II. Die Verschiedenheit des Aufbaus in den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften

Historische Orientierung

1.

[101] In den Geisteswissenschaften vollzieht sich nun der Aufbau der geschichtlichen Welt. Mit diesem bildlichen Ausdruck bezeichne ich den ideellen Zusammenhang, in welchem auf der Grundlage des Erlebens und Verstehens in einer Stufenfolge von Leistungen sich ausbreitend das objektive Wissen von der geschichtlichen Welt sein Dasein hat.

Welches ist nun der Zusammenhang, in dem eine Theorie dieser Art mit den ihr nächstverwandten Wissenschaften verbunden ist? Zunächst bedingen sich gegenseitig dieser ideelle Aufbau der geistigen Welt und das geschichtliche Wissen von dem historischen Verlauf, in dem die geistige Welt allmählich aufgegangen ist. Sie sind voneinander getrennt, aber sie haben in der geistigen Welt ihren gemeinsamen Gegenstand: hierin ist ihre innere Beziehung gegründet. Der Verlauf, in welchem das Wissen von dieser Welt sich entwickelte, gibt einen Leitfaden für das Verständnis des ideellen Aufbaus derselben, und dieser Aufbau ermöglicht ein tieferes Verständnis der Geschichte der Geisteswissenschaften.

Die Grundlage einer solchen Theorie ist dann die Einsicht in die Struktur des Wissens, in die Denkformen und wissenschaftlichen Methoden. So wird aus der logischen Theorie nur das hier Erforderliche herausgehoben. Diese Theorie selber würde unsere Untersuchung gleich an ihrem Beginn in endlose Streitigkeiten verwickeln.

Endlich besteht noch eine Beziehung dieser Lehre vom geisteswissenschaftlichen Aufbau zu der Kritik des Erkenntnisvermögens. Indem man diese Beziehung aufzuklären unternimmt,[101] zeigt sich erst die volle Bedeutung unseres Gegenstandes. Die Kritik der Erkenntnis ist wie die Logik Analysis des vorhandenen Zusammenhanges der Wissenschaften. In der Erkenntnistheorie geht die Analysis von diesem Zusammenhang zurück zu den Bedingungen, unter denen die Wissenschaft möglich ist. Hier tritt uns nun aber ein Verhältnis entgegen, das für den Gang der Erkenntnistheorie und ihre heutige Lage bestimmend ist. Die Naturwissenschaften waren zuerst der Gegenstand, an dem diese Analyse sich vollzog. Lag es doch im Gang der Wissenschaften, daß sich die Naturerkenntnis zunächst ausbildete. Die Geisteswissenschaften sind erst im vorigen Jahrhundert in ein Stadium getreten, das ihre Verwertung für die Erkenntnistheorie möglich machte. So kommt es, daß das Studium des Aufbaus dieser beiden Klassen von Wissenschaften der zusammenhängenden erkenntnistheoretischen Grundlegung zur Zeit angemessen vorausgeht: es bereitet im ganzen wie an einzelnen Punkten die zusammenhängende Erkenntnistheorie vor. Es steht unter dem Gesichtspunkt des Erkenntnisproblems und arbeitet an seiner Auflösung.


2.

Als die neueren europäischen Völker, mündig geworden in Humanismus und Reformation, seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus dem Stadium der Metaphysik und Theologie in das selbständiger Erfahrungswissenschaften eintraten, vollzog sich dieser Fortgang vollkommener als einst seit dem 3. Jahrhundert vor Christus in den griechischen Bevölkerungen. Auch dort lösten sich Mathematik, Mechanik, Astronomie und mathematische Geographie von der Logik und Metaphysik los; sie traten nach dem Verhältnis der Abhängigkeit voneinander in einen Zusammenhang: aber in diesem Aufbau der Naturwissenschaften erhielten Induktion und Experiment noch nicht ihre wahre Stellung und Bedeutung und entfalteten sich noch nicht in ihrer ganzen Fruchtbarkeit. Erst in den sklavenlosen[102] Industrie- und Handelsstädten der modernen Nationen sowie an den Höfen, Akademien und Universitäten ihrer großen geldbedürftigen Militärstaaten entwickelten sich zielbewußter Eingriff in die Natur, mechanische Arbeit, Erfindung, Entdeckung, Experiment mächtiger; sie verbanden sich mit der mathematischen Konstruktion, und so entstand eine wirkliche Analysis der Natur. Nun bildete sich in dem Zusammenwirken von Kepler, Galilei, Bacon und Descartes in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die mathematische Naturwissenschaft als Erkenntnis der Ordnung der Natur nach Gesetzen. Und durch eine beständig zunehmende Zahl von Forschern hat sie noch in demselben Jahrhundert ihre ganze Leistungsfähigkeit entfaltet. Sie also war der Gegenstand, dessen Analysis die Erkenntnistheorie des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts in Locke, Berkeley, Hume, d'Alembert, Lambert und Kant ganz überwiegend vollzogen hat.

Der Aufbau der Naturwissenschaften ist durch die Art bestimmt, wie ihr Gegenstand, die Natur, gegeben ist. Bilder treten in beständigem Wechsel auf, sie werden auf Gegenstände bezogen, diese Gegenstände erfüllen und beschäftigen das empirische Bewußtsein, und sie bilden das Objekt der beschreibenden Naturwissenschaft. Aber schon das empirische Bewußtsein bemerkt, daß die sinnlichen Qualitäten, die an den Bildern auftreten, von dem Standpunkt der Betrachtung, von der Entfernung, von der Beleuchtung abhängig sind. Immer deutlicher zeigen Physik und Physiologie die Phänomenalität dieser sinnlichen Qualitäten. Und so entsteht nun die Aufgabe, die Gegenstände so zu denken, daß der Wechsel der Phänomene und die in diesem Wechsel immer deutlicher hervortretenden Gleichförmigkeiten begreiflich werden. Die Begriffe, durch welche dies geschieht, sind Hilfskonstruktionen, welche das Denken zu diesem Zweck schafft. So ist die Natur uns fremd, dem auffassenden Subjekt transzendent, in Hilfskonstruktionen vermittels des phänomenal Gegebenen zu diesem hinzugedacht.

Aber zugleich liegen in dieser Art, wie die Natur uns gegeben ist, die Mittel, sie dem Denken zu unterwerfen und den Aufgaben[103] des Lebens dienstbar zu machen. Die Artikulation der Sinne bedingt die Vergleichbarkeit der Eindrücke in jedem System sinnlicher Mannigfaltigkeit. Hierauf beruht die Möglichkeit einer Analysis der Natur. In den einzelnen Kreisen einander zugehöriger Sinnesphänomene bestehen dann Regelmäßigkeiten in der Abfolge oder in den Beziehungen des Gleichzeitigen. Indem diesen Regelmäßigkeiten unveränderliche Träger des Geschehens unterlegt werden, werden sie zurückgeführt auf eine Ordnung nach Gesetzen in der gedachten Mannigfaltigkeit der Dinge.

Die Aufgabe wird doch erst lösbar, indem zu den Regelmäßigkeiten in den Phänomenen, welche die Induktion und das Experiment feststellen, eine weitere Beschaffenheit des Gegebenen hinzutritt. Alles Physische hat eine Größe: es kann gezählt werden; es erstreckt sich in der Zeit; zu seinem größten Teil erfüllt es zugleich einen Raum und kann gemessen werden; am Räumlichen treten nun meßbare Bewegungen auf, und wenn die Phänomene des Gehörs Raumerstreckung und Bewegung nicht in sich schließen, so können doch solche ihnen unterlegt werden, und die Verbindung der starken Schalleindrücke mit der Wahrnehmung von Erschütterungen der Luft führt darauf hin. So werden die mathematische und mechanische Konstruktion Mittel, alle Sinnesphänomene durch Hypothese auf Bewegungen unveränderlicher Träger derselben nach unveränderlichen Gesetzen zurückzuführen. Jeder Ausdruck wie: Träger des Geschehens, Etwas, Tatsache, Substanz bezeichnet nur die der Erkenntnis transzendenten logischen Subjekte, von denen die gesetzlichen, mathematischen und mechanischen Beziehungen prädiziert werden. Sie sind nur Grenzbegriffe, ein Etwas, das naturwissenschaftliche Aussagen möglich macht, ein Ansatzpunkt zu solchen Aussagen.

Hierdurch ist nun weiter die Struktur und der Aufbau der Naturwissenschaften bestimmt.

In der Natur sind. Raum und Zahl als Bedingungen der qualitativen Bestimmungen und der Bewegungen gegeben und Bewegung ist dann die allgemeine Bedingung für die Umlagerung[104] von Teilen oder die Schwingungen der Luft oder des Äthers, welche Chemie und Physik den Veränderungen unterlegen. Diese Verhältnisse haben die Beziehungen der Wissenschaften im Naturerkennen zur Folge. Jede dieser Wissenschaften hat in der vorhergehenden ihre Voraussetzungen; sie kommt aber zustande, indem diese Voraussetzungen auf ein neues Gebiet von Tatsachen und von in ihnen enthaltenen Beziehungen angewandt werden. Diese natürliche Ordnung der Wissenschaften ist, soweit ich sehe, zuerst von Hobbes festgestellt worden. Der Gegenstand der Naturwissenschaft – Hobbes geht bekanntlich weiter und schließt auch die Geisteswissenschaften in diesen Zusammenhang ein – sind nach ihm die Körper, ihre am meisten fundamentale Eigenschaft sind die Beziehungen von Raum und Zahl, welche die Mathematik feststellt. Von ihnen ist die Mechanik abhängig, und indem Licht, Farbe, Ton, Wärme aus den Bewegungen der kleinsten Teile der Materie erklärt werden, entsteht die Physik. Dies ist das Schema, das entsprechend dem weiteren Verlauf der wissenschaftlichen Arbeit fortgebildet und durch Comte mit der Geschichte der Wissenschaften in Beziehung gesetzt worden ist. Je mehr die Mathematik das grenzenlose Gebiet freier Gebilde erschlossen hat, überschritt sie immer weiter die Schranken ihrer nächsten Aufgabe, die Naturwissenschaften zu begründen; aber dies änderte nichts an dem in den Gegenständen selber enthaltenen Verhältnis, nach welchem in der Gesetzlichkeit von Raum- und Zahlgrößen die Voraussetzungen der Mechanik enthalten sind; es erweiterten sich durch die Fortschritte der Mathematik nur die Ableitungsmöglichkeiten. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen der Mechanik und der Physik und Chemie. Und auch wo der lebende Körper als ein neuer Tatsacheninbegriff auftritt, hat sein Studium in den chemisch-physikalischen Wahrheiten seine Grundlage. Überall derselbe schichtenweise Aufbau der Naturwissenschaften. Jede dieser Schichten bildet ein in sich geschlossenes Gebiet, und zugleich ist jede von der unter ihr liegenden Schicht getragen und bedingt. Von der Biologie abwärts enthält jede Naturwissenschaft die gesetzlichen Verhältnisse, welche die Schichten von[105] Wissenschaften unter ihr aufzeigen, in sich, bis zu der allgemeinsten mathematischen Grundlage, und aufwärts kommt etwas, das in der voraufliegenden wissenschaftlichen Schicht nicht enthalten war, in jeder darüberliegenden als eine weitere und von unten angesehen neue Tatsächlichkeit hinzu.

Von der Gruppe der Naturwissenschaften, in der die Naturgesetze zur Erkenntnis kommen, ist die andere derjenigen unterschieden, welche die Welt als Einmaliges nach ihrer Gliederung beschreiben, ihre Evolution im Zeitverlauf feststellen und zur Erklärung ihrer Verfassung unter der Voraussetzung einer ursprünglichen Anordnung die in der ersten Gruppe gewonnenen Naturgesetze anwenden. Soweit sie über Feststellung, mathematische Bestimmung, Beschreibung der tatsächlichen Verfassung und des historischen Verlaufs hinausgehen, beruhen sie auf der ersten Gruppe. So ist auch hier die Naturforschung vom Aufbau des naturgesetzlichen Erkennens abhängig.

Indem nun die Erkenntnistheorie zunächst in diesem Aufbau der Naturwissenschaften ihr vornehmstes Objekt hatte, entstand hieraus der Zusammenhang ihrer Probleme. Das Denksubjekt und die vor ihm stehenden Sinnesgegenstände sind voneinander getrennt; die Sinnesgegenstände haben einen phänomenalen Charakter, und soweit die Erkenntnistheorie im Gebiet des Naturwissens verbleibt, kann sie niemals diese Phänomenalität der ihr hier gegenüberstehenden Wirklichkeit überwinden. In der von den Naturwissenschaften den Sinnesphänomenen untergelegten Ordnung nach Gesetzen sind die sinnlichen Qualitäten durch Formen der Bewegung repräsentiert, die sich auf diese Qualitäten beziehen. Und auch wenn die Sinnestatsachen, mit deren Hinnähme und Repräsentation das Naturwissen begann, zum Gegenstand der vergleichenden Physiologie werden, kann doch keine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung faßbar machen, wie eine dieser Sinnesleistungen in die andere übergeht. Man kann eine solche Umwandlung der Hautempfindung in eine Ton- oder Farbenempfindung wohl postulieren, aber man kann sie schlechterdings nie vorstellen. Es gibt kein Verständnis dieser Welt, und wir können Wert,[106] Bedeutung, Sinn in sie nur nach Analogie mit uns selbst übertragen, und nur von da ab, wo Seelenleben in der organischen Welt sich zu regen beginnt. Es folgt dann aus dem Aufbau der Naturwissenschaften, daß hier die Definitionen und Axiome, die seine Grundlage bilden, der Charakter der Notwendigkeit, der ihnen eigen ist, und das Kausalgesetz für die Erkenntnistheorie eine besondere Bedeutung gewinnen.

Und indem der Aufbau der Naturwissenschaften eine doppelte Interpretation gestattete, entwickelten sich hieraus, vorbereitet von erkenntnis-theoretischen Richtungen des Mittelalters, zwei Richtungen der Erkenntnistheorie, in deren jeder weitere Möglichkeiten verfolgt wurden.

Die Axiome, auf die dieser Aufbau begründet war, wurden in der einen dieser Richtungen kombiniert mit einer Logik, welche den richtigen Denkzusammenhang auf Formeln fundierte, die den höchsten Grad der Abstraktion vom Stoff des Denkens erreicht hatten. Denkgesetze und Denkformen, diese äußersten Abstraktionen, wurden als das den Zusammenhang des Wissens Begründende aufgefaßt. In dieser Richtung lag die Formulierung des Satzes vom Grunde durch Leibniz. Indem nun Kant den ganzen Bestand aus der Mathematik und Logik zusammennahm und für ihn die Bedingungen im Bewußtsein aufsuchte, entstand seine Lehre vom Apriori. Aus dieser Entstehung seiner Lehre zeigt sich so klar als möglich, daß dies Apriori in erster Linie ein Begründungsverhältnis bezeichnen will. Bedeutende Logiker wie Schleiermacher, Lotze und Sigwart haben diese Betrachtungsweise vereinfacht und umgestaltet: innerhalb derselben treten ganz verschiedene Lösungsversuche bei ihnen auf.

Die andere Richtung hat einen gemeinsamen Ausgangspunkt in den Gleichförmigkeiten, welche Induktion und Experiment aufzeigen, und der auf sie gegründeten Voraussage und Verwertbarkeit. Innerhalb dieser Richtung sind dann hier ganz verschiedene Möglichkeiten insbesondere in bezug auf die Auffassung der mathematischen und mechanischen Grundlagen der Erkenntnis von Avenarius, Mach, den Pragmatisten und Poincaré ausgebildet worden. So hat sich auch diese Richtung der[107] Erkenntnistheorie in eine Mannigfaltigkeit hypothetischer Annahmen zersplittert.


3.

Wie die Naturwissenschaften in einer rapiden Entwicklung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sich konstituierten, so ist auch eine Periode mäßigen Umfangs, die Wolf, Humboldt, Niebuhr, Eichhorn, Savigny, Hegel und Schleiermacher, Bopp und Jakob Grimm umspannt, für die Geisteswissenschaften grundlegend gewesen. Wir müssen den inneren Zusammenhang dieser Bewegung zu erfassen suchen. Ihre große methodische Leistung lag in der Fundierung der Geisteswissenschaften auf die geschichtlich-gesellschaftlichen Tatsächlichkeiten. Sie ermöglichte eine neue Organisation der Geisteswissenschaften, in welcher Philologie, Kritik, Geschichtschreibung, Durchführung der vergleichenden Methode in den systematischen Geisteswissenschaften und Anwendung des Entwicklungsgedankens auf alle Gebiete der geistigen Welt zum ersten Male ein inneres Verhältnis zueinander bildeten. Das Problem der Geisteswissenschaften trat damit in ein neues Stadium, und jeder Schritt zur Auflösung dieses Problems, der getan ist und weiter getan werden muß, ist von der Vertiefung in diesen neuen tatsächlichen Zusammenhang der Geisteswissenschaften abhängig, in dessen Rahmen alle späteren geisteswissenschaftlichen Leistungen bis heute fallen.

Die Entwicklung, die nun darzustellen ist, war vorbereitet durch das 18. Jahrhundert. Damals entstand die universalhistorische Auffassung der einzelnen Teile der Geschichte. Aus den Naturwissenschaften kamen die leitenden Ideen der Aufklärung, welche zuerst einen wissenschaftlich begründeten Zusammenhang in den historischen Verlauf brachten: Solidarität der Nationen mitten in ihren Machtkämpfen, der gemeinsame Fortschritt derselben, gegründet in der Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Wahrheiten, nach welcher diese sich beständig[108] vermehren und gleichsam übereinander schichten, endlich die zunehmende Herrschaft des menschlichen Geistes über die Erde vermittels dieser Erkenntnis. Die großen Monarchien Europas wurden als die festen Träger dieses Fortschritts angesehen. Indem man dann auf ihrer Grundlage Industrie, Handel, Wohlstand, Zivilisation, Geschmack und Kunst zusammen mit den Wissenschaften sich entwickeln sah, wurde dieser Inbegriff von Fortschritten unter dem der Kultur zusammengefaßt, der Fortgang dieser Kultur wurde verfolgt, ihre Zeitalter wurden geschildert und Querschnitte durch sie gelegt, ihre einzelnen Seiten wurden einer getrennten Untersuchung unterworfen und in dem Ganzen jedes Zeitalters aufeinander bezogen. Voltaire, Hume, Gibbon sind die typischen Vertreter dieser neuen Betrachtungsweise. Und wenn nun in den einzelnen Seiten der Kultur eine Verwirklichung von Regeln angenommen wurde, die aus ihrer rationalen Konstruktion ableitbar seien, so bereitete sich doch allmählich von hier aus bereits eine historische Auffassung der Kulturgebiete vor.

Denn wenn die Aufklärung zunächst jeden Teil der Kultur als durch einen Zweck bestimmt und Regeln unterworfen dachte, an welche die Erreichung dieses Zwecks gebunden ist, so ist sie dann dazu fortgegangen, in vergangenen Epochen die Verwirklichung ihrer Regeln zu sehen. Arnold, Semler, Böhmer und die Kirchenrechtsschule sowie Lessing erforschten das Urchristentum und seine Verfassung als den wahren Typus der christlichen Religiosität und ihrer äußeren Ordnungen; Winckelmann und Lessing fanden ihr regelhaftes Ideal der Kunst und Dichtung in Griechenland verwirklicht. Hinter dem Studium der durch die Pflicht der Vollkommenheit gebundenen moralischen Person trat weiter in Psychologie und Dichtung der Mensch in seiner irrationalen und individuellen Realität hervor. Und wenn in der Aufklärungszeit die Idee des Fortschritts diesem ein rational bestimmbares Ziel setzte, wenn sie die früheren Stadien dieses Weges in ihrem eigenen Gehalt und Wert nicht zur Geltung gelangen ließ, wenn das Ziel des Staates von Schlözer in der Heranbildung großer Staaten mit zentralisierter[109] und intensiver Verwaltung, Wohlfahrts- und Kulturpflege, von Kant in der Friedensgemeinschaft das Recht verwirklichender Staaten festgelegt wurde, wenn, in derselben Art, eingeschränkt durch die Ideale der Zeit, die natürliche Theologie, Winckelmann und Lessing auch anderen großen Kräften der Kultur endliche rationale Ziele vorschrieben: so revolutionierte Herder diese vom verstandesmäßigen Zweckbegriff geleitete Geschichtsschreibung durch die Anerkennung des selbständigen Wertes, den jede Nation und jedes Zeitalter derselben verwirklichen. Damit stand das 18. Jahrhundert an der Schwelle der neuen Zeit der Geisteswissenschaften. Von Voltaire und Montesquieu, Hume und Gibbon geht über Kant, Herder, Fichte der Weg zu der großen Zeit, in welcher die Geisteswissenschaften nun neben den Naturwissenschaften ihre Stellung eroberten.

Deutschland war der Schauplatz dieser Konstituierung eines zweiten Zusammenhangs von Wissenschaften. Dies Land der Mitte, der inneren Kultur, hatte von der Reformation ab die Kräfte der europäischen Vergangenheit, die griechische Kultur, das römische Rechtswesen, das ursprüngliche Christentum in sich wirksam erhalten: wie waren sie doch in dem »Lehrer Deutschlands« Melanchthon, zusammengenommen gewesen! So konnte auf deutschem Boden das vollkommenste, natürlichste Verständnis dieser Kräfte erwachsen. Die Periode, in welcher das geschah, hatte in Dichtung, Musik und Philosophie Tiefen des Lebens aufgeschlossen, zu denen keine Nation bis dahin vorgedrungen war. Solche Blütezeiten des geistigen Lebens rufen in den historischen Denkern eine größere Stärke und Mannigfaltigkeit des Erlebens, eine gesteigerte Kraft, die verschiedensten Formen des Daseins nachzuverstehen, hervor. Gerade die Romantik, mit welcher die neue Geisteswissenschaft in so enger Beziehung stand, die beiden Schlegel und Novalis voran, bildete zugleich mit einer neuen Freiheit des Lebens auch die der Vertiefung in alles Fremdeste aus. In den Schlegel erweiterte sich der Horizont des Genusses und Verständnisses über die ganze Mannigfaltigkeit der Schöpfungen in Sprache[110] und Literatur. Sie schufen eine neue Auffassung literarischer Werke durch die Erforschung ihrer inneren Form.

Und auf dieser Idee von innerer Form, von Komposition beruhte dann die Rekonstruktion des Zusammenhanges der platonischen Werke durch Schleiermacher und später das von ihm zuerst gewonnene Verständnis der inneren Form der paulinischen Briefe. In dieser strengen Formbetrachtung lag auch ein neues Hilfsmittel der historischen Kritik. Und eben von ihr aus hat Schleiermacher in seiner Hermeneutik die Vorgänge der schriftstellerischen Produktion und des Verständnisses behandelt und hat Boeckh sie in seiner Enzyklopädie fortgebildet – ein Vorgang, der für die Entwicklung der Methodenlehre von der größten Bedeutung war.

W. v. Humboldt steht mitten unter den Romantikern, fremdartig durch die Sammlung und Geschlossenheit seiner Person im Sinne Kants und doch ihnen wiederum verwandt durch den Zug nach Genuß und Verständnis von Leben jeder Art, durch eine hierauf gegründete Philologie, durch ein Experimentieren mit den neuen Problemen der Geisteswissenschaften, dessen Tendenz ebenso systematisch war als Friedrich Schlegels Entwurf einer Enzyklopädie. Und in naher geistiger Verwandtschaft mit W. v. Humboldt ist Fr. A. Wolf, der ein neues Ideal der Philologie aufstellte, nach welchem diese, festgegründet in der Sprache, die gesamte Kultur einer Nation umspannt, um schließlich von hier aus das Verständnis ihrer größten geistigen Schöpfungen zu erreichen. In diesem Sinne sind Niebuhr und Mommsen, Boeckh und Otfried Müller, Jakob Grimm und Müllenhoff Philologen gewesen, und ein unendlicher Segen für die Geschichtswissenschaft ist von diesem strengen Begriff ausgegangen. So entstand eine methodisch begründete, das ganze Leben umfassende historische Erkenntnis der einzelnen Nationen, und das Verständnis ihrer Stellung in der Geschichte, in der die Nationalitätsidee sich ausbildete.

Von hier aus erhielt nun das Studium der ältesten zugänglichen Zeiten der einzelnen Völker erst seine wahre Bedeutung. Die schaffende Kraft derselben, die in Religion, Sitte und Recht[111] wirksam ist, die Zurückführung derselben auf den Gemeingeist, der in diesen Zeiten in kleinen politischen Körpern bei größerer Gleichförmigkeit der Individuen sich in gemeinsamen Schöpfungen betätigt – dies waren die großen Entdeckungen der historischen Schule: sie haben ihre ganze Auffassung von der Entwicklung der Nationen bedingt.

Und für solche von Mythos und Sage erfüllten Zeiten wurde die historische Kritik die notwendige Ergänzung des Verständnisses. Auch hier war Fr. A. Wolf der Führer. Indem er die homerischen Gedichte untersuchte, gelangte er zu der Annahme, daß die epische Dichtung der Griechen vor der Entstehung unserer Ilias und Odyssee in mündlichem Vortrag und sonach aus kleineren Gebilden entstanden wäre. Dies war der Anfang einer zerlegenden Kritik der nationalen epischen Dichtung. In den Bahnen Wolfs ging Niebuhr von der Kritik der Überlieferung zu der Rekonstruktion der ältesten römischen Geschichte fort. Zur Annahme alter Lieder im Sinne der Homerkritik trat bei ihm als ein weiteres Prinzip für die Erklärung der Tradition die Abhängigkeit der Berichterstatter von den Parteien und das Unvermögen späterer Zeiten, ältere Verfassungsverhältnisse zu verstehen: ein Erklärungsprinzip, von dem dann Christian Baur, der große Kritiker der christlichen Überlieferung, den fruchtbarsten Gebrauch gemacht hat. Niebuhrs Kritik war so aufs engste verbunden mit dem neuen Aufbau der römischen Geschichte.

Er verstand die älteren römischen Zeiten aus der Grundanschauung von einem in Sitte, Recht, dichterischer Tradition der Geschichte wirksamen nationalen Gemeingeist, der die spezifische Struktur des bestimmten Volkes hervorbringt. Und auch hier machte sich die Einwirkung des Lebens auf die Geschichtswissenschaft geltend. Zu den philologischen Hilfsmitteln trat seine in bedeutenden Stellungen erworbene Kenntnis von Wirtschaft, Recht und Verfassungsleben und die Vergleichung analoger Entwicklungen. Savignys Anschauung der Rechtsgeschichte, die in seiner Lehre vom Gewohnheitsrecht ihren stärksten Ausdruck fand, ging von denselben Anschauungen aus. »Alles[112] Recht entsteht auf die Weise, welche der herrschende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet.« »Es wird erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt; überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers.« Und damit waren Jakob Grimms große Konzeptionen von der Entwicklung des deutschen Geistes in Sprache, Recht und Religion in Übereinstimmung. Hieraus ergab sich nun eine weitere Entdeckung dieser Epoche.

Das natürliche System der Geisteswissenschaften sah in Religion, Recht, Sittlichkeit, Kunst nach dem Sinne der Aufklärung einen Fortschritt aus barbarischer Regellosigkeit zu einem vernünftigen Zweckzusammenhang, der in der Menschennatur begründet ist. Denn in der Menschennatur liegen nach diesem System gesetzliche Verhältnisse, in festen Begriffen darstellbar, die überall gleichförmig dieselben Grundlinien des wirtschaftlichen Lebens, der rechtlichen Ordnung, des moralischen Gesetzes, des Vernunftglaubens, der ästhetischen Regeln erwirken. Indem die Menschheit sie sich zum Bewußtsein bringt und ihnen ihr Leben in Wirtschaft, Recht, Religion und Kunst zu unterwerfen strebt, wird sie mündig und sie wird immer fähiger, den Fortschritt der Gesellschaft durch wissenschaftliche Einsicht zu leiten. Aber was in den Naturwissenschaften gelungen war, die Aufstellung eines allgemeingültigen Begriffssystems, sollte sich nun als in den Geisteswissenschaften unmöglich erweisen. Die verschiedene Natur des Gegenstandes auf den beiden Gebieten des Wissens machte sich geltend. Und so ging dieses natürliche System an seiner Zersplitterung in verschiedene Richtungen, die doch die gleiche wissenschaftliche Fundierung – oder denselben Mangel einer solchen – hatten, zugrunde. Die große Epoche der Geisteswissenschaften hat nun im Kampf mit dem Begriffssystem des 18. Jahrhunderts den historischen Charakter der Wissenschaften von Wirtschaft, Recht, Religion und Kunst zur Geltung gebracht. Sie entwickeln sich aus der schaffenden Kraft der Nationen.

Eine neue Anschauung der Geschichte erhob sich damit. Schleiermachers Reden über die Religion haben die Bedeutung des[113] Gemeinschaftsbewußtseins und seines Ausdrucks in der vom Gemeinschaftsbewußtsein getragenen Mitteilung zuerst im Reiche der Religiosität entdeckt. Auf dieser Entdeckung beruht seine Auffassung des Urchristentums, seine Evangelienkritik und seine Entdeckung des Subjektes der Religiosität, der religiösen Aussagen und des Dogmas im Gemeindebewußtsein, wie sie den Standpunkt seiner Glaubenslehre ausmacht. Wir wissen jetzt6, wie unter der Einwirkung der Reden über Religion Hegels Begriff des Gesamtbewußtseins als des Trägers der Geschichte, dessen Fortrücken die Entwicklung in der Geschichte ermöglicht, entstanden ist. Nicht ohne Einwirkung von der philosophischen Bewegung her gelangte die historische Schule zu einem verwandten Ergebnis, indem sie auf die älteren Zeiten der Völker zurückging und hier den schöpferisch wirksamen Gemeingeist fand, der den Nationalbesitz von Sitte, Recht, Mythos, epischer Dichtung hervorbringt und von welchem dann die ganze Entwicklung der Nationen bestimmt ist. Sprache, Sitte, Verfassung, Recht – so formulierte Savigny7 diese Grundanschauung – »haben kein abgesondertes Dasein, es sind nur einzelne Kräfte und Tätigkeiten des einen Volkes, in der Natur untrennbar verbunden.« »Was sie zu einem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Überzeugung des Volkes.« »Diese Jugendzeit der Völker ist arm an Begriffen, aber sie genießt ein klares Bewußtsein ihrer Zustände und Verhältnisse, sie fühlt und durchlebt diese ganz und vollständig.« Dieser »klare, naturgemäße Zustand bewährt sich vorzüglich auch im bürgerlichen Rechte«. Der Körper desselben sind »symbolische Handlungen, wo Rechtsverhältnisse entstehen oder untergehen sollen«. »Ihr Ernst und ihre Würde entspricht der Bedeutsamkeit der Rechtsverhältnisse selbst.« Sie sind »die eigentliche Grammatik des Rechts in dieser Periode«. Die Entwicklung des Rechts vollzieht sich in einem organischen Zusammenhang; »bei steigender Kultur sondern sich alle Tätigkeiten des Volkes immer[114] mehr, und was sonst gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt einzelnen Ständen anheim«; der abgesonderte Stand der Juristen entsteht; er repräsentiert das Volk in seiner Rechtsfunktion; die Begriffsbildung wird nun das Werkzeug der Rechtsentwicklung: sie erfaßt leitende Grundsätze, d.h. Bestimmungen, in denen die übrigen gegeben sind; auf ihrer Auffindung beruht der wissenschaftliche Charakter der Jurisprudenz, und die Jurisprudenz wird immer mehr Grundlage der Fortbildung des Rechts durch die Gesetzgebung. Eine analoge organische Entwicklung hat Jakob Grimm in der Sprache nachgewiesen. In einer großen Kontinuität hat sich von hier aus das Studium der Nationen und der verschiedenen Seiten ihres Lebens entwickelt.

Mit diesem großen Blick der historischen Schule verband sich dann ein methodischer Fortschritt von der höchsten Bedeutung. Von der aristotelischen Schule ab hatte die Ausbildung der vergleichenden Methoden in der Biologie der Pflanzen und Tiere den Ausgangspunkt für deren Anwendung in den Geisteswissenschaften gebildet. Durch diese Methode war die antike politische Wissenschaft zur höchstentwickelten Disziplin der Geisteswissenschaften im Altertum erhoben worden. Indem nun die historische Schule die Ableitung der allgemeinen Wahrheiten in den Geisteswissenschaften durch abstraktes konstruktives Denken verwarf, wurde für sie die vergleichende Methode das einzige Verfahren, zu Wahrheiten von größerer Allgemeinheit aufzusteigen. Sie wandte dies Verfahren auf Sprache, Mythos, nationale Epik an, und die Vergleichung des römischen mit dem germanischen Recht, dessen Wissenschaft eben damals emporblühte, wurde der Ausgangspunkt für die Ausbildung derselben Methode auch auf dem Rechtsgebiet. Auch hier besteht ein interessantes Verhältnis zu dem damaligen Zustand der Biologie. Cuvier ging von einem Begriff der Kombination der Teile in einem tierischen Typus aus, welcher gestattete, aus den Resten untergegangener Tiere den Bau derselben zu konstruieren. Ein ähnliches Verfahren übte Niebuhr, und Franz Bopp und Jakob Grimm haben die vergleichende Methode[115] ganz im Geist der großen Biologen auf die Sprache angewandt. Das Streben der früheren Jahre Humboldts, in das Innere der Nationen einzudringen, wurde nun endlich mit den Mitteln des vergleichenden Sprachstudiums verwirklicht. An diese Richtung hat sich dann in Frankreich der große Analytiker des Staatslebens, Tocqueville, angeschlossen: im Sinne des Aristoteles hat er Funktionen, Zusammenhang und Entwicklung der politischen Körper verfolgt. Eine einzige, ich möchte sagen morphologische Betrachtungsweise geht durch alle diese Generalisationen hindurch und führte zu Begriffen von neuer Tiefe. Die allgemeinen Wahrheiten bilden nach diesem Standpunkt nicht die Grundlage der Geisteswissenschaften, sondern ihr letztes Ergebnis.

Die Grenze der historischen Schule lag darin, daß sie zur Universalgeschichte kein Verhältnis gewann. Johann von Müllers allgemeine Geschichte, die besonders an die gerade in diesem Punkt unvollkommenen »Ideen« Herders sich anschloß, offenbarte die ganze Unzulänglichkeit der bisherigen Hilfsmittel zur Lösung dieser Aufgabe. Hier griff nun gleichzeitig mit der historischen Schule, an demselben Ort wirksam, wo sie ihren Mittelpunkt hatte, Hegel ein.

Er war eines der größten historischen Genies aller Zeiten. In der ruhigen Tiefe seines Wesens sammelte er die großen Kräfte der geschichtlichen Welt. Das Thema, an welchem seine Anschauungen sich entwickelten, war die Geschichte des religiösen Geistes. Die historische Schule hatte ein philologisch strenges Verfahren gefordert und die vergleichende Methode angewandt; Hegel schlug ein ganz anderes Verfahren ein. Unter dem Einfluß seiner religiös-metaphysischen Erlebnisse, im beständigen Verkehr mit den Quellen, überall aber von ihnen zurückgehend in die tiefste religiöse Innerlichkeit, entdeckte er eine Entwicklung der Religiosität, in welcher die niedere Stufe des religiösen Gesamtbewußtseins durch in ihr tätige Kräfte eine höhere erwirkt, in der nunmehr die frühere enthalten ist. Das 18. Jahrhundert hatte den Fortschritt der Menschheit aufgesucht, den die Zunahme der Erkenntnis der Natur und der in[116] ihr gegründeten Herrschaft über sie herbeiführt; Hegel ergriff die Entwicklung der religiösen Innerlichkeit. Das 18. Jahrhundert erkannte in diesem Fortschritt der Wissenschaften die Solidarität des Menschengeschlechtes; Hegel entdeckte im Bereich der Religiosität ein Gesamtbewußtsein als Subjekt der Entwicklung. Die Begriffe, in denen das 18. Jahrhundert die Geschichte der Menschheit erfaßt hatte, bezogen sich auf Glück, Vollkommenheit und verstandesmäßige Zwecksetzung, die auf Verwirklichung dieser Ziele gerichtet ist; Hegel war mit ihm einverstanden in der Intention, durch ein allgemeingültiges System von Begriffen menschliches Dasein nach seinen verschiedenen Seiten auszudrücken; aber vernichtender als er hat auch die historische Schule nicht die verstandesmäßige Auffassung der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit bekämpft; das Begriffssystem, das er suchte, sollte nicht die Seiten des Lebens abstrakt formulieren und regeln: er erstrebte einen neuen Zusammenhang der Begriffe, in welchem die Entwicklung in ihrem ganzen Umfang begreiflich würde. Er erweiterte sein Verfahren über die religiöse Entwicklung hinaus in die der Metaphysik und von ihr aus auf alle Lebensgebiete, und das Reich der Geschichte wurde sein Gegenstand. Überall suchte er hier Tätigkeit, Fortgang, und dieser hat an jedem Punkt in den Beziehungen der Begriffe sein Wesen. Geschichtswissenschaft ging so in Philosophie über. Diese Umwandlung wurde möglich, weil die deutsche Spekulation der Zeit dem Problem der geistigen Welt entgegenkam. Kants Analysis hatte in den Tiefen des Bewußtseins Formen der Intelligenz, wie sinnliche Anschauung, Kategorien, Schemata der reinen Verstandesbegriffe, Reflexionsbegriffe, theoretische Vernunftideen, Sittengesetz, Urteilskraft aufgefunden, und er hatte ihre Struktur bestimmt. Jede dieser Formen der Intelligenz war im Grunde Tätigkeit. Aber dies trat doch erst ganz hervor, als Fichte in Setzung, Entgegensetzung, Zusammenfassung die Welt des Bewußtseins entstehen ließ – überall darin Energie, Fortschreiten aufdeckend. Da nun Geschichte im Bewußtsein sich realisiert, so muß nach Hegel in ihr dasselbe Zusammenwirken von[117] Tätigkeiten wiedergefunden werden, das in Setzen, Entgegensetzen und in höherer Einheit im überindividuellen Subjekt Entwicklung möglich macht. Damit war die Grundlage für die Aufgabe Hegels geschaffen, die Gestalten des Bewußtseins in Begriffen darzustellen und die Entwicklung des Geistes durch sie hindurch als ein System begrifflicher Beziehungen zu erfassen. Eine höhere Logik gegenüber der des Verstandes sollte diese Entwicklung begreiflich machen: sie war das schwerste Werk seines Lebens. Den Leitfaden für die Stufenfolge der Kategorien entnahm er Kant, dem großen Entdecker der verschiedenen Beziehungsordnungen, ich möchte sagen Strukturformen des Wissens. Die Realisierung dieses Ideenzusammenhanges in der Wirklichkeit hatte dann nach Hegel ihren Höhepunkt in der Weltgeschichte. So hat er die geschichtliche Welt intellektualisiert. Im Gegensatz gegen die historische Schule hat er die allgemeingültige Begründung der systematischen Geisteswissenschaft in dem Vernunftsystem gefunden, das der Geist verwirklicht, ja mehr als das – er hat alles, was der Rationalismus des 18. Jahrhunderts als individuelles Dasein, besondere Gestalt des Lebens, Zufall und Willkür aus dem Vernunftzusammenhang ausschloß, durch die Mittel der höheren Logik der Systematik der Vernunft eingeordnet.

Aus dem Zusammenwirken aller dieser Momente ist Rankes Verständnis der geschichtlichen Welt hervorgegangen.

Er war ein großer Künstler. Leise, stetig, ohne Kampf entsteht in ihm seine Anschauung der »unbekannten Weltgeschichte« Goethes kontemplative Lebensstimmung und dessen künstlerischer Standpunkt der Welt gegenüber ergreift in ihm die Geschichte als ihren Gegenstand. So will er nur darstellen, was gewesen ist. In reiner Treue und mit der vollendeten Technik der Kritik, die er Niebuhr verdankte, bringt er das, was die Archive und die Literatur enthalten, zum Ausdruck. Diese Künstlernatur hat kein Bedürfnis, in den hinter dem Geschehenen liegenden Zusammenhang der Faktoren der Geschichte zurückzugehen, wie es die großen Forscher der historischen Schule getan hatten: sie fürchtete, in solchen Tiefen nicht nur[118] ihre Sicherheit, sondern auch ihre Freude an der im Licht der Sonne sich bewegenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu verlieren, wie dies Niebuhr geschehen war. Er bleibt vor der Analyse und dem begrifflichen Denken über die Zusammenhänge, die in der Geschichte zusammenwirken, stehen. Das ist die Grenze seiner Geschichtsschreibung. Noch weniger behagte ihm die farblose begriffliche Ordnung der historischen Kategorien in Hegels Auffassung der geschichtlichen Welt. »Was hat mehr Wahrheit«, äußert er sich, »was führt uns näher zur Erkenntnis des wesentlichen Seins, das Verfolgen spekulativer Gedanken oder das Ergreifen der Zustände der Menschheit, aus denen doch immer die uns eingeborene Sinnesweise lebendig heraustritt? Ich bin für das letztere, weil es dem Irrtum weniger unterworfen ist.« Das ist der erste neue Zug in Ranke: er zuerst brachte ganz zum Ausdruck, daß die Grundlage alles historischen Wissens und ein höchstes Ziel desselben die Darstellung des singularen Zusammenhanges der Geschichte ist – ein Ziel wenigstens: denn Rankes Grenze lag darin, daß er ausschließlich in diesem Einen sein Ziel sah – ohne doch andere Ziele zu verurteilen. Hier schieden sich die Richtungen.

In seiner dichterischen Stimmung gegenüber der geschichtlichen Welt hat er das Schicksal, die Tragik des Lebens, allen Glanz der Welt und das hohe Selbstgefühl des Wirkens aufs stärkste empfunden und zum Ausdruck gebracht. In dieser Verwebung des der Dichtung eigenen Bewußtseins vom Leben mit der Geschichte ist er Herodot, seinem Vorbild Thukydides, Joh. Müller und Carlyle verwandt. Der Blick auf das Leben wie von einem hohen Ort aus, der es ganz überschauen läßt, war in dieser Goethe so nahestehenden Natur notwendig verbunden mit der Auffassung des Geschichtlichen von einem das Ganze desselben überblickenden Standpunkt. Sein Horizont war die Universalgeschichte; er faßte jeden Gegenstand unter diesem Gesichtspunkt; darin stimmte er mit der ganzen Entwicklung der Geschichtschreibung von Voltaire bis Hegel und Niebuhr überein; doch lag ein weiterer ihm eigener Zug in der Art, wie er aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken der Nationen[119] neue Einblicke über die Beziehungen zwischen politischem Machtstreben, innerer Staatsentwicklung und geistiger Kultur gewonnen hat. Dieser universalhistorische Gesichtspunkt reicht bei ihm weit in seine Jugend zurück; er spricht einmal von seiner »alten Absicht, die Mär der Weltgeschichte aufzufinden, jenen Gang der Begebenheiten und Entwicklungen unseres Geschlechts, der als ihr eigentlicher Inhalt, als ihre Mitte und als ihr Wesen anzusehen ist«. Universalgeschichte war der Lieblingsgegenstand seiner Vorlesungen; immer blieb ihm der Zusammenhang seiner einzelnen Arbeiten gegenwärtig, sie war auch der Gegenstand des letzten Werkes, das der mehr als Achtzigjährige unternahm.

Der Künstler in ihm verlangte die sinnliche Breite des Geschehens darzustellen. Er konnte das nur, indem er an einem besonderen Gegenstand seine universalhistorische Betrachtungsweise geltend machte. Über die Wahl dieses Gegenstands entschied dann nicht nur das Interesse, mit dem ihn die venezianischen Gesandtschaftsberichte gefangennahmen, sondern auch sein Sinn für das offen an der Sonne Zutageliegende und ein innerer Zug der Sympathie zu der Epoche, die vom Machtstreben großer Staaten und bedeutender Fürsten erfüllt war. »Es setzt sich mir allmählich eine Geschichte der wichtigsten Momente der neueren Zeit fast ohne mein Zutun zusammen, sie bis zur Evidenz zu bringen und zu schreiben, wird das Geschäft meines Lebens sein.« So wurde der Gegenstand seiner Erzählungskunst die Ausbildung der modernen Staaten, ihr Kampf um die Macht, die Rückwirkung desselben auf ihre inneren Zustände, in einer Folge von Nationalgeschichten.

In diesen Werken äußert sich ein Wille und eine Kraft zu geschichtlicher Objektivität ohnegleichen. Das universale Mitfühlen der historischen Werte, die Freude an der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Erscheinungen, die allseitige Empfänglichkeit für alles Leben, wie sie Herder erfüllte, wie sie in Joh. Müller bis zur Ohnmacht des empfänglichen Geistes gegenüber den geschichtlichen Kräften wirksam war – diese eigenste Fähigkeit des deutschen Geistes erfüllt Ranke ganz. Er arbeitete nicht[120] ohne Einwirkung Hegels, aber vor allem doch im Gegensatz zu ihm; hat er doch überall Mittel von rein historischer Art ausgebildet, den unendlichen Reichtum des Geschehenen in einen objektiven historischen Zusammenhang zu bringen, ohne doch zu philosophischer Geschichtskonstruktion zu greifen. Hierin offenbart sich uns der eigenste Grundzug seiner Geschichtschreibung. Wirklichkeit will sie erfassen, wie sie ist. Ihn erfüllte jener Wirklichkeitssinn, der allein einen Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften schaffen kann. Niemand hat, im Gegensatz zu den an die Historiker oft gestellten Anforderungen, direkt auf das Leben zu wirken durch Stellungnahme in dessen Kämpfen, so erfolgreich als Ranke den Charakter der Geschichte als einer objektiven Wissenschaft vertreten. Wir können nur dann eine wahre Wirkung auf die Gegenwart ausüben, wenn wir von derselben zunächst absehen und uns zu freier objektiver Wissenschaft erheben. Dies Ziel führte dann auch in Ranke zur Ausbildung aller Mittel der Kritik. Der Geist Niebuhrs lebte in ihm fort, wie der kritische Anhang zu seinem ersten Hauptwerk am besten zeigt.

Neben Ranke eröffnen zwei andere große Historiker der Zeit neue Blicke in den Aufbau der geschichtlichen Welt.

Carlyle zeigt denselben unaufhaltsamen Willen, in die Wirklichkeit zu dringen, von einer anderen Seite. Er sucht den geschichtlichen Menschen – den Helden. Wenn Ranke ganz Auge ist, in der gegenständlichen Welt lebt, beruht Carlyles Geschichtschreibung auf dem Ringen mit dem Problem des inneren Lebens; so ergänzen sich diese beiden, wie die beiden Richtungen der Poesie, deren eine vom Gegenständlichen und die andere von der Entwicklung des eigenen Wesens ausgeht. Den Kampf, den Carlyle in sich durchgemacht hatte, verlegte er in die Geschichte. Sein selbstbiographischer philosophischer Roman ist daher der Schlüssel für seine Geschichtschreibung. Seine einseitige und ganz singulare Genialität war von intuitiver Art. Alles Große entsteht nach ihm aus dem Wirken der verbindenden und organisierenden Kräfte des Glaubens und der Arbeit. Sie schaffen die äußeren Formen der Gesellschaft in Wirtschaftsleben,[121] Recht und Verfassung. Die Epochen, in denen die verbindenden Kräfte selbständig, aufrichtig, verknüpfend wirksam sind, nennt er positive Zeitalter – eine Bezeichnung, in der ihm die Physiokraten voraufgegangen waren. Nachdem die positiven Zeitalter auf der Grundlage des Glaubens einen festen Bestand von Institutionen hervorgebracht haben, löst das fortschreitende Denken diesen Gehalt auf, und die negativen Zeiten brechen nun an. Die Verwandtschaft dieser Grundanschauung mit der deutschen historischen Schule und Schellings Geschichtsphilosophie ist unverkennbar. Carlyles intuitiver Geist entfaltet aber seine größte Macht erst in der Anwendung dieser Gedanken auf die Auffassung der großen historischen Menschen – die Gestalter des Lebens und der Gesellschaft aus dem Glauben. Tiefer als irgend jemand vor ihm hat er in ihren Seelen gelesen: die Innerlichkeit ihres Willens vergegenwärtigt er sich in jeder ihrer Mienen, Gebärden, dem Tonfall ihrer Sprache. Der Dichter oder Denker, der Politiker oder das religiöse Genie ist nicht verständlich aus einzelnen Begabungen, sondern nur aus der einfachen Kraft, durch einen Glauben die Menschen zu verbinden und zu bezwingen. In dem allen spricht sich Fichtes Einfluß auf ihn deutlich aus.

Der dritte unter den originalen historischen Köpfen der Zeit Rankes war Tocqueville. Er ist der Analytiker unter den geschichtlichen Forschem der Zeit, und zwar unter allen Analytikern der politischen Welt der größte seit Aristoteles und Machiavelli. Wenn Ranke und seine Schule mit peinlicher Sauberkeit die Archive ausbeuteten, um das ganz Europa umspannende Geflecht diplomatischer Aktionen in der modernen Zeit zu erfassen, so dienen Tocqueville die Archive für einen neuen Zweck. Er sucht in ihnen das Zuständliche, das für das Verständnis der inneren politischen Struktur der Nationen Bedeutsame: seine Zergliederung ist auf das Zusammenwirken der Funktionen in einem modernen politischen Körper gerichtet, und er zuerst hat mit der Sorgfalt und Peinlichkeit des sezierenden Anatomen jeden Teil des politischen Lebens der in der Literatur, den Archiven und dem Leben selbst[122] zurückgeblieben ist, für das Studium dieser inneren und dauernden Strukturverhältnisse verwertet. Er hat die erste wirkliche Analyse der amerikanischen Demokratie gegeben. Die Erkenntnis, daß in dieser »die Bewegung«, »die kontinuierliche, unwiderstehliche Tendenz« bestehe, eine demokratische Ordnung in allen Staaten hervorzubringen, erhob sich in ihm aus der Entwicklung der Gesellschaft in den verschiedenen Ländern. Diese seine Erkenntnis hat sich seitdem durch die Vorgänge in allen Teilen der Welt bestätigt. Als echter historischer und politischer Kopf sieht er in dieser Richtung der Gesellschaft weder einen Fortschritt noch etwas in jeder Hinsicht Schädliches. Die politische Kunst muß eben mit ihr rechnen und in jedem Lande die ihm gemäße politische Ordnung dieser Richtung der Gesellschaft anpassen. Und in seinem anderen Buche drang Tocqueville zuerst in den wirklichen Zusammenhang der politischen Ordnung Frankreichs im 18. Jahrhundert und der Revolution. Eine politische Wissenschaft solcher Art gestattete auch Anwendungen auf die politische Praxis. Besonders fruchtbar erwies sich seine Fortbildung des aristotelischen Satzes, daß die gesunde Verfassung jedes Staates auf dem richtigen Verhältnis der Leistungen und Rechte beruhe und die Verkehrung dieses Verhältnisses, welche Rechte in Privilegien verwandelt, die Auflösung herbeiführen müsse. Eine andere bedeutende Anwendung seiner Analysen auf die Praxis lag in der Erkenntnis der Gefahren einer überspannten Zentralisation und in der Einsicht in den Segen der Selbsttätigkeit und Selbstverwaltung. So leitete er aus der Geschichte selbst fruchtbare Generalisationen ab, und damit entstand aus einer neuen Analyse vergangener Wirklichkeiten ein neues gründlicheres Verhältnis zur gegenwärtigen.

Ich möchte sagen, daß sich in diesem ganzen Verlauf der Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins vollzogen hat. Dies erfaßt alle Phänomene der geistigen Welt als Produkte der geschichtlichen Entwicklung. Unter seinem Einfluß wurden die systematischen Geisteswissenschaften auf Entwicklungsgeschichte und vergleichendes Verfahren gegründet. Indem Hegel den Gedanken[123] der Entwicklung zum Mittelpunkt der Geisteswissenschaften machte, die unter dem Schema des Fortganges in der Zeit stehen, verknüpfte er durch diesen Gedanken den Rückblick in die Vergangenheit mit dem Fortschreiten in die Zukunft, in das Ideal. Die Geschichte erhielt eine neue Würde. Bis auf die Gegenwart hat das so geschaffene geschichtliche Bewußtsein in bedeutenden Historikern sich auf immer neue Gebiete und in immer neue Probleme erstreckt und es hat die Wissenschaften der Gesellschaft umgestaltet. Diese bedeutsame Entwicklung, in welcher die Tendenz, das objektive Wissen von der geistigen Welt sowohl in den Gesellschaftswissenschaften als in der Geschichte reiner und strenger herauszuarbeiten, sich emporringt im Streit mit der Herrschaft politischer und sozialer Bestrebungen, bedarf hier keiner Darstellung, da ihre Probleme die der nachfolgenden Untersuchungen selber sind.

Die Theorie soll den so entstandenen Zusammenhang der Geisteswissenschaften in Begriffen darstellen und erkenntnistheoretisch begründen. Und wenn man von Ranke ausgeht und die historische Schule mit ihm verbindet, so entsteht ein zweites Problem. Ranke verlegt in seinen großen Geschichtswerken Sinn, Bedeutung, Wert der Zeitalter und Nationen in diese selbst. Sie sind gleichsam in sich selbst zentriert. In diesen Werken wird nie an einem unbedingten Wert oder Grundgedanken oder Zweck die historische Wirklichkeit gemessen. Fragt man dann nach dem inneren Verhältnis, das in der Stufenfolge von Individuum, Gemeinsamkeit, Gemeinschaften diese Zentrierung der Geschichte in sich selbst möglich macht, so greifen hier die Studien der historischen Schule ein. Dies geschichtliche Denken selbst will erkenntnistheoretisch begründet und durch Begriffe verdeutlicht, nicht aber durch irgendeine Beziehung auf ein Unbedingtes, Absolutes ins Transzendentale oder Metaphysische umgewandelt werden.


4.

[124] So haben vom Ende des 18. Jahrhunderts ab bis in die zweite Hälfte des 19. die Geisteswissenschaften von Deutschland aus durch die Feststellung des wahren Zusammenhanges ihrer Aufgaben allmählich das Stadium erreicht, das ermöglichte, an das logische und erkenntnistheoretische Problem derselben heranzutreten. Die geschichtliche Welt als ihr einheitlicher Gegenstand und das geschichtliche Bewußtsein als ein einheitliches Verhältnis zu ihr waren nun aufgegangen. Alle weiteren Fortschritte der Geisteswissenschaften, so bedeutend sie waren, erweiterten nur den von der Aufklärungszeit ab allmählich gewonnenen Zusammenhang, der jede geschichtliche Einzelforschung unter den universalhistorischen Standpunkt stellte, auf die so verstandene Geschichte die Geisteswissenschaften gründete und Philologie, Kritik, Geschichtschreibung, komparative Methoden und Entwicklungsgeschichte zu einem Ganzen verknüpfte. So wurde die Geschichte philosophisch, sie erhielt durch Voltaire, Montesquieu, Kant, Herder, Schiller, Hegel eine neue Würde und Bedeutung, und durch die historische Schule erhielt das Nachdenken über sie in dem dargelegten großen Zusammenhang seine Grundlage. Langsam und allmählich von damals bis heute hat die Theorie der Geschichte die Einsicht der historischen Schule in jenen Zusammenhang verwertet, und wir stehen noch mitten in der Lösung dieser Aufgabe. Aber welche Positionen auch in diesem Verlauf ergriffen wurden: alle sind sie am großen Faktum des neuen Aufbaus der Geisteswissenschaften orientiert.

Schriften über das Studium der Geschichte hatten die Entwicklung der Geschichtschreibung in der neueren Zeit immer begleitet, und ihre Zahl war in der Periode der Aufklärung in den verschiedenen Kulturländern beständig gewachsen. Insbesondere begann seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts der Kampf der Skepsis gegen alle Klassen des Wissens, er richtete sich auch gegen die historische Überlieferung, und hieraus sind starke Antriebe zu methodischer Betrachtung hervorgegangen. Neben[125] den so entstandenen Arbeiten zur Begründung des historischen Wissens machten sich im Universitätsbetrieb Enzyklopädien der Geschichtswissenschaft geltend. Aber welch ein Abstand ist selbst zwischen Wachsmuths Versuch einer Theorie der Geschichte, der 1820 auf der Höhe der neuen Geschichtschreibung hervorgetreten ist, und der gleichzeitigen Schrift Humboldts, die vom Geist der neuen Geschichtschreibung ergriffen war. Hier besteht eine feste Grenze.

Die neue Theorie der Geschichte hatte naturgemäß in dem deutschen philosophischen Idealismus und in der Umwälzung der historischen Wissenschaft ihre beiden Ausgangspunkte. Von dem ersteren ist auszugehen.

Es war Kants Problem gewesen, wie ein einheitlicher Zusammenhang, »ein regelmäßiger Gang« im geschichtlichen Verlauf aufgefunden werden könne. Er fragt nicht in erkenntnistheoretischer Absicht nach den Bedingungen des in der vorhandenen Wissenschaft bestehenden Zusammenhanges, sondern seine Frage geht dahin, wie aus dem Sittengesetz, dem alles Handeln unterstellt ist, Prinzipien für die Auffassung des historischen. Stoffes a priori abgeleitet werden können. Der geschichtliche Verlauf ist ein Glied des großen Naturzusammenhanges; dieser kann aber vom Auftreten des Organischen aufwärts nicht einer Erkenntnis seiner Ordnung nach Kausalgesetzen unterworfen werden, sondern er ist nur der teleologischen Betrachtungsweise zugänglich. So verneint Kant die Möglichkeit, in Gesellschaft und Geschichte Kausalgesetze aufzufinden, er unternimmt dagegen, die Ziele des Fortschrittes, wie sie die Aufklärung in der Vollkommenheit, der Glückseligkeit, der Entwicklung unserer Fähigkeiten, unserer Vernunft, der Kultur überhaupt aufgestellt hatte, mit dem Apriori des Sittengesetzes in Verbindung zu bringen und so den Sinn und die Bedeutung des teleologischen Zusammenhanges a priori festzulegen. Damit vollzieht Kant also einfach eine Umsetzung der in der Wolffischen Schule angenommenen Pflicht zur Vollkommenheit, als des teleologischen Prinzipes für den geschichtlichen Fortschritt, in sein Apriori des Sittengesetzes. Und auch der Gegensatz der[126] empirischen und philosophischen Wissenschaften bei Wolff kehrt wieder in dem Gegensatz der empirischen, anthropologischen Auffassung des Menschengeschlechtes und der von der praktischen Vernunft geforderten apriorischen. Die teleologische Betrachtung der Geschichte, als des Fortschrittes in der Entwicklung derjenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch der Vernunft abzielen, zur Herrschaft derselben in einer allgemein das Recht verwaltenden Gesellschaft, zu einer »vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung« als der »höchsten Aufgabe der Natur für die Menschengattung«, ist der Leitfaden a priori, durch welchen das so verworrene Spiel menschlicher Dinge erklärbar wird. Stärker als in der in ihrer Abgrenzung durch den Anlaß und »die weltbürgerliche Absicht ›eingeschränkten‹ Idee zu einer allgemeinen Geschichte « tritt es an anderen Stellen hervor, wie die rechtliche Friedensgesellschaft, welche die Machtverhältnisse überwinden soll, ihre Rechtfertigung vor der Vernunft darin hat, daß sie ein aus Pflichtanerkennung hervorgehender Zustand, nicht ein »bloßes physisches Gut« sein würde und sich durch ihren Bestand ein »großer Schritt zur Moralität« vollzöge. Kants Bedeutung auf diesem Gebiet liegt sonach zunächst darin, daß er den transzendentalen philosophischen Standpunkt, wie er und Fichte ihn begründeten, auf die Geschichte angewandt hat und damit eine dauernde Geschichtsauffassung inaugurierte, deren Wesen in der Aufstellung eines absoluten, im Wesen der Vernunft selbst begründeten Maßstabes, eines Unbedingten als Wert oder Norm liegt: sie hat ihre Kraft darin, daß sie dem Handeln die bestimmte, sich durch ihre sittliche Tendenz selbst rechtfertigende Richtung auf ein festes Ideal anwies und jeden Teil der Geschichte nach seiner Abzweckung auf die Erfüllung dieses Ideals abschätzte.

Von diesem prinzipiellen Gesichtspunkt aus ergeben sich noch weitere bedeutungsvolle Bestimmungen. Die Herrschaft der Vernunft realisiert sich nur in der Gattung. Dieses Ziel wird aber nicht durch friedliches Zusammenwirken der einzelnen erreicht. »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß[127] besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.« Sie erreicht eben durch die Bewegung der Leidenschaften, der Selbstsucht, des Widerstreites der Kräfte ihre Absicht.

Der Einfluß der Ideen Kants traf mit der Anlage und dem Lebensgang Friedr. Chr. Schlossers zusammen. In seiner Geschichtschreibung gelangte dieser Standpunkt Kants zur Geltung. Er stellte jede geschichtliche Einzelarbeit unter den universalhistorischen Standpunkt; er unterwarf die historische Persönlichkeit einem starren Moralbegriff und vernichtete so den Sinn für den Glanz des geschichtlichen Lebens und den individuellen Reiz der großen Persönlichkeit. So vermag sie den Dualismus nicht aufzulösen, der zwischen diesem moralischen Urteil und der Anerkennung der moralfreien Tendenz der Staaten zur Macht und der skrupellosen politischen Größe besteht. Wie Schlosser mit Kant den Mittelpunkt der Geschichte in der Kultur sucht, ist die kulturhistorische Betrachtung die Grundtendenz seiner Geschichtsbehandlung, und die Geschichte des geistigen Lebens ist die glänzendste Partie seiner Arbeiten: man kann wohl sagen, daß auf ihnen Gervinus' Darstellung unserer Nationalliteratur im 18. Jahrhundert in ihren Grundzügen beruht. Schlosser bringt den Wert der stillen tiefen Innerlichkeit allem Gepränge der Welt gegenüber zur Geltung und zur Anerkennung, und das Größte: seine Historie verfolgte den Zweck, sein Volk zu einer praktischen Weltanschauung zu erziehen.8

Der transzendentalphilosophische Standpunkt geht von dem Gegebenen zu dessen apriorischen Bedingungen. Auch Fichte hält ihn nun der Geschichtsphilosophie Hegels gegenüber fest: das Faktische, Historische kann niemals »metaphysiziert« werden, die Kluft zwischen ihm und den Ideen kann nicht durch Begriffsdichtung ausgefüllt, das Unbedingte nicht in den Fluß der Geschichte, als ein ideeller Zusammenhang desselben durch Begriffe, aufgelöst werden. Die Ideen stehen wie die Sterne über dieser Welt, die dem Menschen den Weg weisen.[128]

Von diesem Standpunkt aus machte nun Fichte über Kant hinaus einen bedeutenden Fortschritt in der Geschichtsauffassung. Seine Entwicklung verlief von der Kantschen Aufklärung bis zu den oben skizzierten Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins. In der Zeit zwischen der Katastrophe von Jena und dem Beginn der Befreiungskriege erlebte er die Verlegung aller Interessen des deutschen Geistes in die geschichtliche Welt und in den Staat. In dieselbe Zeit fiel in der Wissenschaft die Hinwendung der Romantik zur Geschichte, Schellings Konstruktion der letzteren, Hegels Phänomenologie des Geistes und der Beginn seiner Logik. Dies waren die Verhältnisse, unter denen Fichte das Problem erfaßte, wie aus der ideellen Ordnung die Geschichte verständlich werde. Dagegen stellte er sich so wenig wie Kant die erkenntnistheoretische Frage, wie das in der tatsächlich bestehenden Geschichtswissenschaft enthaltene Wissen vom Zusammenhang der Geschichte möglich sei. Er unterwarf vielmehr von Anfang an die Summe der historischen Begebenheiten dem apriorischen Wertungsgesichtspunkt seines Moralprinzipes, der den Grundgedanken in allen seinen geschichts-philosophischen Untersuchungen bis zu ihrem letzten Schritt in der »Deduktion des Gegenstandes der Menschengeschichte« bildet. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint die Geschichte als ein durch die Freiheitstat des absoluten Ich gegründeter und in der zeitlichen Entwicklung des Menschengeschlechtes verlaufender Zusammenhang, in welchem sich, dem göttlichen Weltplan gemäß, die »Kultivierung der Menschheit« vollzieht. »Dem Philosophen entwickelt sich das Universum der Vernunft rein aus dem Gedanken als solchen.« Und »die Philosophie ist zu Ende«, wo »das Begreifliche zu Ende ist.« Der Philosoph der Geschichte »sucht daher den ganzen Strom der Zeit hindurch nur dasjenige auf, und beruft sich darauf, wo die Menschheit wirklich ihrem Zweck entgegen sich fördert, liegen lassend und verschmähend alles andere.« Sonach wird hier von dem Gesichtspunkt eines unbedingten Wertes aus eine Auswahl des geschichtlichen Stoffes getroffen und ein Zusammenhang hergestellt. Der »empirische Historiker«, der »Annalist« dagegen[129] geht aus von dem faktischen Dasein der Gegenwart. Deren Zustand strebt er möglichst genau zu erfassen und die Voraussetzungen ihres Eintretens in früheren Fakten aufzudecken. Seine Aufgabe ist es, die historischen Fakten sorgsam zu sammeln, ihre Abfolge und ihren Wirkungszusammenhang in der Zeit aufzuzeigen. »Die Geschichte ist bloße Empirie; nur Fakta hat sie zu liefern, und alle ihre Beweise können nur faktisch geführt werden.« Diese Feststellungen des Historikers dienen der philosophischen Deduktion nicht zum Beweise, sondern lediglich zur Erläuterung. In dem Bereiche dieser beiden Verfahrungsweisen kann allein das liegen, was Fichte einmal als »Logik der historischen Wahrheit« bezeichnet, und was also nicht eine bewußte methodologische Analyse der Geschichtswissenschaft bedeuten kann. Doch ist anzuerkennen, daß sich ihm auf dem Wege seiner teleologischen Deduktion bedeutende Gedanken ergaben. Er sonderte die Physik, die das Beharrliche und periodisch Wiederkehrende des Daseins zu ihrem Gegenstand hat, und die Geschichte, deren Objekt der Verlauf in der Zeit ist, voneinander. Dieser Verlauf ward ihm aber von seiner Wissenschaftslehre aus Entwicklung: war doch auch Hegels Entwicklungsbegriff von Fichte aus konzipiert.9 Schon die theoretische und praktische Wissenschaftslehre wollte die innere Dialektik des realen Fortganges darstellen, wie er aus dem schöpferischen Vermögen des Ich hervorgeht; sie wollte dem Gang der Begebenheiten im Ich nachgehen und eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes entwerfen. Hier war der Begriff der Entwicklung in den Bestimmungen gefunden, daß im Ich alles Tätigkeit ist, jede Tätigkeit von innen beginnt und ihr Vollzug die Bedingung der folgenden Tätigkeit ist. In der Deduktion von 1813 ringt nun Fichte mit derselben Intuition der freien Kraft im Ich im Gegensatz zur Natur, die ruhend und tot ist. Die Geschichte zeigt einen teleologisch notwendigen Zusammenhang, dessen einzelne Glieder hervorgebracht sind durch die Freiheit und deren Richtpunkt im Sittengesetz liegt. Jedes Glied dieser Reihe ist ein tatsächliches,[130] einmaliges, individuelles. Der Wert, den Kant in die Person verlegte, sofern in ihr sich das Sittengesetz realisiert, fiel für Fichte wie für Schleiermacher in die Individualität; wenn die rationalistische Auffassung nur in dem Vollzug des allgemeinen Sittengesetzes den Wert der Person sah, und das Individuelle ihr so zu einer empirischen, zufälligen Beimischung wurde, so verband Fichte die Bedeutung des Individuellen nun tiefer mit dem Problem der Geschichte: er vereinigte mit der Richtung auf den Gattungszweck den Wert des Individuellen durch den tiefen Gedanken, daß die schöpferischen Individuen jenen Zweck von einer neuen bisher verborgenen Seite erfassen, ihm eine neue Gestalt in sich geben und daß so ihr individuelles Dasein zu einem wertvollen Moment im Zusammenhang des geschichtlichen Ganzen erhoben wird. Fichtes heroische Natur, die Aufgabe der Zeit und sein historisches Problem verbanden sich zu einer neuen Schätzung des Wertes der Tat und des handelnden Menschen. Er verstand aber zugleich das Heldentum des religiösen Sehers, des Künstlers, des Denkers. Hierin bereitete er Carlyle vor. Das Einmalige und Tatsächliche in der Geschichte erhält eine neue Bedeutung, indem es als die Leistung des schöpferischen Vermögens und der Freiheit aufgefaßt wird. Und wenn er nun die Irrationalität des Geschichtlichen von diesem Standpunkt aus begreift, so muß er dem Irrationalen selber nach dessen Wesen als Tat der Freiheit und seiner Beziehung auf Kultur und sittliche Ordnung nun einen Wert zuschreiben.

Neben diesen Theorien über Geschichte, welche den transzendental-philosophischen Standpunkt zur Geltung brachten, haben sich zu derselben Zeit schon solche von anderen Richtungen aus entwickelt, die ebenfalls eine dauernde Geltung behauptet haben. Vom Standpunkt der Naturforschung her entstanden in Frankreich und England Arbeiten, von denen sich die französischen vorwiegend auf die Evolution des Universums, die Geschichte der Erde, die Entstehung von Pflanzen und Tieren auf ihr, ferner auf die Verwandtschaft des Typus der höchsten Tiere mit dem des Menschen, endlich auf den gesetzlichen Zusammenhang[131] der menschlichen Geschichte und die Aufzeichnung des intellektuellen und sozialen Fortschritts in ihr gründeten, die englischen dagegen die neue Assoziationspsychologie und ihre Anwendungen auf die Gesellschaft zur Grundlage nahmen. Ihre Fortentwicklung in Comte und Mill wird später dargestellt werden. Eine weitere Richtung bildeten zu derselben Zeit die deutschen Monisten, Schelling, Schleiermacher und Hegel aus, welche den geschichtlichen Verlauf einer begrifflichen Konstruktion zugänglich zu machen unternahmen.10

Und nun folgte seit den zwanziger Jahren in Deutschland eine Zeit, in welcher die historische Schule den Zusammenhang ihres methodischen Verfahrens entwickelt, der Idealismus seine verschiedenen Formen ausgebildet hatte und die Verbindung beider Ideenkreise die ganze geisteswissenschaftliche Literatur durchdrang. Damals sind aus der großen Bewegung der Geschichtsforschung selber mehrere Schriften über die Theorie der Geschichte hervorgegangen. Wie die geschichtlichen Studien die philosophischen Richtungen vielfach beeinflußt haben, so machte sich umgekehrt auf die historischen Denker ein erheblicher Einfluß der Transzendentalphilosophie Hegels und Schleiermachers geltend. Sie gingen auf die im Menschen wirksame schaffende Kraft zurück; sie erfaßten dieselbe in dem Gemeingeist und in den organisierten Gemeinschaften; sie suchten über das Zusammenwirken der Nationen hinaus einen im Unsichtbaren gegründeten Zusammenhang der Geschichte. Hieraus entstand nun in den allgemeinen Betrachtungen von Humboldt, Gervinus, Droysen u. a. der Begriff der Ideen in der Geschichte.

Die berühmte Abhandlung Humboldts über die Aufgabe des Geschichtsschreibers geht von dem transzendental-philosophischen Satze aus: was in der Weltgeschichte wirksam ist, bewegt sich auch im Innern des Menschen. Im Einzelmenschen liegt Humboldts Ausgangspunkt. Die Zeit suchte eine neue Kultur in der Gestaltung der Persönlichkeit; indem sie nun eine solche[132] in der griechischen Welt verwirklicht fand, entstand das Ideal der griechischen Humanität; aber dieses erhielt in seinen wichtigsten Vertretern, wie Humboldt, Schiller, Hölderlin, Fr. Schlegel in seiner ersten Periode, durch die Transzendentalphilosophie eine neue Tiefe. Man hatte den Selbstwert der Person in der Schule von Leibniz als Vollkommenheit bestimmt, in der von Kant erschien er als Würde aus dem Selbstzweck der Person und in der von Fichte als Energie der Gestaltung: in jeder dieser Formen enthielt dieses Ideal im Hintergrund des individuellen Daseins eine allgemeingültige Regelhaftigkeit des menschlichen Wesens, seiner Gestaltung und seines Zweckes. Hierauf beruhte nun in Humboldt wie zugleich in Schleiermacher die Anschauung von der transzendentalen Einheit der menschlichen Natur in allen Individuen, auf welcher die organisierten Gemeinschaften und der Gemeingeist beruhen, die sich in Rassen, Nationen, Einzelpersonen individualisiert und die in diesen Formen als höchste bildende Kraft wirksam ist. Und indem nun die schaffende Kraft dieser sich im Individuellen verwirklichenden Menschlichkeit mit dem Unsichtbaren in Beziehung gesetzt wurde, entstand der Glaube an die Realisierung des der Menschheit eingepflanzten Ideals durch die Geschichte. »Das Ziel der Geschichte kann nur die Verwirklichung der durch die Menschen darzustellenden Idee sein, nach allen Seiten hin, und in allen Gestalten, in welchen sich die endliche Form mit der Idee zu verbinden vermag.« Hieraus ergab sich Humboldts Begriff der Ideen in der Geschichte. Sie sind schaffende Kräfte, die in der transzendentalen Allgemeingültigkeit der Menschennatur gegründet sind. Sie gehen, wie das Licht durch die irdische Atmosphäre, durch die Bedürfnisse, die Leidenschaften und den scheinbaren Zufall hindurch. Wir gewahren sie in den ewigen Urideen der Schönheit, der Wahrheit und des Rechtes; sie geben zugleich dem historischen Verlauf Kraft und Ziel; sie äußern sich als Richtungen, die unwiderstehlich die Massen ergreifen, als Krafterzeugung, die in ihrem Umfang und ihrer Erhabenheit aus den begleitenden Umständen nicht abgeleitet werden kann. Wenn der Geschichtsschreiber die[133] Gestalt und die Umwandlungen des Erdbodens, die Veränderungen des Klimas, die Geistesfähigkeit und Sinnesart der Nationen, die noch eigentümlichere einzelner, die Einflüsse der Kunst und Wissenschaft, die tief eingreifenden und weit verbreiteten der bürgerlichen Einrichtungen durchforscht hat, so bleibt ein nicht unmittelbar sichtbares, aber mächtigeres Prinzip übrig, das jenen Kräften Anstoß und Richtung verleiht – die Ideen. Schließlich haben sie in der göttlichen Weltregierung ihren letzten Grund. Der Handelnde muß an die Tendenz, welche die Idee enthält, sich anschließen, um zu positiven historischen Wirkungen zu gelangen. Sie zu erfassen, ist auch des Geschichtsschreibers höchstes Ziel. Wie die freie Nachahmung des Künstlers von Ideen geleitet ist, so hat auch der Geschichtsschreiber über das Wirken der endlichen Kräfte am Geschehenen hinaus solche Ideen zu erfassen. Er ist Künstler, der diesen unsichtbaren Zusammenhang in den Begebenheiten aufzeigt. Inmitten der großen Bewegung der Geisteswissenschaften hat Humboldt seine Abhandlung im Beginn der zwanziger Jahre veröffentlicht. Sie hat, indem sie die in jener Bewegung zusammenwirkenden Momente zum Ausdruck bringt, eine außerordentliche Wirkung ausgeübt.

Im Jahr 1837 erschienen die Grundzüge der Historik von Gervinus; sie lieferten zwar eine umfassende Kenntnis der historischen Literatur, ihrer Formen und Richtungen hinzu: ihr Kern aber war doch noch dieselbe historische Stimmung und dieselbe Grundansicht von den historischen Ideen, welche »unsichtbar Begebenheiten und äußere Erscheinung durchdringen«: die Vorsehung offenbart sich an ihnen: ihrem Wesen und Wirken nachzuspüren, ist das eigentliche Geschäft des Historikers. Auch Rankes Anschauungen über die Geschichte, die sich Hand in Hand mit seinen Arbeiten allmählich ausgebildet haben, sind Humboldt noch verwandt, erfassen aber die historische Bewegung weit lebendiger und wahrer. Die Ideen sind ihm die Tendenzen, die von der historischen Lage hervorgetrieben werden, »sie sind moralische Energien«, immer sind sie einseitig, sie verkörpern sich in den großen Persönlichkeiten und wirken[134] durch sie: eben auf der Höhe ihrer Macht regen sich die Gegenwirkungen, und so verfallen sie dem Schicksal jeder endlichen Kraft. Sie können nicht in Begriffen ausgedrückt werden; »aber anschauen, wahrnehmen kann man sie«, wir haben ein Mitgefühl ihres Daseins. Indem Ranke dann den Verlauf der Geschichte unter den Gesichtspunkt der göttlichen Weltregierung stellt, werden sie ihm zu den »Gedanken Gottes in der Welt«. In ihnen »liegt das Geheimnis der Weltgeschichte«. In bewußtem Gegensatz zu Ranke und doch durch den gemeinsamen Idealismus der Epoche ihm innerlich verwandt ist dann die Historik von Droysen 1868 hervorgetreten. Noch tiefer als Humboldt ist Droysen durchdrungen von der Spekulation der Zeit, von dem Begriff wirkender Ideen in der Geschichte, von einer äußeren Teleologie im historischen Zusammenhang, welche den Kosmos der sittlichen Ideen hervorbringt. Er unterstellt die Geschichte der sittlichen Ordnung der Dinge; das widersprach der unbefangenen Ansicht des wirklichen Weltlaufes; es war der Ausdruck des Glaubens an den unbedingten ideellen Zusammenhang der Dinge in Gott.

Bedeutende Blicke sind in diesen Arbeiten enthalten; Droysen zuerst hat die hermeneutische Theorie von Schleiermacher und Boeckh für die Methodik verwertet. Aber ein theoretischer Aufbau der Geisteswissenschaften ist von diesen Denkern nicht erreicht worden. Humboldt lebt in dem Bewußtsein der neuen Tiefe unserer deutschen Geisteswissenschaft, die in die Allgemeingültigkeit des Geistes zurückgeht; so erfaßt er zuerst, daß der Historiker trotz seiner Gebundenheit an den Gegenstand doch aus seinem Inneren schafft; er erkennt seine Verwandtschaft mit dem Künstler. Und alles, was in der historischen Forschung gearbeitet wurde, ist im engen Rahmen seiner Abhandlung irgendwie enthalten und zusammengenommen. Aber ihm ist auch hier die Gliederung seiner tiefen Totalanschauung versagt. Der letzte Grund hiervon ist, daß er das Problem der Geschichte nicht in Zusammenhang zu der erkenntnistheoretischen Aufgabe, die uns die Geschichte stellt, gesetzt hat; diese Frage hätte ihn zu der umfassenderen Untersuchung des Aufbaues der geschichtlichen[135] Welt in den Geisteswissenschaften und hierdurch zur Erkenntnis der Möglichkeit des objektiven geisteswissenschaftlichen Wissens geführt. Seine Abhandlung hat schließlich zum Gegenstand, wie unter den Voraussetzungen der idealistischen Weltanschauung Geschichte aussieht und Geschichte zu schreiben ist. Seine Ideenlehre ist die Explikation dieses Standpunktes. Eben das Rückständige in der Einmischung des religiösen Glaubens und einer idealistischen Metaphysik in die historische Wissenschaft wurde für Humboldt und die Denker über Geschichte, die ihm folgten, zum Mittelpunkt der Geschichtsauffassung. Anstatt in die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der historischen Schule und die des Idealismus von Kant bis Hegel zurückzugehen und so die Unvereinbarkeit dieser Voraussetzungen zu erkennen, haben sie diese Standpunkte unkritisch verbunden. Der Zusammenhang zwischen den neukonstituierten Geisteswissenschaften, dem Problem einer Kritik der historischen Vernunft und dem Aufbau einer geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften ist ihnen nicht aufgegangen.

Die nächste Aufgabe war, der Geschichte gegenüber eine solche rein erkenntnistheoretische und logische Fragestellung geltend zu machen und von ihr die Versuche einer philosophischen Konstruktion des geschichtlichen Verlaufes, wie sie Fichte mit seinen fünf Epochen und Hegel mit seinen Stufen der Entwicklung unternommen hatten, auszuscheiden. Jene Fragestellung mußte gesondert werden von der des Geschichtsphilosophen, um die verschiedenen Stellungen, welche der Erkenntnistheoretiker und Logiker in diesem Gebiete einnehmen können, folgerichtig durchzuführen. Von den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart haben sich die verschiedenen Standpunkte zur Lösung der bezeichneten Aufgabe entwickelt. Früher eingenommene Positionen formten sich jetzt um; neue traten hervor: überblickt man deren Mannigfaltigkeit, so macht sich in ihnen ein oberster Gegensatz geltend. Man versuchte die Lösung der Aufgabe entweder von unserem Idealismus aus, wie er sich von Kant bis Hegel ausgebildet hatte, oder man[136] suchte in der Realität der geistigen Welt selbst den Zusammenhang der Geschichte auf.

Von der ersten Stellung aus haben sich nun vorzüglich zwei Richtungen mit der Lösung der Aufgabe beschäftigt, wie dies durch den Gang der deutschen Spekulation bedingt war. Die erste derselben beruhte auf Kant und Fichte. Ihr Ausgangspunkt ist das allgemeine oder überindividuelle Bewußtsein, in welchem die transzendentale Methode ein Unbedingtes, wie Normen oder Werte, entdeckt. Die Bestimmung dieses Unbedingten und seines Verhältnisses zum Verständnis der Geschichte ist im Bereiche dieser großen und einflußreichen Schule eine sehr mannigfache. Die beiden letzten Voraussetzungen, zu denen die transzendentale Analyse Kants gelangt war, sein theoretisches und sein praktisches Apriori, wurden, indem man den Weg Fichtes weiter verfolgte, zu einem Einheitlich-Unbedingten zusammengenommen. Dieses konnte als Norm, als Idee oder als Wert gefaßt werden. Das Problem konnte entweder der Aufbau der geistigen Welt vom Apriori aus sein oder für den beschränkteren Kreis des individuellen geschichtlichen Verlaufes ein Prinzip der Auswahl und des Zusammenhanges.

Gegenüber dieser Richtung des deutschen Idealismus ist Hegels geniale Leistung für die Geschichte bis heute sehr zurückgetreten. Seine metaphysische Position war der Kritik von selten der Erkenntnistheorie aus erlegen. In den systematischen Geisteswissenschaften dagegen vollzieht sich bis auf diesen Tag eine Verbindung seiner großen Ideen mit der positiven Forschung. In der Geschichtsschreibung dauert seine Wirkung gerade auch in der Anordnung von Stufen des Geistes fort. Und die Zeit kommt heran, in welcher auch sein Versuch, einen Zusammenhang von Begriffen zu bilden, der den unablässigen Strom der Geschichte bewältigen kann, gewürdigt und verwertet werden wird.

Im Gegensatz zu dieser Theorie entstand nun eine Auffassung, welche jedes transzendentale und metaphysische Prinzip für das Verständnis der geistigen Welt verwirft. Diese verneint den Wert der transzendentalen und metaphysischen Methode. Sie leugnet jedes Wissen von einem unbedingten Wert, einer[137] schlechthin gültigen Norm, einem göttlichen Plan oder einem im Absoluten gegründeten Vernunftzusammenhang. Indem sie so die Relativität jedes menschlich, geschichtlich Gegebenen ohne Einschränkung anerkennt, hat sie zu ihrer Aufgabe, aus dem Stoff des Gegebenen ein objektives Wissen über die geistige Wirklichkeit und den Zusammenhang ihrer Teile zu gewinnen. Nur die Kombination der verschiedenen Arten des Gegebenen und der verschiedenen Verfahrungsweisen stehen ihr zur Lösung dieser Aufgaben zur Verfügung.

In der Gruppe, welche diesen Standpunkt in seiner Folgerichtigkeit theoretisch zu begründen unternommen hat, haben sich ebenso wie in der anderen sehr verschiedene Richtungen herausgebildet. Am meisten ist für die Verschiedenheit im Aufbau der geschichtlichen Welt ein Gegensatz bestimmend gewesen, der schon die Schulen von Comte und Mill geschieden hatte. Der Zusammenhang der geistigen Welt ist einerseits nur im psychischen Einzeldasein und anderseits im geschichtlichen Verlauf und den gesellschaftlichen Zuständen gegeben. Indem nun die Forschung diese beiden Arten von Gegebenheiten je nach ihrer Auffassung von ihrer Tragweite verschieden kombiniert, entsteht eine Mannigfaltigkeit von Verfahrungsweisen im Aufbau der Geisteswissenschaften von dieser Stellung aus. Sie erstreckt sich von denen, die ohne Psychologie auszukommen streben, bis zu denen, die ihr die Stellung in den Geisteswissenschaften zuerkennen, welche die Mechanik in den Naturwissenschaften einnimmt. Andere Differenzen machen sich geltend in der erkenntnistheoretischen und logischen Grundlegung des Aufbaus, in der Gestaltung der Psychologie oder der Wissenschaft von den Lebenseinheiten, der Bestimmung der Regelmäßigkeiten, die aus den sozialen Verhältnissen zwischen diesen Einheiten entstehen. Und von solchen Differenzen sind dann schließlich die mannigfachen Lösungen der letzten Fragen nach historischen und sozialen Gesetzen, nach Fortschritt, nach Anordnung in dem geschichtlichen Verlauf abhängig.


5.

[138] Ich versuche nun die Aufgabe zu bestimmen, welche innerhalb dieser wissenschaftlichen Bewegung die hier vorliegende Untersuchung über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften sich gesetzt hat. Sie schließt sich an den ersten Band meiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) an. Diese Arbeit war von der Aufgabe einer Kritik der historischen Vernunft ausgegangen. Sie stellte sich auf die Tatsache der Geisteswissenschaften, wie sie besonders in dem von der historischen Schule geschaffenen Zusammenhang dieser Wissenschaften vorlag, und suchte deren erkenntnistheoretische Begründung. In dieser Begründung setzte sie sich dem Intellektualismus in der damals herrschenden Erkenntnistheorie entgegen. »Mich führte historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend, fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen.«11 So waren ihre Ausgangspunkte das Leben und Verstehen (S. 10, 136 f.), das im Leben enthaltene Verhältnis von Wirklichkeit, Wert und Zweck, und sie unternahm, die selbständige Stellung der Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenüber darzutun, die Grundzüge des erkenntnistheoretisch-logischen Zusammenhangs in diesem vollständigen Ganzen aufzuzeigen und die Bedeutung der Auffassung des Singulären in der Geschichte zur Geltung zu bringen. Ich versuche jetzt den Standpunkt meines Buches dadurch eingehender zu begründen, daß ich von dem erkenntnistheoretischen Problem aus den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften untersuche. Der Zusammenhang zwischen dem Erkenntnisproblem und diesem Aufbau liegt darin, daß die Analyse dieses Aufbaus auf ein Zusammenwirken von Leistungen führt, welche durch eine solche Zergliederung nun der erkenntnistheoretischen Untersuchung zugänglich werden.[139]

Ich bezeichne zunächst kurz die Linie, die von dem bisher Erörterten zur Erkenntnis dieses Aufbaus führen soll, um schon hier den Gegensatz im Aufbau von Natur- und Geisteswissenschaften sichtbar zu machen. Die Tatsache der Geisteswissenschaften, wie sie sich in der Epoche ihrer Konstituierung herausgebildet haben, ist beschrieben worden; es zeigte sich ferner, wie diese Wissenschaften im Erleben und Verstehen begründet sind; so muß von hier aus ihr Aufbau, wie er in jener Tatsache ihrer selbständigen Konstituierung durch die historische Schule enthalten ist, aufgefaßt werden, und damit eröffnet sich der Einblick in die gänzliche Verschiedenheit dieses Aufbaus von dem dargelegten Aufbau der Naturwissenschaften. Die selbständige Eigenheit des Aufbaus der Geisteswissenschaften wird so zum Hauptthema dieser ganzen Arbeit.

Er geht vom Erlebnis aus, von Realität zu Realität; er ist ein sich immer tiefer Einbohren in die geschichtliche Wirklichkeit, ein immer mehr aus ihr Herausholen, immer weiter sich über sie Verbreiten. Es gibt da keine hypothetischen Annahmen, welche dem Gegebenen etwas unterlegen. Denn das Verstehen dringt in die fremden Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse. Natur, so sahen wir, ist ein Bestandteil der Geschichte nur in dem, was sie wirkt und wie auf sie gewirkt werden kann. Das eigentliche Reich der Geschichte ist zwar auch ein äußeres; doch die Töne, welche das Musikstück bilden, die Leinwand, auf der gemalt ist, der Gerichtssaal, in dem Recht gesprochen wird, das Gefängnis, in dem Strafe abgesessen wird, haben nur ihr Material an der Natur; Jede geisteswissenschaftliche Operation dagegen, die mit solchen äußeren Tatbeständen vorgenommen wird, hat es allein mit dem Sinne und der Bedeutung zu tun, die sie durch das Wirken des Geistes erhalten haben; sie dient dem Verstehen, das diese Bedeutung, diesen Sinn in ihnen erfaßt. Und nun gehen wir über das bisher Dargelegte hinaus. Dies Verstehen bezeichnet nicht nur ein eigentümliches methodisches Verhalten, das wir solchen Gegenständen gegenüber einnehmen; es handelt sich nicht nur zwischen Geistes- und Naturwissenschaften um einen Unterschied[140] in der Stellung des Subjekts zum Objekt, um eine Verhaltungsweise, eine Methode, sondern das Verfahren des Verstehens ist sachlich darin begründet, daß das Äußere, das ihren Gegenstand ausmacht, sich von dem Gegenstand der Naturwissenschaften durchaus unterscheidet. Der Geist hat sich in ihnen objektiviert, Zwecke haben sich in ihnen gebildet. Werte sind in ihnen verwirklicht, und eben dies Geistige, das in sie hineingebildet ist, erfaßt das Verstehen. Ein Lebensverhältnis besteht zwischen mir und ihnen. Ihre Zweckmäßigkeit ist in meiner Zwecksetzung gegründet, ihre Schönheit und Güte in meiner Wertgebung, ihre Verstandesmäßigkeit in meinem Intellekt. Realitäten gehen ferner nicht nur in meinem Erleben und Verstehen auf: sie bilden den Zusammenhang der Vorstellungswelt, in dem das Außengegebene mit meinem Lebensverlauf verknüpft ist: in dieser Vorstellungswelt lebe ich, und ihre objektive Geltung ist mir durch den beständigen Austausch mit dem Erleben und dem Verstehen anderer selbst garantiert; endlich die Begriffe, die allgemeinen Urteile, die generellen Theorien sind nicht Hypothesen über etwas, auf das wir äußere Eindrücke beziehen, sondern Abkömmlinge von Erleben und Verstehen. Und wie in diesem die Totalität unseres Lebens immer gegenwärtig ist, so klingt die Fülle des Lebens auch in den abstraktesten Sätzen dieser Wissenschaft nach.

Somit können wir nun das Verhältnis beider Klassen von Wissenschaften und die Grundunterschiede ihres Aufbaus, wie sie bis hierher erkannt sind, zusammenfassen. Die Natur ist die Unterlage der Geisteswissenschaften. Die Natur ist nicht nur der Schauplatz der Geschichte; die physischen Vorgänge, die Notwendigkeiten, welche in ihnen liegen, und die Wirkungen, die von ihnen ausgehen, bilden die Unterlage für alle Verhältnisse, für Tun und Leiden, Aktion und Reaktion in der geschichtlichen Welt, und die physische Welt bildet auch das Material für das ganze Reich, in welchem der Geist seine Zwecke, seine Werte – sein Wesen ausgedrückt hat; auf dieser Grundlage erhebt sich aber nun die Wirklichkeit, in welche die Geisteswissenschaften von zwei Seiten her immer tiefer sich einbohren –[141] vom Erleben der eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistigen aus. Und damit ist nun der Unterschied beider Arten von Wissenschaften gegeben. In der äußeren Natur wird Zusammenhang in einer Verbindung abstrakter Begriffe den Erscheinungen untergelegt. Dagegen der Zusammenhang in der geistigen Welt wird erlebt und nachverstanden. Der Zusammenhang der Natur ist abstrakt, der seelische und geschichtliche aber ist lebendig, lebengesättigt. Die Naturwissenschaften ergänzen die Phänomene durch Hinzugedachtes; und wenn die Eigenschaften des organischen Körpers und das Prinzip der Individuation in der organischen Welt bisher solchem Begreifen widerstanden, so ist doch in ihnen das Postulat eines solchen Begreifens immer lebendig, für dessen Verwirklichung ihnen nur kausale Zwischenglieder fehlen; es bleibt ihr Ideal, daß sie gefunden werden müssen, und immer wird die Auffassung, welche in diese Zwischenstufe zwischen der anorganischen Natur und dem Geiste ein neues Erklärungsprinzip einführen will, mit diesem Ideal in ungeschlichtetem Streit sein. Die Geisteswissenschaften ordnen ein, indem sie umgekehrt zu allererst und hauptsächlich die sich unermeßlich ausbreitende menschlich-geschichtlich-gesellschaftliche äußere Wirklichkeit zurückübersetzen in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist. Dort werden für die Individuation hypothetische Erklärungsgründe aufgesucht, hier dagegen werden in der Lebendigkeit die Ursachen derselben erfahren.

Hieraus ergibt sich nun die Stellung zur Erkenntnistheorie, welche die nachfolgenden Untersuchungen über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften einnehmen werden. Das zentrale Problem der auf die Naturwissenschaften allein bezogenen Erkenntnistheorie liegt in der Fundierung der abstrakten Wahrheiten, des Charakters der Notwendigkeit in ihnen, des Kausalgesetzes und in der Beziehung der Sicherheit der induktiven Schlüsse zu abstrakten Grundlagen derselben. Da nun die auf die Naturwissenschaften gegründete Erkenntnistheorie sich in die verschiedensten Richtungen zersplittert hat, so daß es vielen scheinen möchte, als werde sie das Schicksal[142] der Metaphysik teilen, andererseits aber schon der bisherige Überblick über den Bau der Geisteswissenschaften eine sehr große Verschiedenheit der Stellung des Erkennens zu seinem Gegenstande auf diesem Gebiet erwiesen hat: so scheint zunächst der Fortgang der allgemeinen Erkenntnistheorie davon abhängig, daß sie sich mit den Geisteswissenschaften auseinandersetzt. Dies fordert aber, daß vom erkenntnistheoretischen Problem aus der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften studiert werde; dann erst wird die allgemeine Erkenntnistheorie von den Ergebnissen dieses Studiums aus einer Revision unterworfen werden können.[143]

6

Meine Jugendgeschichte Hegels. Abhandl. d. Akad. d. Wiss. 1905. [Schriften Bd. IV.]

7

Beruf f. Gesetzgebung S. 5 ff.

8

Ich verweise weiter hierüber auf meine Abhandlung über Schlosser in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 9.

9

Meine Jugendgeschichte Hegels S. 54. [Schriften Bd. IV.]

10

Vgl. in dieser Abhandlung S. 26 ff. und meine oben zitierte Jugendgeschichte Hegels.

11

Einleitung in die Geisteswissenschaften, Vorrede XVII. [Schriften Bd. I, S. XVIII.]

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 101-144.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften

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