einer kleinen Anzahl die Tage kurz und die Jahre lang vor.[175]

Die Statue möge einige Zeit in einem Zustande sein, dessen Einförmigkeit sie langweilt: so wird sie die Zeit, wo die Sonne über dem Horizonte ist, um so mehr bemerken, und jeder Tag wird ihr unerträglich lang erscheinen. Geht das ein Jahr lang so fort, so sieht sie, dass ihre Tage alle einander ähnlich gewesen, und da ihr Gedächtniss die Reihenfolge derselben nicht durch eine Menge Ereignisse kennzeichnet, so scheinen sie ihr mit erstaunlicher Schnelligkeit verflossen zu sein.

Wenn dagegen ihre Tage in einem Zustand verbracht würden, der ihr gefällt, und jeder einzelne der Gedenktag eines besonderen Ereignisses sein könnte, so würde sie die Zeit, wo die Sonne über dem Horizonte ist, kaum bemerken und dieselben überraschend kurz finden. Ein Jahr dagegen würde ihr lang vorkommen, weil sie sich's als die Aufeinanderfolge einer Menge von Tagen, die durch eine Reihe von Ereignissen gekennzeichnet sind, vergegenwärtigt.

Das ist der Grund, warum wir uns bei Unthätigkeit über die Langsamkeit der Tage und die Schnelligkeit der Jahre beklagen. Beschäftigung dagegen lässt alle Tage kurz und die Jahre lang erscheinen; die Tage darum kurz, weil wir nicht auf die Zeit achten, deren Maassstab die Sonnenumläufe abgeben; die Jahre darum lang, weil wir uns ihrer mittels einer Reihe von Dingen erinnern, die eine beträchtliche Dauer voraussetzen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 173-176.
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