II. Die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften

[4] Das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben, wird in diesem Werke unter dem Namen der Geisteswissenschaften zusammengefaßt. Der Begriff dieser Wissenschaften, vermöge dessen sie ein Ganzes bilden, die Abgrenzung dieses Ganzen gegen die Naturwissenschaft kann endgültig erst in dem Werke selber aufgeklärt und begründet werden; hier an seinem Beginn stellen wir nur die Bedeutung fest, in welcher wir den Ausdruck gebrauchen werden, und deuten vorläufig auf den Tatsacheninbegriff hin, in welchem die Abgrenzung eines solchen einheitlichen Ganzen der Geisteswissenschaften von den Wissenschaften der Natur gegründet ist.

Unter Wissenschaft versteht der Sprachgebrauch einen Inbegriff von Sätzen, dessen Elemente Begriffe, d.h. vollkommen bestimmt, im ganzen Denkzusammenhang konstant und allgemeingültig, dessen Verbindungen begründet, in dem endlich die Teile zum Zweck der Mitteilung zu einem Ganzen verbunden sind, weil entweder ein Bestandteil[4] der Wirklichkeit durch diese Verbindung von Sätzen in seiner Vollständigkeit gedacht oder ein Zweig der menschlichen Tätigkeit durch sie geregelt wird. Wir bezeichnen daher hier mit dem Ausdruck Wissenschaft jeden Inbegriff geistiger Tatsachen, an welchem die genannten Merkmale sich vorfinden und auf den sonach insgemein der Name der Wissenschaft angewendet wird: wir stellen dementsprechend den Umfang unserer Aufgabe vorläufig vor. Diese geistigen Tatsachen, welche sich geschichtlich in der Menschheit entwickelt haben und auf die nach einem gemeinsamen Sprachgebrauch die Bezeichnung von Wissenschaften des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft übertragen worden ist, bilden die Wirklichkeit, welche wir nicht meistern, sondern zunächst begreifen wollen. Die empirische Methode fordert, daß an diesem Bestande der Wissenschaften selber der Wert der einzelnen Verfahrungsweisen, deren das Denken sich hier zur Lösung seiner Aufgaben bedient, historisch-kritisch entwickelt, daß an der Anschauung dieses großen Vorganges, dessen Subjekt die Menschheit selber ist, die Natur des Wissens und Erkennens auf diesem Gebiet aufgeklärt werde. Eine solche Methode steht in Gegensatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den sogenannten Positivisten geübten, welche aus einer meist in naturwissenschaftlichen Beschäftigungen erwachsenen Begriffsbestimmung des Wissens den Inhalt des Begriffes Wissenschaft ableitet und von ihm aus darüber entscheidet, welchen intellektuellen Beschäftigungen der Name und Rang einer Wissenschaft zukomme. So haben die einen, von einem willkürlichen Begriff des Wissens aus, der Geschichtschreibung, wie sie große Meister geübt haben, kurzsichtig und dünkelhaft den Rang der Wissenschaft abgesprochen; die anderen haben die Wissenschaften, welche Imperative zu ihrer Grundlage haben, gar nicht Urteile über Wirklichkeit, in Erkenntnis der Wirklichkeit umbilden zu müssen geglaubt.

Der Inbegriff der geistigen Tatsachen, welche unter diesen Begriff von Wissenschaft fallen, pflegt in zwei Glieder geteilt zu werden, von denen das eine durch den Namen der Naturwissenschaft bezeichnet wird; für das andere ist, merkwürdig genug, eine allgemein anerkannte Bezeichnung nicht vorhanden. Ich schließe mich an den Sprachgebrauch derjenigen Denker an, welche diese andere Hälfte des globus intellectualis als Geisteswissenschaften bezeichnen. Einmal ist diese Bezeichnung, nicht am wenigsten durch die weite Verbreitung der Logik J. St. Mills, eine gewohnte und allgemein verständliche geworden. Alsdann erscheint sie, verglichen mit all den anderen unangemessenen Bezeichnungen, zwischen denen die Wahl ist, als die mindest unangemessene. Sie drückt höchst unvollkommen den Gegenstand dieses Studiums aus. Denn in diesem selber sind die Tatsachen[5] des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt. Eine Theorie, welche die gesellschaftlich-geschichtlichen Tatsachen beschreiben und analysieren will, kann nicht von dieser Totalität der Menschennatur absehen und sich auf das Geistige einschränken. Aber der Ausdruck teilt diesen Mangel mit jedem anderen, der angewandt worden ist; Gesellschaftswissenschaft (Soziologie), moralische, geschichtliche, Kulturwissenschaften: alle diese Bezeichnungen leiden an demselben Fehler, zu eng zu sein in bezug auf den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen. Und der hier gewählte Name hat wenigstens den Vorzug, den zentralen Tatsachenkreis angemessen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieser Wissenschaften gesehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, wenn auch noch so unvollkommen, vollzogen worden ist.

Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit ausgegangen ist, diese Wissenschaften als eine Einheit von denen der Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins. Unangerührt noch von Untersuchungen über den Ursprung des Geistigen, findet der Mensch in diesem Selbstbewußtsein eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der ganzen Natur absondert. Er findet sich in dieser Natur in der Tat, einen Ausdruck Spinozas zu gebrauchen, als imperium in imperio.1 Und da für ihn nur das besteht, was Tatsache seines Bewußtseins ist, so liegt in dieser selbständig in ihm wirkenden geistigen Welt jeder Wert, jeder Zweck des Lebens, in der Herstellung geistiger Tatbestände jedes Ziel seiner Handlungen. So sondert er von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt; hier bringen die Taten des Willens, im Gegensatz zu dem mechanischen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im Ansatz alles, was in ihm erfolgt, schon enthält, durch ihren Kraftaufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung das Individuum ja in seiner Erfahrung gegenwärtig besitzt, wirklich etwas hervor, erarbeiten Entwicklung, in der Person und in der Menschheit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf[6] im Bewußtsein hinaus, in deren Vorstellung als einem Ideal geschichtlichen Fortschritts die Götzenanbeter der intellektuellen Entwicklung schwelgen.

Vergeblich freilich hat die metaphysische Epoche, für welche diese Verschiedenheit der Erklärungsgründe sich sofort als eine substantiale Verschiedenheit in der objektiven Gliederung des Weltzusammenhangs darstellte, gerungen, Formeln für die objektive Grundlage dieses Unterschieds der Tatsachen des geistigen Lebens von denen des Naturlaufs festzustellen und zu begründen. Unter allen Veränderungen, welche die Metaphysik der Alten bei den mittelalterlichen Denkern erfahren hat, ist keine folgenreicher gewesen, als daß nunmehr, im Zusammenhang mit den alles beherrschenden religiösen und theologischen Bewegungen, inmitten deren diese Denker standen, die Bestimmung der Verschiedenheit zwischen der Welt der Geister und der Welt der Körper, alsdann der Beziehung dieser beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittelpunkt des Systems trat. Das metaphysische Hauptwerk des Mittelalters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas, entwirft von seinem zweiten Buche ab eine Gliederung der geschaffenen Welt, in welcher die Wesenheit (essentia quidditas) von dem Sein (esse) unterschieden ist, während in Gott selber diese beiden eins sind2; in der Hierarchie der geschaffenen Wesen weist es als ein oberstes notwendiges Glied die geistigen Substanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zusammengesetzt, sondern per se körperlos sind: die Engel; von ihnen scheidet es die intellektuellen Substanzen oder unkörperlichen subsistierenden Formen, welche zur Komplettierung ihrer Spezies (nämlich der Spezies: Mensch) der Körper bedürfen, und entwickelt an diesem Punkte eine Metaphysik des Menschengeistes, im Kampf gegen die arabischen Philosophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphysischen Schriftsteller unserer Tage verfolgt werden kann3; von dieser Welt unvergänglicher Substanzen grenzt es den Teil des Geschaffenen ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie sein Wesen hat. Diese Metaphysik des Geistes (rationale Psychologie) wurde dann, als die mechanische Auffassung des Naturzusammenhangs und die Korpuskularphilosophie zur Herrschaft gelangten, von anderen hervorragenden Metaphysikern zu derselben in Beziehung gesetzt. Aber jeder Versuch scheiterte, auf dem Grunde dieser Substanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffassung der Natur eine haltbare Vorstellung des Verhältnisses von Geist und Körper auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der klaren und deutlichen Eigenschaften der Körper als von Raumgrößen seine Vorstellung[7] der Natur als eines ungeheuren Mechanismus, betrachtete er die in diesem Ganzen vorhandene Bewegungsgröße als konstant: so trat mit der Annahme, daß auch nur eine einzige Seele von außen in diesem materiellen System eine Bewegung erzeuge, der Widerspruch in das System. Und die Unvorstellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Substanzen auf dies ausgedehnte System wurde dadurch um nichts verringert, daß er die räumliche Stelle solcher Wechselwirkung in einen Punkt zusammenzog: als könne er die Schwierigkeit damit verschwinden machen. Die Abenteuerlichkeit der Ansicht, daß die Gottheit durch immer sich wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechselwirkungen unterhalte, der anderen Ansicht, daß vielmehr Gott als der geschickteste Künstler die beiden Uhren des materiellen Systems und der Geisterwelt von Anfang an so gestellt, daß ein Vorgang der Natur eine Empfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der Außenwelt zu bewirken scheine, erwiesen so deutlich als möglich die Unverträglichkeit der neuen Metaphysik der Natur mit der überlieferten Metaphysik geistiger Substanzen. So wirkte dieses Problem als ein beständig reizender Stachel zur Auflösung des metaphysischen Standpunktes überhaupt. Diese Auflösung wird sich vollständig in der später zu entwickelnden Erkenntnis vollziehen, daß das Erlebnis des Selbstbewußtseins der Ausgangspunkt des Substanzbegriffes ist, daß dieser Begriff aus der Anpassung dieses Erlebnisses an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem Satze vom Grunde fortschreitende Erkennen vollzogen hat, entspringt und so diese Lehre von den geistigen Substanzen nichts als eine Rückübertragung des in einer solchen Metamorphose ausgebildeten Begriffs auf das Erlebnis ist, in welchem sein Ansatz ursprünglich gegeben war.

An die Stelle des Gegensatzes von materiellen und geistigen Substanzen trat der Gegensatz der Außenwelt, als des in der äußeren Wahrnehmung (Sensation) durch die Sinne Gegebenen, zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffassung der psychischen Ereignisse und Tätigkeiten (reflection) Dargebotenen. Das Problem empfängt so eine bescheidenere, aber die Möglichkeit empirischer Behandlung einschließende Fassung. Und es machen sich nun angesichts der neuen besseren Methoden dieselben Erlebnisse geltend, welche in der Substanzenlehre der rationalen Psychologie einen wissenschaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten.

Zunächst genügt für die selbständige Konstituierung der Geisteswissenschaften, daß auf diesem kritischen Standpunkt von denjenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen Gegebenen, und nur aus diesem, durch denkende Verknüpfung gebildet werden, sich die anderen als ein besonderer Umkreis von Tatsachen absondern,[8] welche primär in der inneren Erfahrung, sonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben sind, und welche alsdann aus dem so primär gegebenen Material innerer Erfahrung auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formiert werden, um diesen durch ein gewisses, dem Analogieschluß in der Leistung gleichwertiges Verfahren untergelegt zu werden. So entsteht ein eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebnis seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat, und das demnach naturgemäß Gegenstand einer besonderen Erfahrungswissenschaft ist. Und solange nicht Jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem Ersinnen, welchen wir als Goethes Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen imstande ist, wird auch die selbständige Stellung einer solchen Wissenschaft nicht bestritten werden. Da nun, was für uns da ist, vermöge dieser inneren Erfahrung besteht, was für uns Wert hat oder Zweck ist, nur in dem Erlebnis unseres Gefühls und unseres Willens uns so gegeben ist: so liegen in dieser Wissenschaft die Prinzipien unseres Erkennens, welche darüber bestimmen, wiefern Natur für uns existieren kann, die Prinzipien unseres Handelns, welche das Vorhandensein von Zwecken, Gütern, Werten erklären, in dem aller praktische Verkehr mit der Natur gegründet ist.

Die tiefere Begründung der selbständigen Stellung der Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften, welche Stellung den Mittelpunkt der Konstruktion der Geisteswissenschaften in diesem Werke bildet, vollzieht sich in diesem selber schrittweise, indem die Analysis des Gesamtergebnisses der geistigen Welt, in seiner Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem, indem ich auf den zweifachen Sinn hinweise, in welchem die Unvergleichbarkeit dieser beiden Tatsachenkreise behauptet werden kann: entsprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des Naturerkennens eine zweifache Bedeutung.

Einer unserer ersten Naturforscher hat diese Grenzen in einer vielbesprochenen Abhandlung zu bestimmen unternommen, und soeben diese Grenzbestimmung seiner Wissenschaft näher erläutert.4 Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentralkräfte bewirkt wären, so würde das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. »Ein Geist« – von dieser Vorstellung von Laplace geht er aus - , »der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche in der Natur[9] wirksam sind, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese angaben der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen.«5 Da die menschliche Intelligenz in der astronomischen Wissenschaft ein »schwaches Abbild eines solchen Geistes« ist, bezeichnet Du Bois-Reymond die von Laplace vorgestellte Kenntnis eines materiellen Systems als eine astronomische. Von dieser Vorstellung aus gelangt man in der Tat zu einer sehr deutlichen Auffassung der Grenzen, in welche die Tendenz des naturwissenschaftlichen Geistes eingeschlossen ist.

Es sei gestattet, eine Unterscheidung in bezug auf den Begriff der Grenze des Naturerkennens in diese Betrachtungsweise einzuführen. Da uns die Wirklichkeit, als das Korrelat der Erfahrung, in dem Zusammenwirken einer Gliederung unserer Sinne mit der inneren Erfahrung gegeben ist, entspringt aus der hierdurch bedingten Verschiedenheit der Provenienz ihrer Bestandteile eine Unvergleichbarkeit innerhalb der Elemente unserer wissenschaftlichen Rechnung. Sie schließt die Ableitung von Tatsächlichkeit einer bestimmten Provenienz aus der einer anderen aus. So gelangen wir von den Eigenschaften des Räumlichen doch nur vermittels der Faktizität der Tastempfindung, in welcher Widerstand erfahren wird, zu der Vorstellung der Materie; ein jeder der Sinne ist in einen ihm eigenen Qualitätenkreis eingeschlossen; und wir müssen von der Sinnesempfindung zu dem Gewahren innerer Zustände übergehen, sollen wir eine Bewußtseinslage in einem gegebenen Moment auffassen. Wir können sonach die Data in der Unvergleichlichkeit, in welcher sie infolge ihrer verschiedenen Provenienz auftreten, eben nur hinnehmen; ihre Tatsächlichkeit ist für uns unergründlich; all unser Erkennen ist auf die Feststellung der Gleichförmigkeiten in Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit eingeschränkt, gemäß denen sie nach unserer Erfahrung in Beziehungen zueinander stehen. Dies sind Grenzen, welche in den Bedingungen unseres Erfahrens selber gelegen sind, Grenzen, die an jedem Punkte der Naturwissenschaft bestehen: nicht äußere Schranken, an welche das Naturerkennen stößt, sondern dem Erfahren selber immanente Bedingungen desselben. Das Vorhandensein dieser immanenten Schranken der Erkenntnis bildet nun durchaus kein Hindernis für die Funktion des Erkennens. Bezeichnet man mit Begreifen eine völlige Durchsichtigkeit in der Auffassung eines Zusammenhangs, so haben wir es hier mit Schranken zu tun, an welche das Begreifen anstößt. Aber, gleichviel ob die Wissenschaft ihrer Rechnung, welche[10] die Veränderungen in der Wirklichkeit auf die Bewegungen von Atomen zurückführt, Qualitäten unterordne oder Bewußtseinstatsachen: falls diese sich ihr nur unterwerfen lassen, bildet die Tatsache der Unableitbarkeit kein Hindernis ihrer Operationen; ich vermag sowenig einen Übergang von der bloßen mathematischen Bestimmtheit oder der Bewegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Bewußtseinsvorgang zu finden; das blaue Licht wird von mir durch die entsprechende Schwingungszahl so wenig erklärt, als das verneinende Urteil durch einen Vorgang im Gehirn. Indem die Physik es der Physiologie überläßt, die Sinnesqualität blau zu erklären, diese aber, welche in der Bewegung materieller Teile eben auch kein Mittel besitzt, das Blau hervorzuzaubern, es der Psychologie übergibt, bleibt es schließlich, wie in einem Vexierspiel, bei der Psychologie sitzen. An sich aber ist die Hypothese, welche Qualitäten in dem Vorgang der Empfindung entstehen läßt, zunächst nur ein Hilfsmittel für die Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklichkeit, wie sie in meiner Erfahrung gegeben sind, auf eine gewisse Klasse von Veränderungen innerhalb derselben, welche einen Teilinhalt meiner Erfahrung bildet, radiziert, um sie für den Zweck der Erkenntnis gewissermaßen auf eine Fläche zu bringen. Wäre es möglich, bestimmt definierten Tatsachen, welche in dem Zusammenhang der mechanischen Naturbetrachtung eine feste Stelle einnehmen, konstant und bestimmt definierte Bewußtseinstatsachen zu substituieren und nunmehr gemäß dem System von Gleichförmigkeiten, in welchem die ersteren Tatsachen sich befinden, das Eintreten der Bewußtseinsvorgänge ganz im Einklang mit der Erfahrung zu bestimmen: alsdann wären diese Bewußtseinstatsachen so gut dem Zusammenhang des Naturerkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe sind.

Gerade hier macht sich aber die Unvergleichbarkeit materieller und geistiger Vorgänge in einem ganz an deren Verstande geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem durchaus anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geistigen Tatsachen aus denen der mechanischen Naturordnung, welche in der Verschiedenheit ihrer Provenienz gegründet ist, hindert nicht die Einordnung der ersteren in das System der letzteren. Erst wenn die Beziehungen zwischen den Tatsachen der geistigen Welt sich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geistigen Tatsachen unter die, welche die mechanische Naturerkenntnis festgestellt hat, ausgeschlossen wird: dann erst sind nicht immanente Schranken des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, sondern Grenzen, an denen Naturerkenntnis endigt und eine selbständige, aus ihrem eigenen Mittelpunkte sich gestaltende Geisteswissenschaft[11] beginnt. Das Grundproblem liegt sonach in der Feststellung der bestimmten Art von Unvergleichbarkeit zwischen den Beziehungen geistiger Tatsachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine Einordnung der ersteren, eine Auffassung von ihnen als von Eigenschaften oder Seiten der Materie ausschließt und welche sonach ganz anderer Art sein muß als die Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen Kreisen von Gesetzen der Materie besteht, wie sie Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie in einem sich immer folgerichtiger entwickelnden Verhältnis von Unterordnung darlegen. Eine Ausschließung der Tatsachen des Geistes aus dem Zusammenhang der Materie, ihrer Eigenschaften und Gesetze wird immer einen Widerspruch voraussetzen, der zwischen den Beziehungen der Tatsachen auf dem einen und denen der Tatsachen auf dem anderen Gebiet bei dem Versuch einer solchen Unterordnung eintritt. Und dies ist in der Tat die Meinung, wenn die Unvergleichbarkeit des geistigen Lebens an den Tatsachen des Selbstbewußtseins und der mit ihm zusammenhängenden Einheit des Bewußtseins, an der Freiheit und den mit ihr verbundenen Tatsachen des sittlichen Lebens aufgezeigt wird, im Gegensatz gegen die räumliche Gliederung und Teilbarkeit der Materie sowie gegen die mechanische Notwendigkeit, unter welcher die Leistung des einzelnen Teils derselben steht. So alt beinahe, als das strengere Nachdenken über die Stellung des Geistes zur Natur, sind die Versuche einer Formulierung dieser Art von Unvergleichbarkeit des Geistigen mit aller Naturordnung, auf Grund der Tatsachen von Einheit des Bewußtseins und Spontaneität des Willens.

Indem diese Unterscheidung von immanenten Schranken des Erfahrenes einerseits, von Grenzen der Unterordnung von Tatsachen unter den Zusammenhang der Naturerkenntnis andererseits in die Darlegung des berühmten Naturforschers eingeführt wird, empfangen die Begriffe von Grenze und Unerklärbarkeit einen genau definierbaren Sinn, und damit schwinden Schwierigkeiten, welche in dem von dieser Schrift hervorgerufenen Streit über die Grenzen der Naturerkenntnis sich sehr bemerkbar gemacht haben. Die Existenz immanenter Schranken des Erfahrens entscheidet in keiner Weise über die Frage nach der Unterordnung von geistigen Tatsachen unter den Zusammenhang der Erkenntnis der Materie. Wird, wie von Häckel und anderen Forschern geschieht, ein Versuch vorgelegt, durch die Annahme eines psychischen Lebens in den Bestandteilen, aus denen der Organismus sich aufbaut, eine solche Einordnung der geistigen Tatsachen unter den Naturzusammenhang herzustellen, dann besteht zwischen einem solchen Versuch und der Erkenntnis der immanenten Schranken alles Erfahrens schlechterdings kein Verhältnis von Ausschließung; über ihn entscheidet[12] nur die zweite Art von Untersuchung der Grenzen des Naturerkennens. Daher ist auch Du Bois-R. zu dieser zweiten Untersuchung fortgegangen und hat sich in seiner Beweisführung sowohl des Arguments von der Einheit des Bewußtseins als das anderen von der Spontaneität des Willens bedient. Sein Beweis, »daß die geistigen Vorgänge aus ihren materiellen Bedingungen nie zu begreifen sind«6, wird folgendermaßen geführt. Bei vollendeter Kenntnis aller Teile des materiellen Systems, ihrer gegenseitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durchaus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoffatomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen. Diese Unerklärbarkeit des Geistigen bleibt ganz ebenso bestehen, wenn man diese Elemente nach Art der Monaden schon einzeln mit Bewußtsein ausstattet, und von dieser Annahme aus kann das einheitliche Bewußtsein des Individuums nicht erklärt werden.7 Schon sein zu beweisender Satz enthält in dem »nie zu begreifen« einen Doppelsinn, und dieser hat im Beweis selber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz verschiedener Tragweite nebeneinander zur Folge. Er behauptet einmal, daß der Versuch, aus materiellen Veränderungen geistige Tatsachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus verschollen ist und nur noch in der Weise der Aufnahme psychischer Eigenschaften in die Elemente gemacht wird), die immanente Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was sicher ist, aber nichts gegen die Unterordnung des Geistes unter das Naturerkennen entscheidet. Und er behauptet alsdann, daß dieser Versuch an dem Widerspruch scheitern muß, welcher[13] zwischen unserer Vorstellung der Materie und der Eigenschaft der Einheit, die unserem Bewußtsein zukommt, besteht. In seiner späteren Polemik gegen Häckel fügt er diesem Argument das an dere hinzu, daß unter solcher Annahme ein weiterer Widerspruch zwischen der Art, wie ein materieller Bestandteil im Naturzusammenhang mechanisch bedingt ist, und dem Erlebnis der Spontaneität des Willens entsteht; ein »Wille« (in den Bestandteilen der Materie), der »wollen soll, er mag wollen oder nicht und das im geraden Verhältnis des Produktes der Massen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernungen« ist eine contradictio in adjecto.8

1

Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensées Art. 1. ›Toutes ces misères – prouvent sa grandeur. Ce sont miséres de grand seigneur, misères d'un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée de l'âme de l'homme, que nous ne pouvons souffrir d'en être méprisés, et de n'être pas dans l'estime d'une âme‹ (5) (Oeuvres Paris 1866 I, 248, 249).

2

Summa c. gent. (cura Uccellii, Romae 1878) I, c. 22. vgl. II, c. 54.

3

Lib. II, c. 46 sq.

4

Emil Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens. 1872. Vgl.: Die sieben Welträtsel. 1881.

5

Laplace, Essai sur les probabilités. Paris 1814. p. 3

6

Er beginnt: Über die Grenzen. 4. Aufl., S. 28.

7

A. a. O. 29. 30. vgl. Rätsel 7. Diese Argumentation ist übrigens nur schlußkräftig, wenn der atomistischen Mechanik sozusagen metaphysische Gültigkeit beige legt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geschichte kann auch die Formulierung bei dem Klassiker der rationalen Psychologie, Mendelssohn, verglichen werden. Z.B. Schriften (Leipzig 1880) 1, 277: 1. »Alles, was der menschliche Körper vom Marmorblock Verschiedenes hat, läßt sich auf Bewegung zurückführen. Nun ist die Bewegung nichts anderes als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen, daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, sie mögen noch so zusammengesetzt sein, kein Wahrnehmen dieser Ortsveränderungen zu erhalten sei.« 2. »Alle Materie besteht aus mehreren Teilen. Wenn die einzelnen Vorstellungen so in den Teilen der Seele isoliert wären, wie die Gegenstände in der Natur, so wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir würden die Eindrücke verschiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorstellungen nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältnisse wahrnehmen, keine Beziehungen erkennen können. Hieraus ist klar, daß nicht nur zum Denken, sondern zum Empfinden vieles in einem zusammenkommen muß. Da aber die Materie niemals ein einziges Subjekt wird usw.« Kant entwickelt diesen »Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Seelenlehre« als zweiten Paralogismus der transzendentalen Psychologie. Bei Lotze wurden diese »Taten des beziehenden Wissens« als »nicht zu überwältigender Grund, auf welchem die Überzeugung von der Selbständigkeit eines Seelenwesens sicher beruhen kann«, in mehreren Schriften (zuletzt Metaphysik 476) entwickelt und bilden die Grundlage dieses Teils seines metaphysischen Systems.

8

Welträtsel S. 8.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 4-14.
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