III. Das Verhältnis dieses Ganzen zu dem der Naturwissenschaften

[14] Jedoch in einem weiten Umfang fassen die Geisteswissenschaften Naturtatsachen in sich, haben Naturerkenntnis zur Grundlage.

Dächte man sich rein geistige Wesen in einem aus solchen allein bestehenden Personenreich, so würde ihr Hervortreten, ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verschwinden (welche Vorstellungen man auch von dem Hintergrund sich bilde, aus welchem sie hervorträten und in den sie wieder zurücktreten würden), an Bedingungen geistiger Art gebunden sein; ihr Wohlsein wäre in ihrer Lage zur geistigen Welt gegründet; ihre Verbindung untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden sich durch rein geistige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer Handlungen würden rein geistiger Art sein; selbst ihr Zurücktreten aus dem Reich der Personen würde in dem Geistigen seinen Grund haben. Das System solcher Individuen würde in reinen Geisteswissenschaften erkannt werden. In Wirklichkeit entsteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt sich auf Grund der Funktionen des tierischen Organismus und ihrer Beziehungen zu dem umgebenden Naturlauf; sein Lebensgefühl ist wenigstens teilweise in diesen Funktionen gegründet; seine Eindrücke sind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen seitens der Außenwelt bedingt; den Reichtum und die Beweglichkeit seiner Vorstellungen und die Stärke sowie die Richtung seiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in seinem Nervensystem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfasern zur Verkürzung, und so ist ein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältnissen der Massenteilchen des Organismus gebunden; dauernde Erfolge seiner Willenshandlungen[14] existieren nur in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So ist das geistige Leben eines Menschen ein nur durch Abstraktion loslösbarer Teil der psycho-physischen Lebenseinheit, als welche ein Menschendasein und Menschenleben sich darstellt. Das System dieser Lebenseinheiten ist die Wirklichkeit, welche den Gegenstand der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften ausmacht.

Und zwar ist der Mensch als Lebenseinheit, vermöge des doppelten Standpunktes unserer Auffassung (gleichviel, welcher der metaphysische Tatbestand sei), soweit inneres Gewahrwerden reicht, als ein Zusammenhang geistiger Tatsachen, soweit wir dagegen mit den Sinnen auffassen, als ein körperliches Ganzes für uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffassung finden niemals in demselben Akte statt, und daher ist uns die Tatsache des geistigen Lebens nie mit der unseres Körpers zugleich gegeben. Hieraus ergeben sich mit Notwendigkeit zwei verschiedene, nicht ineinander aufhebbare Standpunkte für die wissenschaftliche Auffassung, welche die geistigen Tatsachen und die Körperwelt in ihrem Zusammenhang, dessen Ausdruck die psycho-physische Lebenseinheit ist, erfassen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, so finde ich die gesamte Außenwelt in meinem Bewußtsein gegeben, die Gesetze dieses Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtseins stehend und sonach von ihnen abhängig. Dies ist der Standpunkt, welchen die deutsche Philosophie an der Grenze des achtzehnten und unseres Jahrhunderts als Transzendentalphilosophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzusammenhang, so wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffassen steht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieser Außenwelt sowie in ihre räumliche Verteilung psychische Tatsachen mit eingeordnet, finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur selber oder das Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen besteht, wann diese an das Nervensystem herandringen, Veränderungen des geistigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebensentwicklung und der krankhaften Zustände diese Erfahrungen zu dem umfassenden Bilde der Bedingtheit des Geistigen durch das Körperliche: dann entsteht die Auffassung des Naturforschers, welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung zur geistigen Veränderung vorandringt. So ist der Antagonismus zwischen dem Philosophen und dem Naturforscher durch den Gegensatz ihrer Ausgangspunkte bedingt.

Wir nehmen nun unseren Ausgangspunkt in der Betrachtungsweise der Naturwissenschaft. Sofern diese Betrachtungsweise sich ihrer Grenzen bewußt bleibt, sind ihre Ergebnisse unbestreitbar. Sie empfangen[15] nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung aus die nähere Bestimmung ihres Erkenntniswertes. Die Naturwissenschaft zergliedert den ursächlichen Zusammenhang des Naturlaufes. Wo diese Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen ein materieller Tatbestand oder eine materielle Veränderung regelmäßig mit einem psychischen Tatbestand oder einer psychischen Veränderung verbunden ist, ohne daß zwischen ihnen ein weiteres Zwischenglied auffindbar wäre: da kann eben nur diese regelmäßige Beziehung selber festgestellt werden, das Verhältnis von Ursache und Wirkung kann aber auf diese Beziehung nicht angewandt werden. Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreises regelmäßig mit solchen des anderen verknüpft, und der mathematische Begriff der Funktion ist der Ausdruck dieses Verhältnisses. Eine Auffassung desselben, vermöge deren, der Ablauf der geistigen neben dem der körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgestellten Uhren vergleichbar wäre, ist mit der Erfahrung so gut im Einklang als eine Auffassung, welche nur ein Uhrwerk als Erklärungsgrund annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreise als verschiedene Erscheinungen eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geistigen vom Naturzusammenhang ist also das Verhältnis, welchem gemäß der allgemeine Naturzusammenhang diejenigen materiellen Tatbestände und Veränderungen ursächlich bedingt, welche für uns regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit geistigen Tatbeständen und Veränderungen verbunden sind. So sieht das Naturerkennen die Verkettung der Ursachen bis zu dem psycho-physischen Leben hinwirken: hier entsteht eine Veränderung, an welcher die Beziehung des Materiellen und Psychischen sich der ursächlichen Auffassung entzieht, und diese Veränderung ruft rückwärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In diesem Zusammenhang schließt sich dem Experiment des Physiologen die Bedeutung der Struktur des Nervensystems auf. Die verwirrenden Erscheinungen des Lebens werden in eine klare Vorstellung der Abhängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen bis an den Menschen heranführt, diese alsdann durch die Pforten der Sinnesorgane in das Nervensystem drin gen, Empfindung, Vorstellen, Gefühl, Begehren entstehen und auf den Naturlauf zurückwirken. Die Lebenseinheit selbst, welche mit dem unmittelbaren Gefühl unseres ungeteilten Daseins uns erfüllt, wird in ein System von Beziehungen aufgelöst, die zwischen den Tatsachen unseres Bewußtseins und der Struktur sowie den Funktionen des Nervensystems empirisch festgestellt werden können: denn jede psychische Aktion zeigt sich nur vermittels des Nervensystems mit einer Veränderung innerhalb unseres Körpers verbunden, und eine solche ist[16] ihrerseits nur vermittels ihrer Wirkung auf das Nervensystem von einem Wechsel unserer psychischen Zustände begleitet.

Aus dieser Zergliederung der psycho-physischen Lebenseinheiten entspringt nun eine deutlichere Vorstellung der Abhängigkeit derselben von dem ganzen Zusammenhang der Natur, innerhalb dessen sie auftreten, wirken und aus dem sie wieder zurücktreten, und somit auch des Studiums der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit von der Naturerkenntnis. Hiernach kann der Grad von Berechtigung festgestellt werden, der den Theorien von Comte und Herbert Spencer über die Stellung dieser Wissenschaften in der von ihnen aufgestellten Hierarchie der Gesamtwissenschaft zukommt. Wie diese Schrift die relative Selbständigkeit der Geisteswissenschaften zu begründen versuchen wird, so hat sie als die andere Seite der Stellung derselben im wissenschaftlichen Gesamtganzen das System von Abhängigkeiten zu entwickeln, vermöge dessen sie durch die Naturerkenntnis bedingt sind, und sonach in dem Aufbau, welcher in der mathematischen Grundlegung anhebt, das letzte und höchste Glied bilden. Tatsachen des Geistes sind die oberste Grenze der Tatsachen der Natur, die Tatsachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geistigen Lebens. Eben weil das Reich der Personen oder die menschliche Gesellschaft und Geschichte die höchste unter den Erscheinungen der irdischen Erfahrungswelt ist, bedarf seine Erkenntnis an unzähligen Punkten die des Systems von Voraussetzungen, welche für seine Entwicklung in dem Naturganzen gelegen sind.

Und zwar ist der Mensch, gemäß seiner so dargelegten Stellung im kausalen Zusammenhang der Natur, von dieser in einer zwiefachen Beziehung bedingt.

Die psycho-physische Einheit, so sahen wir, empfängt, vermittelt durch das Nervensystem, beständig Einwirkungen aus dem allgemeinen Naturlauf und sie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von Zwecken geleitet wird. Für diese psycho-physische Einheit kann also einerseits der Naturlauf und seine Beschaffenheit in bezug auf die Gestaltung der Zwecke selber leitend sein, andererseits ist er für dieselbe als ein System von Mitteln zur Erreichung dieser Zwecke mitbestimmend. Und so sind wir selbst da, wo wir wollen, wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte sind, sondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feststellen, von dem Naturzusammenhang abhängig. Demnach befinden sich die psycho-physischen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem Naturlauf gegenüber. Dieser bedingt einerseits von der Stellung der Erde im kosmischen Ganzen ab[17] als ein System von Ursachen die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit, und das große Problem des Verhältnisses von Naturzusammenhang und Freiheit in dieser Wirklichkeit zerlegt sich für den empirischen Forscher in unzählige Einzelfragen, welche das Verhältnis zwischen Tatsachen des Geistes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andererseits aber entspringen aus den Zwecken dieses Personenreiches Rückwirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Mensch in diesem Sinne als sein Wohnhaus betrachtet, in dem sich einzurichten er tätig ist, und auch diese Rückwirkungen sind an die Benutzung des naturgesetzlichen Zusammenhangs gebunden. Alle Zwecke liegen dem Menschen ausschließlich innerhalb des geistigen Vorgangs selber, da ja nur in diesem etwas für ihn da ist; aber der Zweck sucht seine Mittel in dem Zusammenhang der Natur. Wie unscheinbar ist oft die Veränderung, welche die schöpferische Macht des Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und doch ruht in dieser allein die Vermittlung, durch welche der so geschaffene Wert auch für andere da ist. So sind die wenigen Blätter, welche, als ein materieller Rückstand tiefster Gedankenarbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung der Erde, in die Hand des Kopernikus kamen, der Ausgangspunkt einer Revolution in unserer Weltansicht geworden.

An diesem Punkte kann eingesehen werden, wie relativ die Abgrenzung dieser beiden Klassen von Wissenschaften voneinander ist. Streitigkeiten, wie sie über die Stellung der allgemeinen Sprachwissenschaft geführt wurden, sind unfruchtbar. An den beiden Übergangsstellen, welche von dem Studium der Natur zu dem des Geistigen führen, an den Punkten, an welchen der Naturzusammenhang auf die Entwicklung des Geistigen einwirkt, und an den andern Punkten, an welchen derselbe von dem Geistigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsstelle für die Einwirkung auf anderes Geistige bildet, vermischen sich überall Erkenntnisse beider Klassen. Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der Geisteswissenschaften. Und zwar verwebt sich in diesem Zusammenhang, gemäß der zwiefachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geistige Leben bedingt, die Erkenntnis der bildenden Einwirkung der Natur häufig mit der Feststellung des Einflusses, welchen dieselbe als Material des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntnis der Naturgesetze der Tonbildung ein wichtiger Teil der Grammatik und der musikalischen Theorie abgeleitet, und wiederum ist das Genie der Sprache oder Musik an diese Naturgesetze gebunden, und das Studium seiner Leistungen ist daher bedingt durch das Verständnis dieser Abhängigkeit.

Es kann an diesem Punkte weiter eingesehen werden, daß die Erkenntnis der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von der[18] Naturwissenschaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang die Grundlage für das Studium der geistigen Tatsachen bilden. Wie die Entwicklung des einzelnen Menschen, so ist auch die Ausbreitung des Menschengeschlechts über das Erdganze und die Gestaltung seiner Schicksale in der Geschichte durch den ganzen kosmischen Zusammenhang bedingt. Kriege bilden z.B. einen Hauptbestandteil aller Geschichte, da diese als politische es mit dem Willen von Staaten zu tun hat, dieser aber in Waffen auftritt und sich durch dieselben durchsetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erster Linie von der Erkenntnis des Physischen ab, welches für die streitenden Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln der physischen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde unseren Willen aufzuzwingen. Dies schließt in sich, daß der Gegner auf der Linie bis zur Wehrlosigkeit, welche das theoretische Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu dem Punkte hingezwungen werde, an welchem seine Lage nachteiliger ist als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur mit einer nachteiligeren vertauscht werden kann. In dieser großen Rechnung sind also die für die Wissenschaft wichtigsten, sie zumeist beschäftigenden Zahlen die physischen Bedingungen und Mittel, während über die psychischen Faktoren sehr wenig zu sagen ist.

Und zwar haben die Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, sofern die psycho-physischen Einheiten selber nur mit Hilfe der Biologie studiert werden können, alsdann aber, sofern das Mittel, in dem ihre Entwicklung und ihre Zwecktätigkeit stattfindet, auf dessen Beherrschung also diese letztere sich zu einem großen Teile bezieht, die Natur ist. In der ersteren Rücksicht bilden die Wissenschaften des Organismus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganischen Natur. Und zwar besteht der so aufzuklärende Zusammenhang einmal darin, daß diese Naturbedingungen Entwicklung und Verteilung des geistigen Lebens auf der Erdoberfläche bestimmen, alsdann darin, daß die Zwecktätigkeit des Menschen an die Gesetze der Natur gebunden und so durch ihre Erkenntnis und Benutzung bedingt ist. Daher zeigt das erstere Verhältnis nur Abhängigkeit des Menschen von der Natur, das zweite aber enthält diese Abhängigkeit nur als die andere Seite der Geschichte seiner zunehmenden Herrschaft über das Erdganze. Derjenige Teil des ersteren Verhältnisses, welcher die Beziehungen des Menschen zu der umgebenden Natur einschließt, ist von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen worden. Glänzende Blicke, wie besonders seine vergleichende Schätzung der Erdteile nach der Gliederung ihrer Umrisse, ließen eine in[19] den Raumverhältnissen des Erdganzen festgelegte Prädestination der Universalgeschichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben diese bei Ritter als Teleologie der Universalgeschichte gedachte, von einem Buckle in den Dienst des Naturalismus gezogene Anschauung doch nicht bestätigt: an die Stelle der Vorstellung einer gleichmäßigen Abhängigkeit des Menschen von den Naturbedingungen tritt die vorsichtigere Vorstellung, daß das Ringen der geistig-sittlichen Kräfte mit den Bedingungen der toten Räumlichkeit bei den geschichtlichen Völkern, im Gegensatz zu den geschichtslosen, das Verhältnis von Abhängigkeit beständig vermindert hat. Und so hat auch hier eine selbständige, die Naturbedingungen zur Erklärung benutzende Wissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit sich behauptet. Das andere Verhältnis aber zeigt mit der Abhängigkeit, welche durch die Anpassung an die Bedingungen gegeben ist, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wissenschaftlichen Gedanken und die Technik so verbunden, daß die Menschheit in ihrer Geschichte eben vermittels der Unterordnung die Herrschaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur.9

Das Problem des Verhältnisses der Geisteswissenschaften zu der Naturerkenntnis kann jedoch erst als gelöst gelten, wenn jener Gegensatz, von dem wir ausgingen, zwischen dem transzendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Bedingungen des Bewußtseins steht, und dem objektiv empirischen Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geistigen unter den Bedingungen des Naturganzen steht, aufgelöst sein wird. Diese Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnisproblems. Isoliert man dies Problem für die Geisteswissenschaften, so erscheint eine für alle überzeugende Auflösung nicht unmöglich. Die Bedingungen derselben würden sein: Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung; Bewahrheiten der Existenz einer Außenwelt; alsdann sind in dieser Außenwelt geistige Tatsachen und geistige Wesen kraft eines Vorgangs von Übertragung unseres Inneren in dieselbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne geblickt hat, ihr Bild in den verschiedensten Farben, an den verschiedensten Stellen im Räume wiederholt: so vervielfältigt unsere Auffassung das Bild unseres Innenlebens und versetzt es in mannigfachen Abwandlungen an verschiedene Stellen des uns umgebenden Naturganzen; dieser Vorgang läßt sich aber logisch als ein Analogieschluß von diesem originaliter uns allein unmittelbar gegebenen Innenleben, vermittels der Vorstellungen von den mit ihm verketteten Äußerungen, auf ein verwandten Erscheinungen der Außenwelt entsprechend[20] Verwandtes, zugrunde Liegendes darstellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an sich selber sein mag, das Studium der Ursachen des Geistigen kann sich daran genügen lassen, daß jedenfalls ihre Erscheinungen als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zusammensein und ihrer Folge als ein Zeichen solcher Gleichförmigkeiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können. Tritt man aber in die Welt des Geistes und untersucht die Natur, sofern sie Inhalt des Geistes, sofern sie als Zweck oder Mittel in den Willen eingewoben ist: für den Geist ist sie eben, was sie in ihm ist, und was sie an sich sein mag, ist hier ganz gleichgültig. Genug, daß er so, wie sie ihm gegeben ist, auf ihre Gesetzmäßigkeit in seinen Handlungen rechnen und den schönen Schein ihres Daseins genießen kann.

9

Baconis aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis. Aph. 3.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 14-21.
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