Zweiter Abschnitt

Die Struktur der Geisteswissenschaften

[156] Indem nun dieser Zusammenhang des gegenständlichen Auffassens unter die Bedingungen tritt, die in den Geisteswissenschaften enthalten sind, entsteht deren besondere Struktur. Auf der Grundlage der Denkformen und der allgemeinen Denkleistungen machen sich hier besondere Aufgaben geltend, und sie finden ihre Lösung im Ineinandergreifen eigener Methoden.

In der Ausbildung dieser Verfahrungsweisen sind die Geisteswissenschaften überall von den Naturwissenschaften beeinflußt gewesen. Denn da diese ihre Methoden früher entwickelt haben, so hat sich in weitem Umfang eine Anpassung derselben an die Aufgaben der Geisteswissenschaften vollzogen. An zwei Punkten tritt dies besonders deutlich hervor. In der Biologie sind die vergleichenden Methoden zuerst aufgefunden, die dann auf die[156] systematischen Geisteswissenschaften in immer weiterem Umfang angewandt wurden, und experimentelle Methoden, welche Astronomie und Physiologie ausgebildet hatten, sind auf Psychologie, Ästhetik und Pädagogik übertragen worden. Auch wird sich beim Verfahren zur Lösung einzelner Aufgaben heute noch der Psychologe, Pädagoge, Linguist oder Ästhetiker oftmals fragen, ob die zur Auflösung analoger Probleme in den Naturwissenschaften aufgefundenen Mittel und Methoden für sein eigenes Gebiet fruchtbar gemacht werden können.

Aber trotz solcher einzelnen Berührungspunkte ist der Zusammenhang der geisteswissenschaftlichen Verfahrungsweisen schon von ihrem Ausgangspunkte ab verschieden von dem der Naturwissenschaften.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 156-157.
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Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften