Erster Abschnitt

Das gegenständliche Auffassen

[145] Das gegenständliche Auffassen bildet ein System von Beziehungen, in dem Wahrnehmungen und Erlebnisse, erinnerte Vorstellungen, Urteile, Begriffe, Schlüsse und deren Zusammensetzungen enthalten sind. Allen diesen Leistungen im System des gegenständlichen Auffassens ist gemeinsam, daß in ihnen nur Beziehungen von Tatsächlichem gegenwärtig sind. So sind im Syllogismus nur die Inhalte und deren Beziehungen gegenwärtig, und kein Bewußtsein von Denkoperationen begleitet ihn. Das Verfahren, welches dem so Gegebenen als Bewußtseinsbedingungen einzelne Akte unterlegt, welche den sachlichen Relationen entsprechend gedacht werden, und nun aus ihrem Zusammenwirken den Tatbestand des gegenständlichen Auffassens ableitet, enthält eine nie verifizierbare Hypothese.

Die einzelnen Erlebnisse innerhalb dieses gegenständlichen Auffassens sind Glieder eines Ganzen, das vom psychischen Zusammenhang bestimmt ist. In diesem psychischen Zusammenhang ist die objektive Erkenntnis der Wirklichkeit die Bedingung[145] für richtige Feststellung der Werte und zweckmäßiges Handeln. So sind Wahrnehmen, Vorstellen, Urteilen, Schließen Leistungen, die in einer Teleologie des Auffassungszusammenhanges zusammenwirken, welcher dann in der des Lebenszusammenhanges seine Stelle einnimmt.


1.

Die erste Leistung des gegenständlichen Auffassens am Gegebenen erhebt das in ihm Enthaltene zu distinktem Bewußtsein, ohne daß an der Form der Gegebenheit eine Änderung stattfände. Ich nenne diese Leistung primär, sofern die Analyse, die vom diskursiven Denken rückwärtsgeht, keine einfachere Leistung auffindet. Sie liegt jenseits des diskursiven Denkens, das an die Sprache gebunden ist und in Urteilen verläuft; denn die Gegenstände, über welche geurteilt wird, setzen schon Denkleistungen voraus.

Ich beginne mit der Leistung des Vergleichens. Ich finde gleich, ungleich, fasse Stufen des Unterschiedes auf. Vor mir liegen zwei Blättchen von verschiedener grauer Färbung. Es werden Unterschied und Grad des Unterschiedes an der Färbung bemerkt, nicht in einer Reflexion über das Gegebene, sondern als ein Tatbestand, wie die Farbe selbst ein solcher Tatbestand ist. Ebenso unterscheide ich, erlebend, Grade des Wohlgefallens, wenn ich etwa vom Anschlagen des Grundtons und seiner Oktave zu einer vollen Harmonie übergehe. Diese Denkleistung selber, mit der die Logik es nur ganz allein zu tun hat, ist einfach. Und ihr Ergebnis ist in bezug auf seinen Wahrheitswert nicht verschieden vom Bemerken einer Farbe oder eines Tones; etwas, das da ist, wird merklich. Gleichheit und Verschiedenheit sind keine Eigenschaften von Dingen wie Ausdehnung oder Farbe. Sie entstehen, indem die psychische Einheit sich Verhältnisse, die im Gegebenen enthalten sind, zum Bewußtsein bringt. Sofern Gleichsetzen und Verschiedensetzen nur finden, was gegeben ist, so wie Ausdehnung und Farbe gegeben sind, sind sie ein Analogen des Wahrnehmens selbst, aber[146] wie sie logische Verhältnisbegriffe wie Gleichheit, Unterschied, Grad, Verwandtschaft schaffen, die zwar in der Wahrnehmung enthalten, aber nicht in ihr gegeben sind, gehören sie dem Denken an. – Auf der Grundlage dieser Denkleistung des Vergleichens tritt eine zweite auf. Denn wenn ich zwei Tatbestände trenne, so liegt darin, logisch angesehen – und um die psychologischen Prozesse handelt es sich hier gar nicht –, eine vom Unterscheiden verschiedene Denkleistung. In dem Gegebenen werden zwei Tatbestände auseinandergehalten, ihr Außereinandersein wird aufgefaßt. So werden in einem Walde eine Menschenstimme, das Rauschen des Windes, der Gesang eines Vogels nicht nur unterschieden voneinander, sondern als ein Mehreres aufgefaßt. Wenn ein Ton von derselben Beschaffenheit, also in derselben Höhe, Klangfarbe, Intensität und Dauer, ein zweites Mal an einer anderen Stelle des Zeitverlaufes wiederkehrt, so tritt in dieser zweiten Denkleistung das Bewußtsein auf, daß der folgende Ton ein anderer ist als der erste. Ein weiteres Verhältnis wird in einem zweiten Fall von Trennung aufgefaßt. An einem grünen Blatt kann ich Farbe und Gestalt voneinander sondern, und es wird dann das in der Einheit des Gegenstandes Zusammengehörige, das real nicht gesondert werden kann, doch als ideell trennbar befunden. Auch wo die Vorbedingungen dieser Leistung des Trennens sehr zusammengesetzt sind, ist die Leistung selbst einfach. Und sie ist ebenso wie das Vergleichen vom Sachverhalt bestimmt, den sie zur Auffassung bringt.

Und hier entsteht nun der Durchblick in den für den Aufbau der Logik wichtigen Vorgang der Abstraktion. Die Sonderung der Gliedmaßen eines Körpers haftet an der konkreten Wirklichkeit des Körpers; in jedem seiner Teile bleibt diese konkrete Wirklichkeit erhalten; wenn aber Ausdehnung und Farbe voneinander gesondert werden und das Denken der Farbe sich zuwendet, dann entsteht aus einer solchen Sonderung die Denkleistung der Abstraktion: von dem ideell Auseinandergenommenen wird eine Seite für sich herausgehoben.

Die Verbindung des mehreren Gesonderten kann sich nur auf[147] der Grundlage einer Beziehung zwischen diesem Mehreren, Getrennten vollziehen. Wir fassen die räumliche Lage getrennter Tatbestände auf, oder die Abstände, in denen Vorgänge einander zeitlich folgen. Auch dieses Beziehen und Verbinden bringt nur stattfindende Verhältnisse zum Bewußtsein. Es tut das aber durch Denkleistungen, welche Relationen wie die in Raum und Zeit, Tun und Leiden zur Grundlage haben. Ein solches Zusammennehmen ist die Bedingung für die Bildung der Zeitanschauung. Wenn der Schlag einer Uhr mehrmals hintereinander folgt, so liegt nur die Sukzession dieser Eindrücke vor, aber erst im Zusammennehmen wird die Auffassung dieser Sukzession möglich. Das Zusammenfassen erzeugt das logische Verhältnis eines Ganzen zu seinen Teilen. Auf dem Boden der Verhältnisse des Getrenntseins, der Abstufung der Unterschiede der im Tonsystem enthaltenen Beziehungen entsteht im Zusammennehmen der Töne ein so Bedingtes, das aber doch erst in der Zusammenfassung selbst hervorgebracht ist – der Akkord oder die Melodie. Hier ist besonders deutlich, wie die Zusammenfassung an dem in dem Wahrnehmungs- und Erinnerungserlebnis Enthaltenen stattfindet und doch in ihm etwas entsteht, das ohne die Zusammenfassung nicht da wäre. Wir sind hier schon an der Grenze, die über die Feststellung des in den Verhältnissen Enthaltenen hinausführt in die Region der freien Phantasie.

Diese Beispiele – und um ein mehreres handelt es sich hier nicht – beweisen: die elementaren Denkleistungen klären das Gegebene auf. Dem diskursiven Denken voraufliegend, enthalten sie die Ansätze zu ihm, da in dem Gleichfinden die Bildung der allgemeinen Urteile, der Allgemeinbegriffe und das vergleichende Verfahren sich vorbereiten, im Trennen die Abstraktionen und das analytische Verfahren, dann in den Beziehungen jede Art von synthetischer Operation. So geht ein innerer Begründungszusammenhang von den elementaren Denkleistungen zum diskursiven Denken, vom Auffassen des Sachverhaltes an den Gegenständen zu den Urteilen über sie.

Die Gegebenheit des sinnlich Wahrgenommenen oder Erlebten[148] geht in eine weitere Bewußtseinsstufe in der erinnerten Vorstellung über. In ihr vollzieht sich eine weitere Leistung des gegenständlichen Auffassens, und dieser Leistung entspricht ein besonderes Verhältnis des neuen Gebildes zu seiner Grundlage. Dies Verhältnis der erinnerten Vorstellung zum sinnlich Aufgefaßten und zum Erlebten ist das des Abbildens. Denn die freie Beweglichkeit der Vorstellungen ist im Bereich des gegenständlichen Auffassens durch die Intention der Angleichung an die Wirklichkeit eingeschränkt, und alle Arten der Vorstellungsbildung bleiben durch die Richtung auf die Wirklichkeit bestimmt. In dieser Richtung entstehen Totalvorstellungen und Allgemeinvorstellungen und bereiten eine neue Stufe des Bewußtseins vor.

Diese neue Stufe tritt im diskursiven Denken auf. Das Verhältnis des Abbildens macht hier einer andern Beziehung innerhalb des gegenständlichen Auffassens Platz.

Das diskursive Denken ist an den Ausdruck gebunden, vor allem an die Sprache. Hier besteht die Beziehung von Ausdruck zu Ausgedrücktem, durch welche aus den Bewegungen der Sprachorgane und den Vorstellungen ihrer Erzeugnisse Sprachformen werden. Die Beziehung zu dem in ihnen Ausgedrückten gibt ihnen ihre Funktion. Sie haben nun als Bestandteile des Satzes eine Bedeutung, während der Satz selbst einen Sinn hat. Die Richtung der Auffassung geht von Wort und Satz zu dem Gegenstand, den sie ausdrücken. Damit entsteht die Beziehung zwischen dem grammatischen Satz oder dem Ausdruck durch andere Zeichen und dem Urteil, das alle Teile des diskursiven Denkens hervorbringt.

Welches ist nun das Verhältnis zwischen dem Gegebenen oder Vorgestellten, wie es von den durchlaufenen Leistungen der Auffassungserlebnisse bedingt war, und dem Urteil? In diesem wird ein Sachverhalt von einem Gegenstand ausgesagt. Darin liegt schon, daß von einem Abbilden des Gegebenen oder Vorgestellten hier nicht die Rede ist. Ich gehe für die positive Bestimmung des Verhältnisses vom Denkzusammenhang aus. Jedes Urteil ist in ihm analytisch enthalten, und es wird als Glied[149] desselben verstanden. Im Denkzusammenhang des gegenständlichen Auffassens bezieht sich nun jeder Teil desselben vermittels des Zusammenhanges, in dem er steht, zurück auf das Enthaltensein in der Wirklichkeit. Denn das ist die oberste Regel, unter der jedes Urteil steht: es muß seinem Inhalt nach in dem Gegebenen nach den formalen Denkgesetzen und nach den Formen des Denkens enthalten sein. Auch Urteile, die Eigenschaften oder Handlungen des Zeus oder Hamlet aussprechen, sind im Denkzusammenhang auf ein Gegebenes bezogen.

So entsteht zwischen dem Urteil und den bisher dargelegten Formen des gegenständlichen Auffassens ein neues Verhältnis. Dies Verhältnis zeigt zwei Seiten. Die Zweiseitigkeit in ihm ist dadurch bestimmt, daß das Urteil einerseits in dem Gegebenen fundiert ist, anderseits aber das, was in diesem nur implicite, nur als erschließbar enthalten ist, expliziert. In der ersteren Beziehung entsteht das Verhältnis der Vertretung. Das Urteil vertritt durch Denkbestandteile, die den Anforderungen des Wissens durch Konstanz, Klarheit, Deutlichkeit und durch feste Verbindung mit Wortzeichen entsprechen, die im Gegebenen enthaltenen Sachverhalte. Von der andern Seite angesehen, realisieren die Urteile die Intention des gegenständlichen Auffassens, von dem Bedingten, Partikularen und Veränderlichen aus sich den Grundverhältnissen der Wirklichkeit zu nähern.

Das Verhältnis der Vertretung erstreckt sich auf den ganzen diskursiven Denkzusammenhang im gegenständlichen Auffassen, da dieser sich durch das Urteilen vollzieht. Das Gegebene in seiner konkreten Anschaulichkeit und die es abbildende Vorstellungswelt werden in jeder Form des diskursiven Denkens vertreten durch ein System von Beziehungen fester Denkbestandteile. Und dem entspricht in umgekehrter Richtung, daß bei Rückkehr zum Gegenstande dieser in der ganzen Fülle seines anschaulichen Daseins das Urteil oder den Begriff bewährt, verifiziert. Gerade für die Geisteswissenschaften ist es besonders wichtig, daß die ganze Frische und Macht des Erlebnisses dann direkt oder in der Richtung vom Verstehen zum Erleben hin zurückkehrt. In dem Verhältnis der Vertretung ist enthalten,[150] daß in bestimmten Grenzen das Gegebene und das diskursiv Gedachte vertauschbar sind.

Zergliedert man den diskursiven Denkzusammenhang, so trifft man in ihm auf Arten der Beziehung, die unabhängig vom Wechsel der Denkinhalte regelmäßig wiederkehren und an jeder Stelle des Denkzusammenhangs zugleich und in innerem Verhältnis zueinander bestehen. Solche Denkformen sind Urteil, Begriff und Schluß, sie treten in jedem Teil des diskursiven Denkzusammenhangs auf und bilden dessen Gefüge. Aber auch die diesen elementaren Formen untergeordneten Klassen von Leistungen des diskursiven Denkens, Vergleichung, Analogieschluß, Induktion, Einteilung, Definition, schließlich der Zusammenhang der Begründung sind unabhängig von der Abgrenzung einzelner Gebiete des Denkens, insbesondere der von Natur- und Geisteswissenschaften gegeneinander. Sie sondern sich nach den Aufgaben des ganzen Denkzusammenhangs, welche die Wirklichkeit nach ihren allgemeinen Grundverhältnissen stellt, während dann durch die Eigenschaften einzelner Gebiete erst besondere Gestalten der Methode bedingt sind.

Der Regelhaftigkeit dieser Formen entspricht die Gültigkeit ihrer Denkleistung, und dieser sind wir durch das Bewußtsein der Evidenz versichert. Und die allgemeinsten Eigenschaften, an welche in diesen verschiedenen Formen, unabhängig vom Wechsel der Gegenstände, konstant im Kommen und Gehen der Denkerlebnisse und ihrer Subjekte, Gültigkeit gebunden ist, finden ihren Ausdruck in den Denkgesetzen. Wir brauchen das Verhältnis von Vertretung oder Repräsentation nicht zu überschreiten, wenn wir von den Wirklichkeitsurteilen zu den notwendigen Urteilen übergehen. Ein Axiom der Geometrie ist notwendig, weil es die überall in der Raumanschauung durch Analyse feststellbaren Grundverhältnisse ausdrückt, und ebenso ist der Charakter der Notwendigkeit in den Denkgesetzen hinreichend durch die Tatsache erklärt, daß sie überall im Denkzusammenhang analytisch enthalten sind.

Eine wissenschaftliche Methode entsteht, indem Denkformen und allgemeine Denkleistungen durch den Zweck, der in der[151] Lösung einer bestimmten wissenschaftlichen Aufgabe gelegen ist, zu einem zusammengesetzten Ganzen verbunden werden. Gibt es dieser gestellten Aufgabe ähnliche Probleme, dann wird die auf einem begrenzten Gebiet angewandte Methode sich auf einem umfassenderen fruchtbar erweisen. Oft ist eine Methode im Geiste ihres Erfinders noch nicht mit dem Bewußtsein ihres logischen Charakters und ihrer Tragweite verknüpft: dann tritt dies Bewußtsein erst nachträglich hinzu. Wie sich der Begriff der Methode insbesondere im Sprachgebrauth der Naturforscher Jahrhunderte hindurch entwickelt hat, kann auch das Verfahren, welches eine Detailfrage behandelt und demgemäß sehr zusammengesetzt ist, als Methode bezeichnet werden. Wo für die Auflösung desselben Problems mehrere Wege eingeschlagen sind, werden sie als verschiedene Methoden auseinandergehalten. Wo die Verfahrungsweisen eines erfindenden Geistes gemeinsame Eigenschaften zeigen, spricht die Geschichte der Wissenschaften von einer Methode Cuviers in der Paläontologie oder Niebuhrs in der historischen Kritik. Mit der Methodenlehre treten wir in das Gebiet, in welchem der besondere Charakter der Geisteswissenschaften sich geltend zu machen beginnt.

Alle Erlebnisse des gegenständlichen Auffassens sind in dem teleologischen Zusammenhang desselben auf die Erfassung dessen was ist – der Wirklichkeit gerichtet. Das Wissen bildet ein Stufenreich von Leistungen: das Gegebene wird in den elementaren Denkleistungen aufgeklärt, es wird in den Vorstellungen abgebildet, und es wird im diskursiven Denken vertreten und so auf verschiedene Arten repräsentiert. Denn die Aufklärung des Gegebenen durch die elementaren Denkleistungen, die Abbildung in der erinnerten Vorstellung und die Vertretung im diskursiven Denken können dem umfassenden Begriff der Repräsentation untergeordnet werden. Zeit und Erinnerung lösen das Auffassen aus der Abhängigkeit vom Gegebenen los und vollziehen eine Auswahl des für das Auffassen Bedeutsamen; das Einzelne wird durch Beziehung zum Ganzen und durch Unterordnung unter das Allgemeine den Zwecken des Auffassens[152] der Wirklichkeit unterworfen; die Veränderlichkeit des intuitiv Gegebenen wird in einer Beziehung von Begriffen zu allgemeingültiger Repräsentation erhoben; das Konkrete wird durch Abstraktion und analytisches Verfahren in gleichartige Reihen gebracht, welche Aussage von Regelmäßigkeiten gestatten, oder durch Einteilungen in seiner Gliederung aufgefaßt. Das Auffassen schöpft so das im Gegebenen uns Zugängliche immer mehr aus.


2.

In zwei Richtungen sind die Erlebnisse logisch verbunden, welche dem gegenständlichen Auffassen angehören. In der einen sind die Erlebnisse aufeinander bezogen, sofern sie als Stufen im Auffassen desselben Gegenstandes ihn durch das im Erleben oder Anschauen Enthaltene zu erschöpfen suchen, und in der andern verbindet die Auffassung einen Tatbestand mit dem andern durch die zwischen ihnen aufgefaßten Beziehungen. Dort entsteht die Vertiefung in den einzelnen Gegenstand und hier die universale Ausbreitung. Die Vertiefung und die Ausbreitung sind voneinander abhängig.

Anschauung, Erinnerung, Totalvorstellung, Namengebung, Urteil, Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine, Verbindung von Teilen zu einem Ganzen – das alles sind Weisen des Auffassens: ohne daß der Gegenstand zu wechseln braucht, ändert sich die Art und Weise des Bewußtseins, in der er für uns da ist, wenn man von Anschauung zur Erinnerung oder zum Urteil übergeht. Die ihnen gemeinsame Richtung auf denselben Gegenstand verbindet sie zu einem teleologischen Zusammenhang. In demselben haben nur diejenigen Erlebnisse eine Stelle, welche in der Richtung auf Erfassung dieses bestimmten Gegenständlichen eine Leistung vollziehen. Von diesem teleologischen Charakter des hier vorliegenden Zusammenhanges ist der Fortgang innerhalb desselben von Glied zu Glied bedingt. Solange das Erlebnis noch nicht erschöpft oder die in den Einzelanschauungen stückweise und einseitig gegebene[153] Gegenständlichkeit noch nicht zu voller Auffassung und vollständigem Ausdruck gekommen ist, besteht immer ein Ungenüge, und dieses fordert weiterzuschreiten. Wahrnehmungen, die denselben Gegenstand betreffen, sind aufeinander in teleologischem Zusammenhang bezogen, sofern sie am selbigen Gegenstand fortschreiten. So fordert eine sinnliche Einzelwahrnehmung immer mehrere, welche die Auffassung des Gegenstandes ergänzen. In diesem Vorgang der Ergänzung ist schon die Erinnerung als eine weitere Form des Auffassens erforderlich. Sie steht innerhalb des Zusammenhangs des gegenständlichen Auffassens in dem festen Verhältnis zu der Anschauungsgrundlage, daß sie die Funktion hat, diese Grundlage abzubilden, zu erinnern und so dem gegenständlichen Auffassen verwertbar zu erhalten. Hier zeigt sich sehr deutlich der Unterschied der Auffassung des Erinnerungserlebnisses, welche den ihm zugrunde liegenden Prozeß nach seinen Gleichförmigkeiten studiert, und unserer Betrachtung der Erinnerung nach ihrer Funktion im Auffassungszusammenhang, nach welcher sie das Erlebte oder Aufgefaßte abbildet. Die Erinnerung kann an sich unter einem Eindruck oder dem Einfluß einer Gemütslage mannigfache von ihrer Grundlage unterschiedene Inhalte in sich aufnehmen: gerade hier haben die ästhetischen Phantasiebilder ihren Ursprung: aber die in dem angegebenen teleologischen Zusammenhang auf Erfassung des Gegenstandes stehende Erinnerung hat die Richtung auf Identität mit dem Anschauungs- oder Erlebnisinhalt der Gegenstandsauffassung. Daß die Erinnerung ihre Funktion im gegenständlichen Auffassen erfüllt hat, bewährt sich an der Möglichkeit, ihre Ähnlichkeit mit der Wahrnehrnungsgrundlage der Gegenstandsauffassung festzustellen. In dieser Richtung der Auffassungserlebnisse auf einen einzelnen Gegenstand ist schon der Fortgang zu immer Neuem gegeben. Die Veränderungen an dem Gegenstand weisen auf den Wirkungszusammenhang, in dem er sich befindet, und da der Sachverhalt nur durch die Mittel von Namen, Begriffen, Urteilen aufgeklärt werden kann, wird weiter ein Fortgang von der Einzelanschauung zum Allgemeinen erfolderlich.[154] Ist hiernach in dieser ersten Richtung der Fortgang zum Ganzen, zum Wirkenden und zum Allgemeinen gefordert, so entspricht dieser Aufgabe der Fortgang von den Relationen, die im Einzelobjekt vorfindlich sind, zu denen, die in größeren gegenständlichen Zusammenhängen stattfinden. So führt die erste Richtung der Beziehungen in eine zweite über.

In jener ersten Richtung waren diejenigen Auffassungserlebnisse aufeinander bezogen, welche denselben Gegenstand durch verschiedene Formen der Repräsentation hindurch immer angemessener aufzufassen streben. In dieser zweiten sind die Erlebnisse verbunden, die sich auf immer neue Gegenstände erstrecken und die zwischen ihnen bestehenden Relationen erfassen, sei es in derselben Form des Auffassens oder durch die Verbindung verschiedener Formen desselben. Es entstehen umfassende Beziehungen. Sie liegen besonders deutlich in den homogenen Systemen, welche Raum-, Ton- oder Zahlenverhältnisse darstellen.13 Jede Wissenschaft bezieht sich auf eine abgrenzbare Gegenständlichkeit, in der ihre Einheit liegt, und der Zusammenhang des Wissenschaftsgebietes gibt den Sätzen des Wissens in ihm ihre Zusammengehörigkeit. Die Vollendung aller im Erlebten oder Angeschauten enthaltenen Relationen wäre der Begriff der Welt. In ihm ist die Forderung ausgesprochen, alles Erlebbare und Anschaubare durch den Zusammenhang der in demselben enthaltenen Relationen des Tatsächlichen auszusprechen. Dieser Begriff der Welt ist die Explikation des Zusammen, das zunächst im räumlichen Horizont gegeben ist.

Aufklärung, Abbildung und Vertretung sind Stufen der Beziehung zum Gegebenen, in denen das gegenständliche Auffassen sich dem Weltbegriff nähert. Sie sind Stufen, weil in jeder dieser Stellungen des gegenständlichen Auffassens die frühere die Grundlage für die nächste Lage des gegenständlichen Auffassens bildet.14[155]

13

Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1894, S. 1352 [Schriften Bd. V, S. 182].

14

Von hier aus eröffnet sich der Einblick in die logische Aufgabe, die Formen des diskursiven Denkens auf Ausdrucksweisen der Verhältnisse im Gegebenen zu reduzieren, wie sie durch die elementaren Denkleistungen herausgestellt werden. Durch die Tatsachen im Gebiet des sinnlichen Auffassens werden wir zur Einsicht in die Immanenz der Ordnung im Stoff unserer sinnlichen Erfahrung geführt, und die Sonderung des Stoffs der Eindrücke von den Formen der Zusammenfassung erweist sich als bloßes Hilfsmittel der Abstraktion. Der Satz der Identität besagt, daß jede Setzung unabhängig von ihren wechselnden Stellen im Denkzusammenhang und dem Wechsel in den Subjekten der Aussage gültig ist. Der Satz des Widerspruchs hat den der Identität zur Unterlage. Es tritt in ihm zum Satz der Identität die Verneinung, diese ist nur die Ablehnung einer in oder außer uns sich darbietenden Annahme, sie bezieht sich immer auf eine schon vorausgesetzte Aussage, mag diese nun in einem bewußten Denkakt oder in einer andern Form enthalten sein. Nun schreibt der Satz der Identität der Setzung konstante Geltung zu. Darum ist die Aufhebung dieser Setzung ausgeschlossen. Wir sind nicht imstande, dasselbe zu behaupten und zu verneinen, sofern uns das Verhältnis des Widerspruchs zum Bewußtsein kommt. Wenn ich nun das verneinende Urteil für falsch erkläre, so lehne ich ab, die Setzung aufzuheben, bestätige also die bejahende Aussage: diesen Sachverhalt spricht der Satz des ausgeschlossenen Dritten aus. So bezeichnen also die Denkgesetze keine apriorischen Bedingungen für unser Denken. Und die Verhältnisse, die im Gleichsetzen, Trennen, Abstrahieren, Beziehen enthalten sind, finden sich wieder in den diskursiven Denkoperationen wie in den formalen Kategorien, von denen später die Rede sein wird. Die Annahme, daß das Urteil das Hinzutreten des kategorialen Verhältnisses von Ding und Eigenschaften voraussetze, ist unnötig, da es aus der Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem von ihm Prädizierten verstanden werden kann.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 145-156.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon