VIII. Wie das dem Tastsinn beigesellte Gesicht Kunde von der Dauer des Schlafes giebt und den Traumzustand von dem wachen unterscheiden lehrt.

[176] 1. Wenn unsere Statue eingeschlafen ist, als die Sonne im Osten stand, und aufwacht, wenn sie im Westen niedergeht, so wird sie urtheilen, dass ihr Schlaf eine gewisse Dauer gehabt habe, und, wenn sie sich keines Traumes erinnert, glauben, sie habe fortbestanden, ohne zu denken. Es könnte das jedoch möglicher Weise ein Irrthum sein; denn vielleicht ist der Schlaf nicht tief genug[176] gewesen, um die Thätigkeit der Seelenkräfte gänzlich aufzuheben.

2. Wenn sie sich dagegen erinnert, Träume gehabt zu haben, so hat sie ein Mittel mehr, über die Dauer ihres Schlafes Gewissheit zu erlangen. Woran aber wird sie die Täuschung durch Träume erkennen? An der auffälligen Art und Weise, wie sie ihrem Wissen widersprechen, welches sie vor dem Einschlafen hatte, und in dem sie sich beim Erwachen bestärkt fühlt.

Gesetzt z.B., sie habe während des Schlafes ganz aussergewöhnliche Dinge zu sehen geglaubt, und in dem Augenblick, ehe er endet, wähne sie an Orten zu sein, wo sie noch nicht gewesen. Jedenfalls ist sie erstaunt, dass sie sich beim Erwachen nicht dort befindet, sondern vielmehr den Ort wiedererkennt, wo sie sich schlafen legte, dass sie die Augen öffnet, als wenn sie dem Lichte lange geschlossen gewesen wären, und dass sie endlich den Gebrauch ihrer Glieder wieder aufnimmt, als wenn sie eben noch in vollkommener Ruhe gewesen wäre. Noch weiss sie nicht, ob sie sich getäuscht hat, oder ob sie sich täuscht. Scheinbar hat sie eben so viel Grund zu glauben, sie sei an einen andern Ort versetzt, als sie sei an demselben geblieben. Allein schliesslich bemerkt sie, wenn sie häufig Träume gehabt hat, an ihnen eine Verwirrung, bei welcher ihre Vorstellungen immer im Widerspruch stehen mit dem wachen Zustand, der auf sie folgt, wie mit dem, der ihnen vorausgegangen, und sie schliesst daraus, dass es nur Vorspiegelungen sind; denn da sie gewöhnt ist, ihre Empfindungen nach aussen zu beziehen, so findet sie an ihnen nur dann Realität, wenn sie Dinge entdeckt, auf welche sie dieselben auch jetzt noch beziehen kann.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 176-177.
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