V. Von der Ungewissheit der Urtheile, die wir über das Vorhandensein der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften fällen.

[201] 1. Unsere Statue erinnert sich, so nehme ich an, dass sie selber Ton, Geschmack, Geruch, Farbe gewesen; sie weiss, wie schwer es ihr geworden, bis sie sich daran gewöhnte, diese Empfindungen nach Aussen zu verlegen. Sind denn die Töne, Geschmäcke, Gerüche, Farben an den Dingen? Wer kann ihr darüber Gewissheit geben? Jedenfalls weder das Gehör, noch der Geruch, noch der Geschmack, noch das Gesicht; diese Sinne können sie an und für sich nur von den Wandlungen, die sie erleidet, unterrichten. Anfänglich hat sie in den Eindrücken, für welche dieselben empfänglich sind, nur ihr eigenes Sein empfunden, und wenn die Sinne jetzt sie anleiten, sie an den Körpern zu empfinden, so liegt der Grund darin, dass sie sich angewöhnt haben, nach dem Zeugniss des Tastgefühls zu urtheilen. Giebt es denn wenigstens Ausdehnung? Aber was nimmt sie denn, sobald sie das Gefühl des Tastens hat, Anderes wahr, als wieder ihre eigenen Wandlungen? Der Tastsinn ist also nicht glaubwürdiger, als die andern Sinne, und da man erkennt, dass die Töne, Geschmäcke, Gerüche und Farben nicht an den Dingen existiren, so könnte es sein, dass auch keine Ausdehnung an ihnen existirt.24[201]

2. Die Statue wird sich bei diesen Zweifeln wahrscheinlich nicht aufhalten. Vielleicht auch werden die Urtheile, die sie sich angewöhnt hat, sie hindern solche zu hegen. Sie würde jedoch darum mehr dazu befähigt sein, als wir, weil sie besser weiss, wie sie sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen gelernt hat. Wie dem auch sei, es nützt ihr nichts, grössere Gewissheit darüber zu erlangen. Die Erscheinung sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften genügt, Begehrungen in ihr zu erregen, sie über ihr Verhalten aufzuklären, sie glücklich oder unglücklich zu machen, und ihre Abhängigkeit von den Objekten, auf welche sie dieselben zu beziehen genöthigt ist, macht ihr jeden Zweifel daran unmöglich, dass Wesen ausser ihr existiren. Aber welcher Art sind diese Wesen? Sie weiss es nicht und auch wir wissen es nicht. Alles, was wir wissen, ist, dass wir sie Körper nennen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 201-202.
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