Drittes Capitel
Der Kampf um's Dasein

[80] Seine Beziehung zur natürlichen Zuchtwahl. – Der Ausdruck im weiten Sinne gebraucht. – Geometrisches Verhältnis der Zunahme. – Rasche Vermehrung naturalisierter Pflanzen und Thiere. – Natur der Hindernisse der Zunahme. – Allgemeine Concurrenz. – Wirkungen des Clima. – Schutz durch die Zahl der Individuen. – Verwickelte Beziehungen aller Thiere und Pflanzen in der ganzen Natur. – Kampf um's Dasein am heftigsten zwischen Individuen und Varietäten einer Art, oft auch heftig zwischen Arten einer Gattung. – Beziehung von Organismus zu Organismus die wichtigste aller Beziehungen.


Ehe wir auf den Gegenstand dieses Capitels eingehen, muss ich einige Bemerkungen voraussenden, um zu zeigen, in welcher Beziehung der Kampf um's Dasein zur natürlichen Zuchtwahl steht. Es ist im letzten Capitel gezeigt worden, dass die Organismen im Naturzustande eine gewisse individuelle Variabilität besitzen, und ich wüsste in der That nicht, dass dies je bestritten worden wäre. Es ist für uns unwesentlich, ob eine Menge von zweifelhaften Formen Art, Unterart oder Varietät genannt werde, welchen Bang z.B. die 200 bis 300 zweifelhaften Formen britischer Pflanzen einzunehmen berechtigt sind, wenn die Existenz ausgeprägter Varietäten zulässig ist. Aber das blosse Vorhandensein individueller Variabilität und einiger weniger wohlausgeprägter Varietäten, wenn auch nothwendig als Grundlage für den Hergang, hilft uns nicht viel, um zu begreifen, wie Arten in der Natur entstehen. Wie sind alle jene vortrefflichen Anpassungen von einem Theile der Organisation an den andern und an die äusseren Lebensbedingungen und von einem organischen Wesen an ein anderes bewirkt worden? Wir sehen diese schöne Anpassung ausserordentlich deutlich bei dem Specht und der Mistelpflanze und nur wenig minder deutlich am niedersten Parasiten, welcher sich an das Haar eines Säugethieres oder die Federn eines Vogels anklammert; am Bau des Käfers, welcher in's Wasser untertaucht; am befiederten Samen, der vom leichtesten Lüftchen getragen wird; kurz, wir sehen schöne Anpassungen überall und in jedem Theile der organischen Welt.

Ferner kann man fragen, wie kommt es, dass die Varietäten, welche ich beginnende Arten genannt habe, zuletzt in gute und distincte Species umgewandelt werden, welche in den meisten Fällen offenbar unter sich viel mehr, als die Varietäten der nämlichen Art[80] verschieden sind? Wie entstehen jene Gruppen von Arten, welche das bilden, was man verschiedene Genera nennt, und welche mehr als die Arten dieser Genera von einander abweichen? Alle diese Resultate folgen, wie wir im nächsten Abschnitte ausführlicher sehen werden, aus dem Kampfe um's Dasein. In diesem Wettkampfe werden Abänderungen, wie gering und auf welche Weise immer sie entstanden sein mögen, wenn sie nur für die Individuen einer Species in deren unendlich verwickelten Beziehungen zu anderen organischen Wesen und zu den physikalischen Lebensbedingungen einigermassen vortheilhaft sind, die Erhaltung solcher Individuen zu unterstützen neigen und sich meistens durch Vererbung auf deren Nachkommen übertragen. Ebenso wird der Nachkömmling mehr Aussicht haben, leben zu bleiben; denn von den vielen Individuen dieser Art, welche von Zeit zu Zeit geboren werden, kann nur eine kleine Zahl am Leben bleiben. Ich habe dieses Princip, wodurch jede solche geringe, wenn nur nützliche, Abänderung erhalten wird, mit dem Namen »natürliche Zuchtwahl« belegt, um seine Beziehung zum Wahlvermögen des Menschen zu bezeichnen. Doch ist der von HERBERT SPENCER oft gebrauchte Ausdruck »Überleben des Passendsten« zutreffender und zuweilen gleich bequem. Wir haben gesehen, dass der Mensch durch Auswahl zum Zwecke der Nachzucht grosse Erfolge sicher zu erzielen, und durch die Häufung kleiner, aber nützlicher Abweichungen, die ihm durch die Hand der Natur dargeboten werden, organische Wesen seinen eigenen Bedürfnissen anzupassen im Stande ist. Aber die natürliche Zuchtwahl ist, wie wir nachher sehen werden, eine unaufhörlich zur Thätigkeit bereite Kraft und des Menschen schwachen Bemühungen so unermesslich überlegen, wie es die Werke der Natur überhaupt denen der Kunst sind.

Wir wollen nun den Kampf um's Dasein etwas mehr im Einzelnen erörtern. In meinem spätern Werke über diesen Gegenstand soll er, wie er es verdient, in grösserer Ausführlichkeit besprochen werden. Der ältere DE CANDOLLE und LYELL haben des weitern und in philosophischer Weise nachgewiesen, dass alle organischen Wesen im Verhältnisse einer harten Concurrenz zu einander stehen. In Bezug auf die Pflanzen hat Niemand diesen Gegenstand mit mehr Geist und Geschick behandelt als W. HERBERT, der Dechant von Manchester, offenbar in Folge seiner ausgezeichneten Gartenbaukenntnisse. Nichts ist leichter, als in Worten die Wahrheit des allgemeinen Wettkampfes um's Dasein zuzugestehen, aber auch nichts schwerer – wie ich wenigstens gefunden habe – als[81] sie beständig im Sinne zu behalten. Wenn wir aber dieselbe dem Geiste nicht ganz fest eingeprägt haben, wird der ganze Haushalt der Natur, mit allen den Thatsachen der Verbreitungsweise, der Seltenheit und des Häufigseins, des Erlöschens und Abänderns, nur dunkel begriffen oder ganz missverstanden werden. Wir sehen das Antlitz der Natur in Heiterkeit strahlen, wir sehen oft Überfluss an Nahrung; aber wir sehen nicht oder vergessen, dass die Vögel, welche um uns her müssig und sorglos ihren Gesang erschallen lassen, meistens von Insecten oder Samen leben und mithin beständig Leben zerstören; oder wir vergessen, wie viele dieser Sänger oder ihrer Eier und ihrer Nestlinge unaufhörlich von Raubvögeln und Raubthieren zerstört werden; wir behalten nicht immer im Sinne, dass, wenn auch das Futter jetzt im Überfluss vorhanden sein mag, dies doch nicht zu allen Zeiten jedes umlaufenden Jahres der Fall ist.


Der Ausdruck, Kampf um's Dasein, im weiten Sinne gebraucht

Ich will vorausschicken, dass ich diesen Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen von einander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in Bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird. Man kann mit Recht sagen, dass zwei hundeartige Raubthiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Leben miteinander kämpfen. Aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste um ihr Dasein gegen die Trocknis, obwohl es angemessener wäre zu sagen, sie hänge von der Feuchtigkeit ab. Von einer Pflanze, welche alljährlich tausend Samen erzeugt, unter welchen im Durchschnitt nur einer zur Entwicklung kommt, kann man noch richtiger sagen, sie kämpfe um's Dasein mit anderen Pflanzen derselben oder anderer Arten, welche bereits den Boden bekleiden. Die Mistel ist vom Apfelbaum und einigen wenigen anderen Baumarten abhängig; doch kann man nur in einem weit hergeholten Sinne sagen, sie kämpfe mit diesen Bäumen; denn wenn zu viele dieser Schmarotzer auf demselben Baume wachsen, so wird er verkümmern und sterben. Wachsen aber mehrere Sämlinge derselben dicht auf einem Aste beisammen, so kann man in zutreffenderer Weise sagen, sie kämpfen miteinander. Da die Samen der Mistel von Vögeln ausgestreut werden, so hängt ihr Dasein mit von dem der Vögel ab, und man kann metaphorisch sagen, sie[82] kämpfen mit anderen beerentragenden Pflanzen, damit sie die Vögel veranlasse, eher ihre Früchte zu verzehren und ihre Samen auszustreuen, als die der anderen. In diesen mancherlei Bedeutungen, welche ineinander übergehen, gebrauche ich der Bequemlichkeit halber den allgemeinen Ausdruck »Kampf um's Dasein«.


Geometrisches Verhältnis der Zunahme

Ein Kampf um's Dasein tritt unvermeidlich ein in Folge des starken Verhältnisses, in welchem sich alle Organismen zu vermehren streben. Jedes Wesen, welches während seiner natürlichen Lebenszeit mehrere Eier oder Samen hervorbringt, muss während einer Periode seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit oder gelegentlich einmal in einem Jahre eine Zerstörung erfahren, sonst würde seine Zahl zufolge der geometrischen Zunahme rasch zu so ausserordentlicher Grösse anwachsen, dass kein Land das Erzeugte zu ernähren im Stande wäre. Da daher mehr Individuen erzeugt werden, als möglicher Weise fortbestehen können, so muss in jedem Falle ein Kampf um die Existenz eintreten, entweder zwischen den Individuen einer Art oder zwischen denen verschiedener Arten, oder zwischen ihnen und den äusseren Lebensbedingungen. Es ist die Lehre von MALTHUS in verstärkter Kraft auf das gesammte Thier- und Pflanzenreich übertragen; denn in diesem Falle ist keine künstliche Vermehrung der Nahrungsmittel und keine vorsichtige Enthaltung vom Heirathen möglich. Obwohl daher einige Arten jetzt in mehr oder weniger rascher Zahlenzunahme begriffen sein mögen: alle können es nicht zugleich, denn die Welt würde sie nicht fassen.

Es gibt keine Ausnahme von der Regel, dass jedes organische Wesen sich auf natürliche Weise in einem so hohen Masse vermehrt, dass, wenn nicht Zerstörung eintrete, die Erde bald von der Nachkommenschaft eines einzigen Paares bedeckt sein würde. Selbst der Mensch, welcher sich doch nur langsam vermehrt, verdoppelt seine Anzahl in fünfundzwanzig Jahren, und bei so fortschreitender Vervielfältigung würde die Erde schon in weniger als tausend Jahren buchstäblich keinen Raum mehr für seine Nachkommenschaft haben. LINNÉ hat schon berechnet, dass, wenn eine einjährige Pflanze nur zwei Samen erzeugte (und es gibt keine Pflanze, die so wenig productiv wäre) und ihre Sämlinge im nächsten Jahre wieder zwei gäben u.s.w., sie in zwanzig Jahren schon eine Million Pflanzen liefern würde. Man sieht den Elephanten als das sich am langsamsten vermehrende von allen bekannten[83] Thieren an. Ich habe das wahrscheinliche Minimalverhältnis seiner natürlichen Vermehrung zu berechnen gesucht; die Voraussetzung wird die sicherste sein, dass seine Fortpflanzung erst mit dem dreissigsten Jahre beginne und bis zum neunzigsten Jahre währe, dass er in dieser Zeit sechs Junge zur Welt bringe und dass er hundert Jahre alt wird. Verhält es sich so, dann würden nach Verlauf von 740 – 750 Jahren nahezu neunzehn Millionen Elephanten, Nachkömmlinge des ersten Paares, am Leben sein.

Doch wir haben bessere Belege für diese Sache, als blosse theoretische Berechnungen, nämlich die zahlreich aufgeführten Fälle von erstaunlich rascher Vermehrung verschiedener Thierarten im Naturzustande, wenn die natürlichen Bedingungen zwei oder drei Jahre lang ihnen günstig gewesen sind. Noch schlagender sind die von unseren in verschiedenen Weltgegenden verwilderten Hausthierarten hergenommenen Beweise, so dass, wenn die Behauptungen von der Zunahme der sich doch nur langsam vermehrenden Rinder und Pferde in Süd-America und neuerlich in Australien nicht sicher bestätigt wären, sie ganz unglaublich erscheinen müssten. Ebenso ist es mit den Pflanzen. Es liessen sich Fälle von eingeführten Pflanzen aufzählen, welche auf ganzen Inseln in weniger als zehn Jahren gemein geworden sind. Mehrere von den Pflanzen, welche jetzt auf den weiten Ebenen des La-Plata-Gebietes am zahlreichsten verbreitet sind und Flächen von Quadratmeilen an Ausdehnung fast mit Ausschluss aller anderen Pflanzen bedecken, wie die Artischocke und eine hohe Distel, sind von Europa eingeführt worden; und ebenso gibt es, wie ich von Dr. FALCONER gehört, in Ost-Indien Pflanzen, welche jetzt vom Cap Comorin bis zum Himalaya verbreitet und doch erst seit der Entdeckung von America von dorther eingeführt worden sind. In Fällen dieser Art, – und es könnten zahllose andere angeführt werden – , wird Niemand annehmen, dass die Fruchtbarkeit solcher Pflanzen und Thiere plötzlich und zeitweise in einem irgendwie merklichen Grade zugenommen habe. Die handgreifliche Erklärung ist, dass die äusseren Lebensbedingungen sehr günstig, dass in dessen Folge die Zerstörung von Jung und Alt geringer und dass fast alle Abkömmlinge im Stande gewesen sind, sich fortzupflanzen. In solchen Fällen genügt schon das geometrische Verhältnis der Zahlenvermehrung, dessen Resultat stets in Erstaunen versetzt, um einfach die ausserordentlich schnelle Zunahme und die weite Verbreitung naturalisierter Einwanderer in ihrer neuen Heimath zu erklären.[84]

Im Naturzustande bringt fast jede erwachsene Pflanze jährlich Samen hervor, und unter den Thieren sind nur sehr wenige, die sich nicht jährlich paarten. Wir können daher mit Zuversicht behaupten, dass alle Pflanzen und Thiere sich in geometrischem Verhältnisse zu vermehren strebten, dass sie jede Gegend, in welcher sie nur irgendwie existieren könnten, sehr rasch zu bevölkern im Stande sein würden, und dass dieses Streben zur geometrischen Vermehrung zu irgend einer Zeit ihres Lebens durch zerstörende Eingriffe beschränkt werden muss. Unsere genauere Bekanntschaft mit den grösseren Hausthieren könnte zwar, wie ich glaube, unsere Meinung in dieser Beziehung leicht irre leiten, da wir keine grosse Zerstörung sie treffen sehen; aber wir vergessen, dass Tausende jährlich zu unserer Nahrung geschlachtet werden, und dass im Naturzustande wohl ebenso viele irgendwie beseitigt werden müssten.

Der einzige Unterschied zwischen den Organismen, welche jährlich Tausende von Eiern oder Samen hervorbringen, und jenen, welche deren nur äusserst wenige liefern, besteht darin, dass die sich langsam Vermehrenden ein paar Jahre mehr brauchen werden, um unter günstigen Verhältnissen einen Bezirk zu bevölkern, sei derselbe auch noch so gross. Der Condor legt zwei Eier und der Strauss deren zwanzig, und doch dürfte in einer und derselben Gegend der Condor leicht der häufigere von beiden werden. Der Eissturmvogel (Procellaria glacialis) legt nur ein Ei, und doch glaubt man, dass er der zahlreichste Vogel in der Welt ist. Die eine Fliege legt hundert Eier und die andere, wie z.B. Hippobosca, deren nur eines; diese Verschiedenheit bestimmt aber nicht die Menge der Individuen, die in einem Bezirk ihren Unterhalt finden können. Eine grosse Anzahl von Eiern ist von Wichtigkeit für diejenigen Arten, deren Nahrungsvorräthe raschen Schwankungen unterworfen sind; denn sie gestattet eine Vermehrung der Individuenzahl in kurzer Frist. Aber die wirkliche Bedeutung einer grossen Zahl von Eiern oder Samen liegt darin, dass sie eine stärkere Zerstörung, welche zu irgend einer Lebenszeit erfolgt, ausgleicht; und diese Zeit des Lebens ist in der grossen Mehrheit der Fälle eine sehr frühe. Kann ein Thier in irgend einer Weise seine eigenen Eier und Jungen schützen, so mag es deren nur eine geringere Anzahl erzeugen: es wird doch die ganze durchschnittliche Anzahl aufbringen; werden aber viele Eier oder Junge zerstört, so müssen deren viele erzeugt werden, wenn die Art nicht untergehen soll. Wird eine Baumart durchschnittlich tausend Jahre[85] alt, so würde es zur Erhaltung ihrer vollen Anzahl genügen, wenn sie in tausend Jahren nur einen Samen hervorbrächte, vorausgesetzt, dass dieser eine nie zerstört und mit Sicherheit auf einen geeigneten Platz zur Keimung gebracht würde. So hängt in allen Fällen die mittlere Anzahl von Individuen einer jeden Pflanzen-oder Thierart nur indirect von der Zahl ihrer Samen oder Eier ab.

Bei Betrachtung der Natur ist es nöthig, die vorstehenden Betrachtungen fortwährend im Auge zu behalten und nie zu vergessen, dass man von jedem einzelnen organischen Wesen sagen kann, es strebe nach der äussersten Vermehrung seiner Anzahl, dass jedes in irgend einem Zeitabschnitte seines Lebens in einem Kampfe begriffen ist, und dass eine grosse Zerstörung unvermeidlich in jeder Generation oder in wiederkehrenden Perioden die jungen oder alten Individuen befällt. Wird irgend ein Hindernis beseitigt oder die Zerstörung um noch so wenig gemindert, so wird beinahe augenblicklich die Zahl der Individuen zu jeder Höhe anwachsen.


Natur der Hindernisse der Zunahme

Was für Hindernisse es sind, welche das natürliche Streben jeder Art nach Vermehrung ihrer Individuenzahl beschränken, ist sehr dunkel. Betrachtet man die am kräftigsten gedeihenden Arten, so wird man finden, dass, je grösser ihre Zahl wird, desto mehr ihr Streben nach weiterer Vermehrung zunimmt. Wir wissen nicht einmal in einem einzelnen Falle genau, welches die Hindernisse der Vermehrung sind. Dies wird jedoch Niemanden überraschen, der sich erinnert, wie unwissend wir in dieser Beziehung selbst bei dem Menschen sind, welcher doch so ohne Vergleich besser bekannt ist als irgend eine andere Thierart. Dieser Gegenstand ist bereits von mehreren Schriftstellern ganz gut behandelt worden, und ich hoffe denselben in einem spätern Werke mit einiger Ausführlichkeit behandeln zu können, besonders in Bezug auf die wildlebenden Thiere Süd-America's. Hier mögen nur einige wenige Bemerkungen Raum finden, nur um dem Leser einige Hauptpunkte in's Gedächtnis zu rufen. Eier oder ganz junge Thiere scheinen im Allgemeinen am meisten zu leiden, doch ist dies nicht ganz ohne Ausnahme der Fall. Bei Pflanzen findet zwar eine ungeheure Zerstörung von Samen statt; aber nach mehreren von mir angestellten Beobachtungen scheint es, als litten die Sämlinge am meisten dadurch, dass sie auf einem schon mit anderen Pflanzen dicht bestockten Boden wachsen. Auch werden die Sämlinge noch in grösser Menge durch verschiedene Feinde vernichtet.[86] So notierte ich mir z.B. auf einer umgegrabenen und reingemachten Fläche Landes von 3' Länge und 2' Breite, wo keine Erstickung durch andere Pflanzen drohte, alle Sämlinge unserer einheimischen Kräuter, wie sie aufgiengen, und von den 357 wurden nicht weniger als 295 hauptsächlich durch Schnecken und Insecten zerstört. Wenn man Rasen, der lange Zeit immer geschnitten wurde (und der Fall wird der nämliche bleiben, wenn er durch Säugethiere kurz abgeweidet wird), wachsen lässt, so werden die kräftigeren Pflanzen allmählich die minder kräftigen, wenn auch vollausgewachsenen, tödten; und in einem solchen Falle giengen von zwanzig auf einem nur 3' zu 4' grossen Fleck geschnittenen Rasens wachsenden Arten neun zu Grunde, da man den anderen nun gestattete, frei aufzuwachsen.

Die für eine jede Art vorhandene Nahrungsmenge bestimmt natürlich die äusserste Grenze, bis zu welcher sie sich vermehren kann; aber sehr häufig hängt die Bestimmung der Durchschnittszahlen einer Thierart nicht davon ab, dass sie Nahrung findet, sondern dass sie selbst wieder einer andern zur Beute wird. Es scheint daher wenig Zweifel unterworfen zu sein, dass der Bestand an Feld- und Haselhühnern, Hasen u.s.w. auf grossen Gütern hauptsächlich von der Zerstörung der kleinen Raubthiere abhängig ist. Wenn in England in den nächsten zwanzig Jahren kein Stück Wildpret geschossen, aber auch keines dieser Raubthiere zerstört würde, so würde, nach aller Wahrscheinlichkeit, der Wildstand nachher geringer sein als jetzt, obwohl jetzt Hunderttausende von Stücken Wildes jährlich erlegt werden. Andererseits gibt es aber auch manche Fälle, wo, wie beim Elephanten, eine Zerstörung durch Raubthiere gar nicht stattfindet; denn selbst der indische Tiger wagt es nur sehr selten, einen jungen, von seiner Mutter geschützten Elephanten anzugreifen.

Das Clima hat ferner einen wesentlichen Antheil an Bestimmung der durchschnittlichen Individuenzahl einer Art, und wiederkehrende Perioden äusserster Kälte oder Trockenheit scheinen zu den wirksamsten aller Hemmnisse zu gehören. Ich schätze, hauptsächlich nach der geringen Anzahl von Nestern im nachfolgenden Frühling, dass der Winter 1854 – 55 auf meinem eigenen Grundstücke vier Fünftheile aller Vögel zerstört hat; und dies ist eine furchtbare Zerstörung, wenn wir denken, dass bei dem Menschen eine Sterblichkeit von 10 Procent bei Epidemien schon ganz ausserordentlich stark ist. Die Wirkung des Clima scheint beim ersten Anblick ganz unabhängig von dem Kampfe um's Dasein zu sein; insofern aber das Clima hauptsächlich die Nahrung vermindert, veranlasst es den heftigsten[87] Kampf zwischen den Individuen, welche von derselben Nahrung leben, mögen sie nun einer oder verschiedenen Arten angehören. Selbst wenn das Clima, z.B. äusserst strenge Kälte, unmittelbar wirkt, so werden die mindest kräftigen oder diejenigen Individuen, die beim vorrückenden Winter am wenigsten Futter bekommen haben, am meisten leiden. Wenn wir von Süden nach Norden oder aus einer feuchten in eine trockene Gegend wandern, werden wir stets einige Arten immer seltener und seltener werden und zuletzt gänzlich verschwinden sehen; und da der Wechsel des Clima zu Tage liegt, so werden wir am ehesten versucht sein, den ganzen Erfolg seiner directen Einwirkung zuzuschreiben. Und doch ist dies eine falsche Ansicht; wir vergessen dabei, dass jede Art selbst da, wo sie am häufigsten ist, in irgend einer Zeit ihres Lebens beständig durch Feinde oder durch Concurrenten um Nahrung oder um denselben Wohnort ungeheure Zerstörung erfährt; und wenn diese Feinde oder Concurrenten nur im mindesten durch irgend einen Wechsel des Clima begünstigt werden, so werden sie an Zahl zunehmen, und da jedes Gebiet bereits vollständig mit Bewohnern besetzt ist, so muss die andere Art abnehmen. Wenn wir auf dem Wege nach Süden eine Art in Abnahme begriffen sehen, so können wir sicher sein, dass die Ursache ebensosehr in der Begünstigung anderer Arten liegt, als in der Benachtheiligung dieser einen, ebenso, wenn wir nordwärts gehen, obgleich in einem etwas geringeren Grade, weil die Zahl aller Arten und somit aller Mitbewerber gegen Norden hin abnimmt. Daher kommt es, dass, wenn wir nach Norden gehen oder einen Berg besteigen, wir weit öfter verkümmerten Formen begegnen, welche von unmittelbar schädlichen Einflüssen des Clima herrühren, als wenn wir nach Süden oder bergab gehen. Erreichen wir endlich die arctischen Regionen, oder die schneebedeckten Bergspitzen oder vollkommene Wüsten, so findet das Ringen um's Dasein fast ausschliesslich gegen die Elemente statt.

Dass das Clima vorzugsweise indirect durch Begünstigung anderer Arten wirkt, ergibt sich klar aus der ausserordentlichen Menge solcher Pflanzen in unseren Gärten, welche zwar vollkommen im Stande sind, unser Clima zu ertragen, aber niemals naturalisiert werden können, weil sie weder den Wettkampf mit unseren einheimischen Pflanzen aushalten noch der Zerstörung durch unsere einheimischen Thiere widerstehen können.

Wenn sich eine Art durch sehr günstige Umstände auf einem kleinen Raume zu übermässiger Anzahl vermehrt, so sind Epidemien[88] (so scheint es wenigstens bei unseren Jagdthieren gewöhnlich der Fall zu sein) oft die Folge davon, und hier haben wir ein vom Kampfe um's Dasein unabhängiges Hemmnis. Doch scheint selbst ein Theil dieser sogenannten Epidemien von parasitischen Würmern herzurühren, welche durch irgend eine Ursache, vielleicht durch die Leichtigkeit der Verbreitung auf den gedrängt zusammenlebenden Thieren, unverhältnismässig begünstigt worden sind; und so fände hier gewissermassen ein Kampf zwischen den Schmarotzern und ihren Nährthieren statt.

Andererseits ist in vielen Fällen ein grosser Bestand von Individuen derselben Art im Verhältnis zur Anzahl ihrer Feinde unumgänglich für ihre Erhaltung nöthig. Man kann daher leicht Getreide, Rapssaat u.s.w. in Masse auf unseren Feldern erziehen, weil hier deren Samen im Vergleich zu den Vögeln, welche davon leben, in grossem Übermasse vorhanden sind; und doch können diese Vögel, wenn sie auch in der einen Jahreszeit mehr als nöthig Futter haben, nicht im Verhältnis zur Menge dieses Futters zunehmen, weil ihre Zahlenzunahme im Winter wieder aufgehalten wird. Dagegen weiss jeder, der es versucht hat, wie mühsam es ist, Samen aus ein paar Pflanzen Weizen oder anderen solchen Pflanzen im Garten zu erziehen. Ich habe in solchen Fällen jedes einzelne Samenkorn verloren. Diese Ansicht von der Nothwendigkeit eines grossen Bestandes einer Art für ihre Erhaltung erklärt, wie mir scheint, einige eigenthümliche Fälle in der Natur, wie z.B. dass sehr seltene Pflanzen zuweilen auf den wenigen Flecken, wo sie vorkommen, ausserordentlich zahlreich auftreten, und dass manche gesellige Pflanzen selbst auf der äussersten Grenze ihres Verbreitungsbezirkes gesellig, d.h. in sehr grosser Anzahl beisammen gefunden werden. In solchen Fällen kann man nämlich glauben, eine Pflanzenart vermöge nur da zu bestehen, wo die Lebensbedingungen so günstig sind, dass ihrer viele beisammen leben und so die Art vor äusserster Zerstörung bewahren können. Ich muss hinzufügen, dass die guten Folgen einer häufigen Kreuzung und die schlimmen einer reinen Inzucht ohne Zweifel in einigen dieser Fälle mit in Betracht kommen; doch will ich mich über diesen verwickelten Gegenstand hier nicht weiter verbreiten.


Complicierte Beziehungen aller Pflanzen und Thiere zu einander im Kampfe um's Dasein

Man führt viele Beispiele auf, aus denen sich ergiebt, wie verwickelt und wie unerwartet die gegenseitigen Beschränkungen und[89] Beziehungen zwischen organischen Wesen sind, die in einerlei Gegend miteinander zu kämpfen haben. Ich will nur ein solches Beispiel anführen, das mich, wenn es auch einfach ist, interessiert hat. In Staffordshire auf dem Gute eines Verwandten, wo ich reichliche Gelegenheit zur Untersuchung hatte, befand sich eine grosse, äusserst unfruchtbare Haide, die nie von eines Menschen Hand berührt worden war. Doch waren einige hundert Acker derselben, von genau gleicher Beschaffenheit mit den übrigen, fünfundzwanzig Jahre zuvor eingezäunt und mit Kiefern bepflanzt worden. Die Veränderung in der ursprünglichen Vegetation des bepflanzten Theiles war äusserst merkwürdig, mehr als man gewöhnlich beim Übergange von einem ganz verschiedenen Boden zu einem andern wahrnimmt. Nicht allein erschienen die Zahlenverhältnisse zwischen den Haidepflanzen gänzlich verändert, sondern es gediehen auch in der Pflanzung noch zwölf solche Arten, Ried- u. a. Gräser ungerechnet, von welchen auf der Haide nichts zu finden war. Die Wirkung auf die Insecten muss noch viel grösser gewesen sein, da in der Pflanzung sechs Species insectenfressender Vögel sehr gemein waren, von welchen in der Haide nichts zu sehen war, welche dagegen von zwei bis drei anderen Arten solcher besucht wurde. Wir beobachten hier, wie mächtig die Folgen der Einführung einer einzelnen Baumart gewesen ist, indem sonst durchaus nichts geschehen war, mit Ausnahme der Einzäunung des Landes, so dass das Vieh nicht hinein konnte. Was für ein wichtiges Element aber die Einfriedigung sei, habe ich deutlich in der Nähe von Farnham in Surrey gesehen. Hier finden sich ausgedehnte Haiden, mit ein paar Gruppen alter Kiefern auf den Rücken der entfernteren Hügel; in den letzten 10 Jahren waren ansehnliche Strecken eingefriedigt worden, und innerhalb dieser Einfriedigungen schoss in Folge von Selbstaussaat eine Menge junger Kiefern auf, so dicht beisammen, dass nicht alle fortleben konnten. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass diese jungen Stämmchen nicht gesäet oder gepflanzt worden waren, war ich so erstaunt über deren Anzahl, dass ich mich sofort nach mehreren Aussichtspunkten wandte, um Hunderte von Ackernder nicht eingefriedigten Haide zu überblicken, wo ich jedoch ausser den gepflanzten alten Gruppen buchstäblich genommen auch nicht eine einzige Kiefer zu finden vermochte. Als ich mich jedoch genauer zwischen den Pflanzen der freien Haide umsah, fand ich eine Menge Sämlinge und kleiner Bäumchen, welche aber fortwährend von den Heerden abgeweidet worden waren. Auf einem ein Yard im Quadrat[90] messenden Fleck, mehrere hundert Yards von den alten Baumgruppen entfernt, zählte ich 32 solcher abgeweideten Bäumchen, wovon eines mit 26 Jahresringen viele Jahre hindurch versucht hatte, sich über die Haidepflanzen zu erheben, aber immer vergebens. Kein Wunder also, dass, sobald das Land eingefriedigt worden war, es dicht von kräftigen jungen Kiefern überzogen wurde. Und doch war die Haide so äusserst unfruchtbar und so ausgedehnt, dass Niemand geglaubt hätte, dass das Vieh hier so gründlich und so erfolgreich nach Futter gesucht haben würde.

Wir sehen hier das Vorkommen der Kiefer in absoluter Abhängigkeit vom Vieh; in anderen Weltgegenden ist dagegen das Vieh von gewissen Insecten abhängig. Vielleicht bildet Paraguay das merkwürdigste Beispiel dar; denn hier sind weder Rinder, noch Pferde, noch Hunde jemals verwildert, obwohl sie im Süden und Norden davon in verwildertem Zustande umherschwärmen. AZARA und RENGGER haben gezeigt, dass die Ursache dieser Erscheinung in Paraguay in dem häufigem Vorkommen einer gewissen Fliege zu finden ist, welche ihre Eier in den Nabel der neugeborenen Jungen dieser Thierarten legt. Die Vermehrung dieser so zahlreich auftretenden Fliegen muss regelmässig durch irgend ein Gegengewicht und vermuthlich durch andere parasitische Insecten aufgehalten werden. Wenn daher gewisse insectenfressende Vögel in Paraguay abnähmen, so würden die parasitischen Insecten wahrscheinlich zunehmen, und dies würde die Zahl der den Nabel aufsuchenden Fliegen vermindern; dann würden Rind und Pferd verwildern, was dann wieder (wie ich in einigen Theilen Süd-America's wirklich beobachtet habe) eine bedeutende Veränderung in der Pflanzenwelt veranlassen würde. Dies müsste nun ferner in hohem Grade auf die Insecten und hierdurch, wie wir in Staffordshire gesehen haben, auf die insectenfressenden Vögel wirken, und so fort in immer verwickelteren Kreisen. Es soll damit nicht gesagt sein, dass in der Natur die Verhältnisse immer so einfach sind, wie hier. Kampf um Kampf mit veränderlichem Erfolge muss immer wiederkehren; aber auf die Länge halten auch die Kräfte einander so genau das Gleichgewicht, dass die Natur auf weite Perioden hinaus immer ein gleiches Aussehen behält, obwohl gewiss oft die unbedeutendste Kleinigkeit genügen würde, einem organischen Wesen den Sieg über das andere zu verleihen. Demungeachtet ist unsere Unwissenheit so tief und unsere Anmassung so gross, dass wir uns wundern, wenn wir von dem Erlöschen eines organischen Wesens[91] vernehmen; und da wir die Ursache nicht sehen, so rufen wir Umwälzungen zu Hülfe, um die Welt verwüsten zu lassen, oder erfinden Gesetze über die Dauer der Lebensformen!

Ich werde versucht durch ein weiteres Beispiel nachzuweisen, wie Pflanzen und Thiere, welche auf der Stufenleiter der Natur weit von einander entfernt stehen, durch ein Gewebe von verwickelten Beziehungen miteinander verkettet werden. Ich werde nachher Gelegenheit haben zu zeigen, dass die ausländische Lobelia fulgens in meinem Garten niemals von Insecten besucht wird und in Folge dessen wegen ihres eigenthümlichen Blüthenbaues nie eine Frucht ansetzt. Beinahe alle unsere Orchideen müssen unbedingt von Insecten besucht werden, um ihre Pollenmassen wegzunehmen und sie so zu befruchten. Ich habe durch Versuche ermittelt, dass Hummeln zur Befruchtung des Stiefmütterchens oder Pensées (Viola tricolor) fast unentbehrlich sind, indem andere Bienen sich nie auf dieser Blume einfinden. Ebenso habe ich gefunden, dass der Besuch der Bienen zur Befruchtung von mehreren unserer Kleearten nothwendig ist. So lieferten mir z.B. zwanzig Köpfe weissen Klee's (Trifolium repens) 2290 Samen, während 20 andere Köpfe dieser Art, welche den Bienen unzugänglich gemacht worden waren, nicht einen Samen zur Entwicklung brachten. Ebenso ergaben 100 Köpfe rothen Klee's (Trifolium pratense) 2700 Samen, und die gleiche Anzahl gegen Hummeln geschützter Stöcke nicht einen! Hummeln allein besuchen diesen rothen Klee, indem andere Bienenarten den Nectar dieser Blumen nicht erreichen können. Auch von Motten hat man vermuthet, dass sie die Kleearten befruchten; ich zweifle aber wenigstens daran, dass dies mit dem rothen Klee der Fall ist, indem sie nicht schwer genug sind, die Seitenblätter der Blumenkrone niederzudrücken. Man darf daher wohl als sehr wahrscheinlich annehmen, dass wenn die ganze Gattung der Hummeln in England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch Stiefmütterchen und rother Klee sehr selten werden oder ganz verschwinden würden. Die Zahl der Hummeln in einem Distincte hängt in einem beträchtlichen Masse von der Zahl der Feldmäuse ab, welche deren Nester und Waben zerstören. Oberst NEWMAN, welcher die Lebensweise der Hummeln lange beobachtet hat, glaubt, dass durch ganz England über zwei Drittel derselben auf diese Weise zerstört werden. Nun hängt aber, wie Jedermann weiss, die Zahl der Mäuse in grossem Masse von der Zahl der Katzen ab, so dass NEWMAN sagt, in der Nähe von Dörfern und Flecken habe er die Zahl der Hummelnester[92] grösser als irgendwo anders gefunden, was er der reichlicheren Zerstörung der Mäuse durch die Katzen zuschreibt. Daher ist es denn völlig glaublich, dass die Anwesenheit eines katzenartigen Thieres in grösserer Zahl in irgend einem Bezirke durch Vermittelung zunächst von Mäusen und dann von Bienen auf die Menge gewisser Pflanzen daselbst von Einfluss sein kann!

Bei jeder Species thun wahrscheinlich verschiedene Momente der Vermehrung Einhalt, solche die in verschiedenen Perioden des Lebens, und solche die während verschiedener Jahreszeiten oder Jahre wirken. Eines oder einige derselben mögen im Allgemeinen die mächtigsten sein; aber alle zusammen werden dazu beitragen, die Durchschnittszahl der Individuen oder selbst die Existenz der Art zu bestimmen. In manchen Fällen lässt sich nachweisen, dass sehr verschiedene Ursachen in verschiedenen Gegenden auf die Häufigkeit einer und derselben Species einwirken. Wenn wir Büsche und Pflanzen betrachten, welche ein dicht bewachsenes Ufer überziehen, so werden wir versucht, ihre Arten und deren Zahlenverhältnisse dem zuzuschreiben, was wir Zufall nennen. Doch wie falsch ist diese Ansicht! Jedermann hat gehört, dass, wenn in America ein Wald niedergehauen wird, eine ganz verschiedene Pflanzenwelt zum Vorschein kommt, und doch ist beobachtet worden, dass die alten Indianerruinen im Süden der Vereinigten Staaten, wo der frühere Baumbestand abgetrieben worden sein musste, jetzt wieder eben dieselbe bunte Mannichfaltigkeit und dasselbe Artenverhältnis wie die umgebenden unberührten Wälder darbieten. Welch' ein Kampf muss hier Jahrhunderte lang zwischen den verschiedenen Baumarten stattgefunden haben, deren jede ihre Samen jährlich zu Tausenden abwirft! Was für ein Krieg zwischen Insect und Insect, zwischen Insecten, Schnecken und anderen Thieren mit Vögeln und Raubthieren, welche alle sich zu vermehren strebten, alle sich von einander oder von den Bäumen und ihren Samen und Sämlingen, oder von jenen anderen Pflanzen nährten, welche anfänglich den Boden überzogen und hierdurch das Aufkommen der Bäume gehindert hatten! Wirft man eine Hand voll Federn in die Luft, so müssen alle nach bestimmten Gesetzen zu Boden fallen; aber wie einfach ist das Problem, wohin eine jede fallen wird, im Vergleich zu der Wirkung und Rückwirkung der zahllosen Pflanzen und Thiere, welche im Laufe von Jahrhunderten das Zahlenverhältnis und die Arten der Bäume bestimmt haben, welche jetzt auf den alten indianischen Ruinen wachsen![93]

Die Abhängigkeit eines organischen Wesens von einem andern, wie die des Parasiten von seinem Ernährer, findet in der Regel zwischen solchen Wesen statt, welche auf der Stufenleiter der Natur weit auseinander stehen. Dies ist gleichfalls oft bei solchen der Fall, von denen man auch im strengen Sinne sagen kann, sie kämpfen miteinander um ihr Dasein, wie grasfressende Säugethiere und Heuschrecken. Aber der Kampf wird fast ohne Ausnahme am heftigsten zwischen den Individuen einer Art sein; denn sie bewohnen dieselben Bezirke, verlangen dasselbe Futter und sind denselben Gefahren ausgesetzt. Bei Varietäten der nämlichen Art wird der Kampf meistens eben so heftig sein, und zuweilen sehen wir den Streit schon in kurzer Zeit entschieden. So werden z.B., wenn wir verschiedene Weizenvarietäten durcheinander säen und ihren gemischten Samenertrag wieder aussäen, einige Varietäten, welche dem Clima und Boden am besten entsprechen oder von Natur die fruchtbarsten sind, die anderen besiegen und, indem sie mehr Samen liefern, sie schon nach wenigen Jahren gänzlich verdrängen. Um eine gemischte Menge selbst von so äusserst nahe verwandten Varietäten aufzubringen, wie die verschiedenfarbigen Lathyrus odoratus sind, muss man sie jedes Jahr gesondert ernten und dann die Samen in erforderlichem Verhältnisse jedesmal auf's Neue mengen, wenn nicht die schwächeren Sorten von Jahr zu Jahr abnehmen und endlich ganz ausgehen sollen. Dasselbe gilt ferner auch für die Schafrassen. Man hat versichert, dass gewisse Gebirgsvarietäten derselben andere Gebirgsvarietäten zum Aussterben bringen, so dass sie nicht zusammen gehalten werden können. Dasselbe Resultat hat sich ergeben, als man verschiedene Varietäten des medicinischen Blutegels zusammen hielt. Man kann selbst bezweifeln, ob die Varietäten von irgend einer unserer domesticierten Pflanzen- oder Thierformen so genau dieselbe Stärke, Lebensweise und Constitution besitzen, dass sich die ursprünglichen Zahlenverhältnisse eines gemischten Bestandes derselben (unter Verhinderung von Kreuzungen) auch nur ein halbes Dutzend Generationen hindurch zu erhalten vermöchten, wenn man sie in derselben Weise wie die organischen Wesen im Naturzustande miteinander kämpfen liesse und der Samen oder die Jungen nicht alljährlich in richtigem Verhältnisse erhalten würden.


Kampf um's Dasein am heftigsten zwischen Individuen und Varietäten derselben Art

[94] Da die Arten einer Gattung gewöhnlich, doch keineswegs immer, viel Ähnlichkeit miteinander in Lebensweise und Constitution und immer in der Structur besitzen, so wird der Kampf zwischen Arten einer Gattung, wenn sie in Concurrenz miteinander gerathen, gewöhnlich ein heftigerer sein, als zwischen Arten verschiedener Genera. Wir sehen dies an der neuerlichen Ausbreitung einer Schwalbenart über einen Theil der Vereinigten Staaten, welche die Abnahme einer andern Art veranlasst hat. Die neuerliche Vermehrung der Misteldrossel in einigen Theilen von Schottland hat daselbst die Abnahme der Singdrossel zur Folge gehabt. Wie oft hören wir, dass eine Rattenart in den verschiedensten Climaten den Platz einer andern eingenommen hat. In Russland hat die kleine asiatische Schabe (Blatta) ihren grössern Verwandten überall vor sich hergetrieben. In Australien ist die eingeführte Stockbiene im Begriff, die kleine einheimische Biene ohne Stachel rasch zu vertilgen. Man weiss, dass eine Art Feldsenf eine andere verdrängt hat; und so noch in anderen Fällen. Wir können dunkel erkennen, warum die Concurrenz zwischen den verwandtesten Formen, welche nahezu denselben Platz im Haushalte der Natur ausfüllen, am heftigsten ist; aber wahrscheinlich werden wir in keinem einzigen Falle genauer anzugeben im Stande sein, wie es zugegangen ist, dass in dem grossen Wettringen um das Dasein die eine den Sieg über die andere davongetragen hat.

Aus den vorangehenden Bemerkungen lässt sich ein Folgesatz von grösster Wichtigkeit ableiten, nämlich, dass die Structur eines jeden organischen Gebildes auf die wesentlichste, aber oft verborgene Weise zu der aller anderen organischen Wesen in Beziehung steht, mit welchen es in Concurrenz um Nahrung oder Wohnung kommt, oder vor welchen es zu fliehen hat, oder von welchen es lebt. – Dies erhellt eben so deutlich aus dem Baue der Zähne und der Klauen des Tigers, wie aus der Bildung der Beine und Krallen des Parasiten, welcher an des Tigers Haaren hängt. Zwar an dem zierlich gefiederten Samen des Löwenzahns wie an den abgeplatteten und gewimperten Beinen des Wasserkäfers scheint anfänglich die Beziehung nur auf das Luft- und Wasserelement beschränkt zu sein. Aber der Vortheil gefiederter Samen steht ohne Zweifel in der engsten Beziehung zu dem Umstande, dass das Land von anderen Pflanzen bereits dicht besetzt ist, so dass[95] die Samen in der Luft erst weit umher treiben und auf einen noch freien Boden fallen können. Den Wasserkäfer dagegen befähigt die Bildung seiner Beine, welche so vortrefflich zum Untertauchen eingerichtet sind, mit anderen Wasserinsecten in Concurrenz zu treten, nach seiner eigenen Beute zu jagen und anderen Thieren zu entgehen, welche ihn zu ihrer Ernährung verfolgen.

Der Vorrath von Nahrungsstoff, welcher in den Samen vieler Pflanzen niedergelegt ist, scheint anfänglich keinerlei Beziehung zu anderen Pflanzen zu haben. Aber nach dem lebhaften Wachsthum der jungen Pflanzen, welche aus solchen Samen (wie Erbsen, Bohnen u.s.w.) hervorgehen, wenn sie mitten in hohes Gras gesäet worden sind, darf man vermuthen, dass jener Nahrungsvorrath hauptsächlich dazu bestimmt ist, das Wachsthum des jungen Sämlings zu begünstigen, während er mit anderen Pflanzen von kräftigem Gedeihen rund um ihn herum zu kämpfen hat.

Man betrachte eine Pflanze in der Mitte ihres Verbreitungsbezirkes, warum verdoppelt oder vervierfacht sie nicht ihre Zahl? Wir wissen, dass sie recht gut etwas mehr oder weniger Hitze oder Kälte, Trocknis oder Feuchtigkeit ertragen kann; denn anderwärts verbreitet sie sich in etwas wärmere oder kältere, feuchtere oder trockenere Bezirke. In diesem Falle sehen wir wohl ein, dass, wenn wir in Gedanken der Pflanze das Vermögen noch weiterer Zunahme zu verleihen wünschten, wir ihr irgend einen Vortheil über die anderen mit ihr concurrierenden Pflanzen oder über die sich von ihr nährenden Thiere gewähren müssten. An den Grenzen ihrer geographischen Verbreitung würde eine Veränderung ihrer Constitution in Bezug auf das Clima offenbar von wesentlichem Vortheil für unsere Pflanze sein. Wir haben jedoch Grund zu glauben, dass nur wenige Pflanzen- oder Thierarten sich so weit verbreiten, dass sie durch die Strenge des Climas allein zerstört werden. Erst wenn wir die äussersten Grenzen des Lebens überhaupt erreichen, in den arctischen Regionen oder am Rande der dürresten Wüste, hört auch die Concurrenz auf. Mag das Land noch so kalt oder trocken sein, immer werden noch einige wenige Arten oder die Individuen derselben Art um das wärmste oder feuchteste Fleckchen concurrieren.

Daher können wir auch einsehen, dass, wenn eine Pflanzen- oder eine Thierart in eine neue Gegend zwischen neue Concurrenten versetzt wird, die äusseren Lebensbedingungen derselben meistens wesentlich andere werden, wenn auch das Clima genau dasselbe wie in der alten Heimath bleibt. Wünschten wir das durchschnittliche[96] Zahlenverhältnis dieser Art in ihrer neuen Heimath zu steigern, so müssten wir ihre Natur in einer andern Weise modificieren, als es in ihrer alten Heimath hätte geschehen müssen; denn wir würden ihr einen Vortheil über eine andere Reihe von Concurrenten oder Feinden, als sie dort gehabt hat, zu verschaffen haben.

Es ist ganz gut, in dieser Weise einmal in Gedanken zu versuchen, irgend einer Form einen Vortheil über eine andere zu verschaffen. Wahrscheinlich wüssten wir nicht in einem einzigen Falle, was wir zu thun hätten, um Erfolg zu haben. Dies sollte uns die Überzeugung von unserer Unwissenheit über die Wechselbeziehungen zwischen allen organischen Wesen aufdrängen: eine Überzeugung, welche eben so nothwendig als schwer zu erlangen ist. Alles, was wir thun können, ist: stets im Sinne zu behalten, dass jedes organische Wesen nach Zunahme in einem geometrischen Verhältnisse strebt; dass jedes zu irgend einer Zeit seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit, in jeder Generation oder nach Zwischenräumen um's Dasein kämpfen muss und grosser Vernichtung ausgesetzt ist. Wenn wir über diesen Kampf um's Dasein nachdenken, so mögen wir uns mit dem festen Glauben trösten, dass der Krieg der Natur nicht ununterbrochen ist, dass keine Furcht gefühlt wird, dass der Tod im Allgemeinen schnell ist, und dass der Kräftige, der Gesunde und Glückliche überlebt und sich vermehrt.

Quelle:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. Stuttgart 91899, S. 80-97.
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