III. Von den Urtheilen, die ein sich selbst überlassener Mensch über Güte und Schönheit der Dinge fällen kann.

[196] 1. Die Wörter »Güte« und »Schönheit« drücken Eigenschaften aus, vermöge deren die Dinge zu unsern Lustgefühlen beitragen. Folglich hat jedes empfindende Wesen Vorstellungen von einer ihm entsprechenden Güte und Schönheit.

In der That nennt man Alles gut, was dem Geruch oder Geschmack, und Alles schön, was dem Gesicht, Gehör oder Getagt zusagt.

Auch auf die Leidenschaften oder auf den Geist beziehen sich das Gute und das Schöne. Was den Leidenschaften schmeichelt, das ist gut; woran der Geist Gefallen findet, das ist schön, und was gleichzeitig den Leidenschaften und dem Geiste gefällt, ist zugleich gut und schön.

2. Unsere Statue kennt angenehme Gerüche und Geschmäcke und Dinge, die ihren Leidenschaften zusagen: sie hat also Vorstellungen von dem Guten. Ebenso kennt sie Dinge, welche sie sieht, hört, fühlt, und die ihr Geist mit Lust erfasst. Sie hat also auch Vorstellungen von dem Schönen.

3. Daraus ergiebt sich die Folgerung, dass das Gute und das Schöne nichts Absolutes sind, sondern sich nach dem Charakter des Urtheilenden und der Art, wie er organisirt ist, richten müssen.23

4. Das Gute und das Schöne unterstützen sich wechselseitig. Eine Pfirsiche, welche die Statue sieht, gefällt ihr wegen der Lebhaftigkeit ihrer Farben: sie ist in ihren Augen schön. Sobald ihr der Geschmack derselben in[197] der Einbildung vorschwebt, wird sie mit grösserer Lust gesehen: ist um so schöner.

Die Statue isst diese Pfirsiche; alsdann vermengt sich die Freude am Anblick mit der am Geschmack: die Frucht ist um so besser.

5. Auch die Nützlichkeit trägt zur Güte und Schönheit der Dinge bei. Die Früchte, welche schon wegen der Freude am Anblick und am Genusse gut und schon sind, sind besser und schöner, wenn wir bedenken, dass sie zur Wiederherstellung unserer Kräfte geeignet sind.

6. Neuheit und Seltenheit tragen ebenfalls dazu bei; denn die Verwunderung, welche ein schon an und für sich guter und schöner Gegenstand erregt, verbunden mit der Schwierigkeit, ihn zu besitzen, erhöht die Freude am Genusse.

7. Die Güte und die Schönheit der Dinge beruhen entweder auf einer einzigen Vorstellung, oder auf einer Vielheit von Vorstellungen, die gewisse Beziehungen unter einander haben. Ein Geschmack, ein Geruch kann für sich allein gut sein; das Licht ist schön, ein Ton kann für sich allein genommen schön sein.

Ist jedoch eine Vielheit von Vorstellungen vorhanden, so ist ein Gegenstand um so besser oder schöner, je mehr die Vorstellungen sich hervorheben und je besser ihre Verhältnisse zu einander wahrgenommen werden; denn man geniesst dann mit mehr Lust. Eine Frucht, an der man verschiedene gleich angenehme Geschmacksarten herausfindet, ist besser, als ein einziger solcher Geschmack; ein Gegenstand, dessen Farben sich gegenseitig hervorheben, ist schöner, als das Licht allein.

Die Organe können nur eine gewisse Anzahl Empfindungen deutlich gesondert aufnehmen. Der Geist kann nur eine gewisse Anzahl Vorstellungen auf einmal vergleichen; eine zu grosse Menge erzeugt Verwirrung. Sie schadet also dem Lustgefühl und folglich der Güte und Schönheit der Dinge.

Auch eine kleine Anzahl Empfindungen oder Vorstellungen fliessen zusammen, wenn irgend eine zu sehr vor den andern vorherrscht. Zur höchsten Güte und Schönheit ist es also erforderlich, dass ihre Mischung nach gewissen Verhältnissen erfolge.

8. Der Uebung ihrer Organe und ihres Geistes verdankt[198] unsere Statue den Vortheil mehr Vorstellungen und Beziehungen auf einmal übersehen zu können. Das Gute und Schöne richtet sich also auch nach dem Gebrauche, den sie von ihren Fähigkeiten zu machen gelernt hat. Etwas, das seiner Zeit sehr gut oder sehr schön gewesen, wird es weiterhin nicht mehr sein, während etwas Anderes, das sie nicht beachtet hatte, im höchsten Grade gut oder schön sein wird.

Hier, wie überall, wird sie nur mit Bezug auf sich urtheilen. Zunächst nimmt sie solche Dinge als Muster an, die am unmittelbarsten zu ihrem Glücke beitragen; dann beurtheilt sie andere Dinge nach diesen Mustern, und sie erscheinen ihr um so schöner, je mehr sie ihnen gleichen; denn nach dieser Vergleichung findet sie an ihrem Anblicke ein Vergnügen, das sie bisher daran nicht empfunden hatte. Ein mit Früchten beladener Baum z.B. gefällt ihr und macht ihr den Anblick eines andern angenehm, der keine trägt, jedoch mit ihm einige Aehnlichkeit hat.

9. Man kann sich unmöglich die verschiedenen Urtheile alle denken, die sie je nach den Umständen fällen wird. Es wäre überdies eine ziemlich unnütze Untersuchung. Es genügt die Beobachtung, dass es für sie, wie für uns, eine wirkliche. Güte und Schönheit giebt, und dass, wenn sie in dieser Hinsicht weniger Vorstellungen besitzt, dies daher kommt, dass sie auch weniger Bedürfnisse, Kenntnisse und Leidenschaften hat.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 196-199.
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