VII. Von einem in den Wäldern Litthauens gefundenen Menschen.

[209] 1. Unsere Statue kann, wie wir bemerkt haben, möglicher Weise von der Sorge um ihre Nahrung so in Anspruch genommen sein, dass sie für die Beschäftigung mit den Dingen, zu welchen sie sich hingezogen fühlte, ehe sie das Geschmacksorgan hatte, keinen Augenblick übrig behält. Sie lebt dann nur der Befriedigung dieses dringenden Bedürfnisses, und darum haben die Genüsse der andern Sinne keinen Reiz mehr für sie. Die Dinge, die solche gewähren könnten, beachtet sie nicht mehr. Ohne Verwunderung, ohne Wissbegierde, würde sie aufhören, über das, was sie bisher wusste, nachzudenken, würde bald Manches vergessen, würde vergessen, wie sie das, was sie noch weiss, gelernt hat, und nicht daran zweifeln, dass sie so, wie sie riecht, hört, sieht und fühlt, immer gerochen, gehört, gesehen und gefühlt habe. Einzig mit der Aufsuchung einer, wie ich annehme, äusserst seltenen Nahrung beschäftigt, würde sie geradezu ein thierisches Leben fuhren. Hat sie Hunger, so bewegt sie sich, so geht sie überall hin, wo sie Nahrungsmittel gefunden zu haben sich erinnert. Ist ihr Hunger gestillt, so wird Ruhe ihr dringendstes Bedürfniss; sie bleibt, wo sie ist, und schläft ein.

Unter solchen Umständen hemmt also das Nahrungsbedürfniss ihre Seelenkräfte in gewissen Beziehungen. Es nimmt deren ganze Thätigkeit für sich in Anspruch. Wahrscheinlich würde sie sogar, anstatt sich von ihrem eigenen Nachdenken leiten zu lassen, von den Thieren lernen, mit denen sie am meisten verkehrt, würde[209] gehen, wie sie, ihr Geschrei nachahmen, Gras fressen oder diejenigen verzehren, deren sie sich bemächtigen kann. Wir sind so sehr zur Nachahmung geneigt, dass sogar ein Descartes an ihrer Stelle nicht aufrecht gehen lernen würde. Durch Alles, was er sähe, würde er hinlänglich davon abgebracht werden.

2. So war vermuthlich das Schicksal jenes ungefähr zehnjährigen Kindes, welches unter den Bären lebte, und das man 1694 in den Wäldern fand, die Litthauen und Russland begrenzen. Es gab kein Zeichen von Vernunft, ging auf allen Vieren, hatte keine Sprache und gab Tone von sich, die nichts von menschlichen an sich hatten. Es dauerte lange, ehe es ein paar Worte, und zwar in ganz roher Weise, aussprechen konnte. Sobald es reden konnte, befragte man es über seinen früheren Zustand, allein es erinnerte sich desselben ebensowenig, als wir uns des in der Wiege Erlebten erinnern.

3. Wenn man sagt: jenes Kind gab kein Zeichen von Vernunft, so heisst das nicht, es habe nicht hinlänglich überlegt, um für seine Selbsterhaltung Sorge tragen zu können, sondern nur: sein Nachdenken, das bis dahin nothwendiger Weise nur dieses eine Ziel hatte, habe keine Gelegenheit gehabt, sich auf das zu richten, womit wir uns befassen. Es hatte keine von den Vorstellungen, die unsere Statue erworben hat, als sie noch andere Bedürfnisse kannte, ausser Nahrung zu suchen. Es fehlten ihm alle Kenntnisse, welche die Menschen ihrem gegenseitigen Verkehr verdanken. Kurz, es erschien nur darum ohne Vernunft, weil es weniger hatte als wir; nicht als ob es überhaupt keine gehabt hätte.

4. Zuweilen ist unser Bewusstsein, d.h. das Gefühl von dem, was in uns vorgeht, wenn es sich zwischen eine grosse Zahl von Wahrnehmungen theilt, die mit annähernd gleicher Stärke auf uns wirken, so schwach, dass uns keine Erinnerung an das Erlebte bleibt. Kaum fühlen wir alsdann, dass wir da sind; Tage könnten wie Augenblicke verfliessen, ohne dass wir Unterschiede an ihnen fänden, und die nämliche Wahrnehmung könnten wir unzählige Male machen, ohne zu. bemerken, dass wir sie bereits gemacht. Ein Mensch, der viele Vorstellungen erworben und sich mit ihnen vertraut gemacht hat, kann nicht lange in einem derartigen selbstvergessenen Zustande[210] bleiben. Je grösser der Vorrath seiner Vorstellungen ist, desto mehr ist man zu der Annahme berechtigt, dass eine davon Veranlassung haben werde zu erwachen, seine Aufmerksamkeit besonders zu erregen und ihn seiner Bewusstlosigkeit zu entreissen. Jenes Kind hatte keine derartige Hülfe. Seine eingeschläferten Fähigkeiten konnten nur durch das Bedürfniss Nahrung zu suchen aufgerüttelt werden, und sein Leben glich einem Schlafe, der nur durch Träume unterbrochen wird. Es war also natürlich, dass es seinen früheren Zustand vergass.

Doch ist es nicht wahrscheinlich, dass es die Erinnerung daran mit einem Male verloren habe. Wenn man es nach einigen Tagen in die Wälder, wo man es gefangen hatte, wieder zurückgebracht hätte, so würde es ohne Zweifel die Orte, an denen es gelebt, wiedererkannt und sich der Kost, von der es sich genährt, und der Mittel, die es anwandte, um sie sich zu verschaffen, erinnert haben. Es würde nicht nöthig gehabt haben, sich über das alles noch einmal zu belehren. Allein die Erinnerung daran ward durch neue Vorstellungen und besonders durch die lange Zwischenzeit, die bis dahin verfloss, wo es auf ihm gestellte Fragen zu antworten im Stande war, verwischt. Dennoch hätte man, um sicherer zu gehen, es in die Wälder, wo es gefunden worden war, zurückführen sollen. Obwohl es sich dieser Orte nicht erinnerte, wenn man mit ihm davon sprach, so hätte es sie doch vielleicht wiederzuerkennen vermocht, wenn es sie gesehen hätte.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 209-211.
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