II. Vom Zustande eines sich selbst überlassenen Menschen, und wie die Unfälle, denen er ausgesetzt ist, zu seiner Belehrung beitragen.

[192] 1. Ist die Statue über die zu ihrer Ernährung geeigneten Dinge belehrt, so wird sie, je nach den Hindernissen, die sie zu überwinden hat, mehr oder weniger mit der Sorge für ihre Nahrung beschäftigt sein. Mithin können wir sie uns in einer Umgebung denken, wo sie, weil sie ganz in diesem Bedürfnisse aufgeht, keine andern Kenntnisse erwerben würde.

Wenn wir die Hindernisse vermindern, so wird sie alsbald auf die Lustgefühle, die sich jedem ihrer Sinne[192] aufdrängen, aufmerksam werden. Sie achtet dann auf Alles, was diesen aufstösst. Folglich wird Alles ihre Wissbegierde rege erhalten, anspornen, erhöhen, und sie wird sich abwechselnd der Erforschung der zu ihrer Ernährung geeigneten Dinge, und der Erforschung alles dessen zuwenden, was sie umgiebt.

2. Bald treibt die Wissbegierde sie an sich selbst zu erforschen. Sie beobachtet ihre Sinne, die Eindrücke, welche sie ihr übermitteln, ihre Lust-, ihre Schmerzgefühle, ihre Bedürfnisse, die Mittel, ihnen zu genügen, und entwirft sich eine Art Plan von dem, was sie zu meiden oder aufzusuchen hat.

3. Ein ander Mal wieder erforscht sie die Dinge genauer, die ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie theilt sie, je nach den Verschiedenheiten, die sie an ihnen bemerkt, in verschiedene Klassen, und die Zahl ihrer abstrakten Begriffe nimmt in dem Maasse zu, als ihre Wissbegierde durch die Freude am Sehen, Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen angeregt wird.

Richtet sie aus Wissbegierde ihre Blicke auf die Thiere, so bemerkt sie, dass sie sich wie sie bewegen und nähren, dass sie Organe haben, um das ihnen Zusagende zu erfassen, Augen, um sich zurechtzufinden, Waffen zum Angriff oder zur Vertheidigung, Behendigkeit oder Geschicklichkeit, um der Gefahr zu entgehen, Erfindsamkeit, um Fallen zu stellen, und sie unterscheidet sie nach Gestalt, Farben und hauptsächlich nach den Eigenschaften, die sie am meisten in Verwunderung setzen.

Sie staunt über die Kämpfe, die sie einander liefern, noch viel mehr aber, wenn sie bemerkt, dass die schwächeren von den stärkeren zerrissen werden, ihr Blut vergiessen und alle Bewegung verlieren. Dieser Anblick stellt ihr den Uebergang vom Leben zum Tode deutlich vor Augen; sie denkt jedoch nicht daran, dass es ihr bestimmt sein könne, auf gleiche Weise zu enden. Das Leben erscheint ihr als etwas so Selbstverständliches, dass sie nicht begreift, wie es ihr genommen werden könne. Sie weiss nur so viel, dass sie dem Schmerze ausgesetzt ist, dass es Körper giebt, die sie verletzen, zerreissen können. Allein die Erfahrung hat sie dieselben kennen und meiden gelehrt.

Sie lebt also mitten unter den sich bekriegenden[193] Thieren in der grössten Sicherheit. Die Welt ist ein Schauspiel, bei dem sie nur Zuschauer ist, und sie ahnt nicht dass sie dereinst die Bühne mit Blut beflecken muss.

4. Es naht sich ihr jedoch ein Feind. Der ihr drohenden Gefahr unkundig denkt sie nicht daran, ihr aus dem Wege zu gehen und macht eine schlimme Erfahrung. Sie wehrt sich. Da sie glücklicher Weise stark genug ist, um die Streiche, die gegen sie geführt werden, zum Theil unwirksam zu machen, so entrinnt sie; sie hat nur unbedeutende Wunden empfangen. Allein die Vorstellung jenes Thieres bleibt ihrem Gedächtniss gegenwärtig; sie knüpft sich an alle Umstände, unter denen sie von ihm angefallen würde. War es in einem Walde, so wird der Anblick eines Baumes, das Rauschen der Blätter ihr das Bild der Gefahr vor Augen führen. Ihre Angst ist gross, weil sie schwach ist; sie fühlt sie doppelt, weil sie die Vorsichtsmaassregeln, die ihre Lage erheischt, noch nicht kennt. Alles wird für sie ein Gegenstand des Schreckens, weil die Vorstellung der Gefahr mit Allem, was sie antrifft, so fest verknüpft ist, dass sie nicht mehr zu unterscheiden vermag, was sie zu fürchten hat. Ein Schaf erschreckt sie, und wenn sie wagen sollte, ihm Stand zu halten, so hätte sie dazu einen Muth vonnöthen, den sie noch nicht haben kann.

Nachdem sie von ihrer ersten Aufregung wieder zu sich gekommen, wundert sie sich fast, Thiere zu sehen, die vor ihr fliehen. Ein ander Mal sieht sie dieselben wieder fliehen, sieht sie jedesmal fliehen und vergewissert sich endlich, dass sie von ihnen nichts zu fürchten hat.

Kaum beginnt sie ihre Unruhe zu bemeistern, so erscheint ihr erster Feind wieder, oder sie wird auch von einem andern angegriffen. Sie entrinnt dieser neuen Gefahr nicht ohne Schaden genommen zu haben.

5. Derartige Unfälle beunruhigen, beängstigen sie desto mehr, je vielfältiger und je lästiger sie in ihren Folgen werden. Der Schreck darüber verursacht in allen ihren Körpertheilen heftiges Zittern. Die Gefahren gehen vorüber, aber das Zittern dauert fort oder erneuert sich jeden Augenblick: und frischt den Gedanken an sie auf. Da sie nicht im Stande ist, an den Umständen zu erkennen, ob es mehr oder weniger wahrscheinlich sei, dass sie vor dergleichen Unfällen bewahrt bleibe, so[194] wird sie von einer entfernten Gefahr eben so sehr; ja oft sogar noch mehr beunruhigt, als von einer nahen. Sie flieht vor allen beiden gleicher Weise, weil sie ihre ganze Schwäche fühlt, wenn sie so lange gezögert hat, dass sie sich nicht mehr schützen kann. Ist sonach ihre Furcht wirksamer geworden, als ihre Hoffnung, so folgt sie den Regungen derselben vorzugsweise und trifft mehr Vorkehrungen gegen die Uebel, denen sie ausgesetzt ist, als Maassregeln zur Erlangung der Güter, die ihr zu Theil werden können. Sie trachtet also darnach, die Thiere wiederzuerkennen, die ihr feindlich begegnen, flieht die Orte, die sie zu bewohnen scheinen, und schliesst aus den Feindseligkeiten, welche sie dieselben gegen solche ausüben sieht, die ihr an Schwäche gleichkommen, auf das, was sie von ihnen zu fürchten hat. Die Angst dieser letztern verdoppelt die ihrige; ihre Flucht, ihr Geschrei warnt sie vor der ihr drohenden Gefahr. Bald sucht sie ihr geschickt aus dem Wege zu gehen, bald ergreift sie zu ihrer Vertheidigung Alles, was der Zufall ihr darreicht, schafft sich, freilich nur sehr langsam, erfinderisch einen Ersatz für die Waffen, welche ihr die Natur versagt hat, lernt allmählich sich vertheidigen, geht siegreich aus dem Kampfe hervor, und beginnt in der Freude über ihre Erfolge einen Muth in sich zu fühlen, der ihr manchmal über die Gefahr hinweghilft, oder sie sogar tollkühn macht. Alsdann gewinnt für sie Alles ein anderes Aussehen; sie verfolgt neue Zwecke, hat neue Interessen; ihre Wissbegierde richtet sich auf andere Dinge, sie beschäftigt sich mit ihrer Vertheidigung oft mehr als mit dem Nahrungsbedürfniss und sinnt nur darauf, wie sie mit Vortheil kämpfen könne.

6. Bald ist sie neuen Uebeln ausgesetzt. Die Jahreszeit ändert sich wie mit einem Male, die Pflanzen verdorren, das Land wird öde, und sie athmet eine Luft, die ihr überall wehthut; sie lernt sich mit Allem, was sie warm halten kann, bekleiden und Zuflucht an Orten suchen, wo sie vor den Unbilden der Witterung mehr geschützt ist.

Da sie jedoch öfter in die üble Lage kommt, an jeglicher Nahrung Mangel zu leiden, so macht sie nunmehr von der Ueberlegenheit, welche Geschicklichkeit oder Kraft ihr über manche Thiere geben, Gebrauch; sie geht[195] auf sie los, fängt, verschlingt sie. Da sie weiter kein Mittel zu ihrer Ernährung hat, so sinnt sie auf Listen, Waffen, und leistet in dieser Kunst umsomehr, als der Kampf eben so wichtig für sie wird, wie die Nahrung. So ist sie denn mit allen Thieren im Kriege, sei es nun des Angriffs oder der Vertheidigung halber.

In dieser Weise ertheilt ihr die Erfahrung Unterricht, den sie oft mit ihrem Blute bezahlen muss. Aber kann sie etwa wohlfeiler von ihr unterrichtet werden?

7. Sich zu nähren, jedem Unfall vorzubeugen, oder ihn abzuwehren und ihre Wissbegierde zu befriedigen, das sind die gesammten natürlichen Bedürfnisse unserer Statue. Sie geben eins um das andere ihren Fähigkeiten eine bestimmte Richtung, und auf ihnen beruhen die Kenntnisse, die sie erwirbt. Das eine Mal bahnt sie, wenn sie die Verhältnisse in der Hand hat, ihren Begierden den Weg; ein ander Mal wieder, wo sie von den Verhältnissen beherrscht wird, bringt sie sich selbst ins Unglück. Werden die Erfolge von Unfällen durchkreuzt, so werden die Unfälle dafür durch Erfolge wieder gut gemacht, und die Aussenwelt scheint es bald auf ihren Schmerz, bald auf ihre Lust abzusehen. Sie schwankt also zwischen Zuversicht und Ungewissheit, und ist, von ihren Befürchtungen und Hoffnungen niemals verlassen, von einem Augenblick zum andern ihrem Glück und ihrem Untergange nahe. Die Erfahrung allein hilft ihr allmählich über die Gefahren hinweg, erhebt sie zu den für ihre Erhaltung nothwendigen Kenntnissen und bringt sie dahin, sich alle die Gewöhnungen anzueignen, die sie leiten müssen. Aber wie es ohne Erfahrung keine Kenntnisse geben würde, so würde es keine Erfahrung geben ohne Bedürfnisse, und keine Bedürfnisse ohne die Abwechselung von Lust- und Schmerzgefühlen. Es wurzelt demnach Alles in dem Prinzip, das wir gleich am Eingange dieses Werkes aufgestellt haben.

Wir wollen nun von den Urtheilen handeln, welche die Statue über die Dinge je nach dem Antheil fällt, den sie an ihren Lust- oder Schmerzgefühlen haben.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 192-196.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.

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