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Vierter Theil.

Von den Bedürfnissen, Fertigkeiten und Vorstellungen eines einsam lebenden Menschen, der im Besitze aller seiner Sinne ist

[184] Erinnert man sich, dass ich nachgewiesen habe, wie nothwendig die Zeichen sind, wenn man sich deutliche Vorstellungen jeder Art machen soll, so wird man zu der Ansicht hinneigen, dass ich bei der Statue oft mehr Kenntnisse voraussetze, als sie erwerben kann. Man muss jedoch, wie ich weiter oben gethan habe, theoretische und praktische Kenntnisse unterscheiden. Nun sind es aber die ersteren, für welche wir einer Sprache bedürfen, weil sie in einer Reihe deutlicher Vorstellungen bestehen, und weil folglich Zeichen nöthig waren, um sie gehörig einzutheilen und zu bestimmen.

Die praktischen Kenntnisse dagegen sind undeutliche Vorstellungen, die unsere Handlungen leiten, ohne dass wir zu bemerken im Stande sind, wie sie uns in Thätigkeit setzen, und zwar aus dem Grunde, weil sie vielmehr auf den Gewöhnungen, die eine Folge unserer Urtheile sind, beruhen, als auf unsern Urtheilen selbst. Denn wenn wir uns diese Gewöhnungen einmal angeeignet haben, so handeln wir, ohne die Urtheile beobachten zu können, die sie begleiten, und darum können wir uns von ihnen keine Rechenschaft geben. Obwohl wir alsdann ganz richtig verfahren, so geschieht es doch,[184] ohne dass wir wissen wie, unbewusst, und wir gehorchen einem Antrieb, einem Instinkt, den wir nicht kennen; denn die Worte Antrieb und Instinkt bedeuten im Grunde dasselbe.

Schon längst ist man gezwungen, es als wahr anzuerkennen, dass sich in den Gebrauch, den wir von unsern Sinnen machen, notwendiger Weise Urtheile einmischen. Wenn ich es also schlecht erklärt haben sollte, wie die Statue sich der ihrigen bedienen lernt, so würde es darum nicht minder wahr sein, dass sie Urtheile fällt. Diese Urtheile nun, die sie nicht bemerkt, sind der Instinkt, der sie leitet, – und das Gewohnheitsmässige bei ihren Handlungen, das sie sich diesen Urtheilen zufolge angeeignet hat, ist es, was ich unter praktischen Kenntnissen verstehe. Wenn ich, um diese Urtheile nachzuweisen, sie zu zerlegen genöthigt bin, so behaupte ich nicht, dass sie selbst sie zerlege. Sie kann es nicht, weil sie keine Sprache und darum kein Mittel hat, sie zu analysiren. Aber um sich Gewohnheiten anzueignen, braucht sie jene Urtheile nur zu fällen und hat nicht nöthig, auf sie zu achten. Glaubt man etwa, dass ein Kind erst dann zu urtheilen anfängt, wenn es anfängt zu sprechen? Es würde gewiss nicht das Bedürfniss fühlen, eine Sprache zu lernen, wenn es nicht das Bedürfniss fühlte, Urtheile auszusprechen. Es hat also bereits welche gefällt, wenn es anfängt zu sprechen, d.h. anfängt, seinen Gedanken mit Worten zu analysiren. Es sagt nur das, was es früher that, ohne es sagen zu können.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 184-185.
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