IX. Stellung des Erkennens zu dem Zusammenhang geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit

[35] Von dieser Zergliederung der einzelnen psycho-physischen Einheiten ist diejenige unterschieden, welche das Ganze der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande hat. Franzosen und Engländer haben den Begriff einer die Theorie dieses Ganzen entwickelnden Gesamtwissenschaft entworfen und dieselbe als Soziologie bezeichnet. In der Tat kann die Erkenntnis der Entwicklung der Gesellschaft nicht von der Erkenntnis ihres gegenwärtigen Status getrennt werden. Beide Klassen von Tatsachen bilden einen Zusammenhang. Der gegenwärtige Zustand, in welchem die Gesellschaft sich befindet, ist das Ergebnis des früheren, und er ist zugleich die Bedingung des nächsten. Der ermittelte Status desselben in dem jetzigen Moment gehört im nächsten bereits der Geschichte an. Jeder Durchschnitt, der den Status der Gesellschaft in einem gegebenen Augenblick darstellt, ist daher, sobald man sich über den Moment erhebt, als ein geschichtlicher Zustand zu betrachten. Der Begriff der[35] Gesellschaft kann sonach gebraucht werden, dieses sich entwickelnde Ganze zu bezeichnen.14

Viel verschlungener noch, rätselhafter als unser eigener Organismus, als seine am meisten rätselhaften Teile, wie das Gehirn, steht diese Gesellschaft, d.h. die ganze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, dem Individuum als ein Objekt der Betrachtung gegenüber. Der Strom des Geschehens in ihr fließt unaufhaltsam voran, während die einzelnen Individua, aus denen er besteht, auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von ihm wieder abtreten. So findet das Individuum sich in ihm vor, als ein Element, mit anderen Elementen in Wechselwirkung. Es hat dies Ganze nicht gebaut, in das es hineingeboren ist. Es kennt von den Gesetzen, in denen hier Individuen aufeinander wirken, nur wenige und unbestimmt gefaßte. Wohl sind, es dieselben Vorgänge, die in ihm, vermöge innerer Wahrnehmung, ihrem ganzen Gehalt nach bewußt sind, und welche außer ihm dieses Ganze gebaut haben; aber ihre Verwickelung ist so groß, die Bedingungen der Natur, unter denen sie auftreten, sind so mannigfaltig, die Mittel der Messung und des Versuchs sind so eng begrenzt, daß die Erkenntnis dieses Baues der Gesellschaft durch kaum überwindlich erscheinende Schwierigkeiten aufgehalten worden ist. Hieraus entspringt die Verschiedenheit zwischen unserem Verhältnis zur Gesellschaft und dem zur Natur. Die Tatbestände in der Gesellschaft sind uns von innen verständlich, wir können sie in uns, auf Grund der Wahrnehmung unserer eigenen Zustände, bis auf einen gewissen Punkt nachbilden, und mit Liebe und Haß, mit leidenschaftlicher Freude, mit dem ganzen Spiel unserer Affekte begleiten wir anschauend die Vorstellung der geschichtlichen Welt. Die Natur ist uns stumm. Nur die Macht unserer Imagination ergießt einen Schimmer von Leben und Innerlichkeit über sie. Denn sofern wir ein mit ihr in Wechselwirkung stehendes System körperlicher Elemente sind, begleitet kein inneres Gewahrwerden das Spiel dieser Wechselwirkung. Darum kann auch die Natur für uns den Ausdruck erhabener Ruhe haben. Dieser Ausdruck schwände, wenn wir dasselbe wechselnde Spiel inneren Lebens in ihren Elementen gewahrten oder in ihnen vorzustellen gezwungen wären, welches die Gesellschaft für uns erfüllt. Die Natur ist uns fremd. Denn sie ist uns nur ein Außen, kein Inneres. Die Gesellschaft ist unsere Welt. Das Spiel der Wechselwirkungen[36] in ihr erleben wir mit, in aller Kraft unseres ganzen Wesens, da wir in uns selber von innen, in lebendigster Unruhe, die Zustände und Kräfte gewahren, aus denen ihr System sich aufbaut. Das Bild ihres Zustandes sind wir genötigt in immer regsamen Werturteilen zu meistern, mit nie ruhendem Antrieb des Willens wenigstens in der Vorstellung umzugestalten.

Dies alles prägt dem Studium der Gesellschaft gewisse Grundzüge auf, welche es durchgreifend von dem der Natur unterscheiden. Die Gleichförmigkeiten, welche auf dem Gebiet der Gesellschaft festgestellt werden können, stehen nach Zahl, Bedeutung und Bestimmtheit der Fassung sehr zurück hinter den Gesetzen, welche auf der sicheren Grundlage der Beziehungen im Raum und der Eigenschaften der Bewegung über die Natur aufgestellt werden konnten. Die Bewegungen der Gestirne, nicht nur unseres Planetensystems, sondern von Sternen, deren Licht erst nach Jahren unser Auge trifft, können als dem so einfachen Gravitationsgesetz unterworfen aufgezeigt und auf lange Zeiträume voraus berechnet werden. Eine solche Befriedigung des Verstandesvermögen die Wissenschaften der Gesellschaft nicht zu gewähren. Die Schwierigkeiten der Erkenntnis einer einzelnen psychischen Einheit werden vervielfacht durch die große Verschiedenartigkeit und Singularität dieser Einheiten, wie sie in der Gesellschaft zusammenwirken, durch die Verwicklung der Naturbedingungen, unter denen sie verbunden sind, durch die Summierung der Wechselwirkungen, welche in der Aufeinanderfolge vieler Generationen sich vollzieht und die es nicht gestattet, aus der menschlichen Natur, wie wir sie heute kennen, die Zustände früherer Zeiten direkt abzuleiten oder die heutigen Zustände aus einem allgemeinen Typus der menschlichen Natur zu folgern. Und doch wird dieses alles mehr als aufgewogen durch die Tatsache, daß ich selber, der ich mich von innen erlebe und kenne, ein Bestandteil dieses gesellschaftlichen Körpers bin, und daß die anderen Bestandteile mir gleichartig und sonach für mich ebenfalls in ihrem Innern auffaßbar sind. Ich verstehe das Leben der Gesellschaft. Das Individuum ist einerseits ein Element in den Wechselwirkungen der Gesellschaft, ein Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme dieser Wechselwirkungen, in bewußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derselben reagierend, und es ist zugleich die dieses alles anschauende und erforschende Intelligenz. Das Spiel der für uns seelenlosen wirkenden Ursachen wird hier abgelöst von dem der Vorstellungen, Gefühle und Beweggründe. Und grenzenlos ist die Singularität, der Reichtum im Spiel der Wechselwirkung, die hier sich auftun. Der Wassersturz setzt sich aus homogenen stoßenden Wasserteilchen zusammen; aber[37] ein einziger Satz, der doch mir ein Hauch des Mundes ist, erschüttert die ganze beseelte Gesellschaft eines Weltteils durch ein Spiel von. Motiven in lauter individuellen Einheiten: so verschieden ist die hier auftretende Wechselwirkung, nämlich das in der Vorstellung entspringende Motiv, von jeder anderen Art von Ursache. Andere unterscheidende Grundzüge folgen hieraus. Das auffassende Vermögen, welches in den Geisteswissenschaften wirkt, ist der ganze Mensch; große Leistungen in ihnen gehen nicht von der bloßen Stärke der Intelligenz aus, sondern von einer Mächtigkeit des persönlichen Lebens. Diese geistige Tätigkeit findet sich, ohne jeden weiteren Zweck einer Erkenntnis des Totalzusammenhangs von dem Singularen und Tatsächlichen in dieser geistigen Welt angezogen und befriedigt, und mit dem Auffassen ist für sie praktische Tendenz in Beurteilung, Ideal, Regel verbunden.

Aus diesen Grundverhältnissen ergibt sich für das Individuum der Gesellschaft gegenüber ein doppelter Ansatzpunkt seines Nachdenkens. Es vollbringt seine. Tätigkeit an diesem Ganzen mit Bewußtsein, bildet Regeln derselben, sucht Bedingungen derselben in dem Zusammenhang der geistigen Welt. Andererseits aber verhält es sich als anschauende Intelligenz und möchte in seiner Erkenntnis dies Ganze erfassen. So sind die Wissenschaften der Gesellschaft einerseits von dem Bewußtsein des Individuums über seine eigene Tätigkeit und deren Bedingungen ausgegangen; auf diese Weise bildeten sich Grammatik, Rhetorik, Logik, Ästhetik, Ethik, Jurisprudenz zunächst aus; und hier ist begründet, daß ihre Stellung im Zusammenhang der Geisteswissenschaften zwischen Analysis und Regelgebung, deren Objekt die Einzeltätigkeit des Individuums ist, und solcher, die, ein ganzes gesellschaftliches System zum Gegenstande hat, in unsicherer Mitte bleibt. Hatte die Politik ebenfalls, wenigstens anfangs vorwiegend, dies Interesse: so verband es sich doch in ihr bereits mit dem einer Übersicht über die politischen Körper. Ausschließlich aus solchem Bedürfnis eines freien, anschauenden, von dem Interesse am Menschlichen innerlich bewegten Überblicks entstand dann die Geschichtschreibung. Indem aber die Berufsarten innerhalb der Gesellschaft sich immer mannigfacher gliederten, die technische Vorbildung für dieselben immer mehr Theorie entwickelte und in sich faßte: drangen diese technischen Theorien von ihrem praktischen Bedürfnis aus immer tiefer in das Wesen der Gesellschaft ein; das Interesse der Erkenntnis gestaltete sie allgemach zu wirklichen Wissenschaften um, welche neben ihrer praktischen Abzweckung an der Aufgabe einer Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit mitarbeiteten.[38]

Die Aussonderung der Einzelwissenschaften der Gesellschaft vollzog sich sonach nicht durch einen Kunstgriff des theoretischen Verstandes, welcher das Problem der Tatsache der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt durch eine methodische Zerlegung des zu untersuchenden Objektes zu lösen unternommen hätte: das Leben selber vollbrachte sie. So oft die Ausscheidung eines gesellschaftlichen Wirkungskreises eintrat und dieser eine Anordnung von Tatsachen hervorbrachte, auf welche die Tätigkeit des Individuums sich bezog, waren die Bedingungen da, unter denen eine Theorie entstehen konnte. So trug der große Differenzierungsprozeß der Gesellschaft, in welchem ihr wunderbar verschlungener Bau entstanden ist, in sich selber die Bedingungen und zugleich die Bedürfnisse, vermöge deren die Abspiegelung eines jeden relativ selbständig gewordenen Lebenskreises derselben in einer Theorie sich vollzog. Und so stellt sich schließlich die Gesellschaft, in welcher, gleichsam der mächtigsten aller Maschinen, jedes dieser Räder, dieser Walzen nach seinen Eigenschaften wirkt und doch in dem Ganzen seine Funktion hat, in dem Nebeneinanderbestehen und Ineinandergreifen so mannigfacher Theorien bis zu einem gewissen Grade vollständig dar.

Auch machte sich zunächst innerhalb der positiven Wissenschaften des Geistes kein Bedürfnis geltend, die Beziehungen dieser einzelnen Theorien zueinander und zu dem umfassenden Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, dessen Teilinhalte sie ausgesondert betrachteten, festzustellen. Spät und vereinzelt sind in diese Lücke die Philosophie des Geistes, der Geschichte, der Gesellschaft eingetreten, und wir werden die Gründe aufzeigen, aus welchen sie den Bestand stetig und sicher sich entwickelnder Wissenschaften nicht gewonnen haben. So heben sich die wirklichen und durchgebildeten Wissenschaften einzeln und in leichten Verknüpfungen von dem weiten Hintergrunde der großen Tatsache der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ab. Nur durch die Beziehung auf diese lebendige Tatsache und ihre deskriptive Darstellung, nicht aber durch die Beziehung auf eine allgemeine Wissenschaft ist ihre Stelle bestimmt.[39]

14

Der Begriff der Soziologie oder Gesellschaftswissenschaft, wie Comte, Spencer u. a. ihn fassen, maß ganz unterschieden werden von dem Begriff, den Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft bei den deutschen Staatsrechtslehrern erhalten haben, welche in dem Status einer gegebenen Zeit Gesellschaft und Staat unterscheiden, ausgehend von dem Bedürfnis, die äußere Organisation des Zusammenlebens zu bezeichnen, welche die Voraussetzung und Grundlage des Staats bildet.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 35-40.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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