XII. Die Wissenschaften von den Systemen

der Kultur

[49] Den Ausgangspunkt für das Verständnis des Begriffs von Systemen des gesellschaftlichen Lebens bildet der Lebensreichtum des einzelnen Individuums selber, das als Bestandteil der Gesellschaft Gegenstand der ersten Gruppe von Wissenschaften ist. Denken wir uns einmal diesen Lebensreichtum in einem gegebenen Individuum als gänzlich unvergleichbar mit dem in einem anderen und auf dasselbe nicht übertragbar. Alsdann könnten diese Individua einander durch physische Gewalt bewältigen und unterjochen, allein sie besäßen keinen gemeinsamen Inhalt, jedes wäre in sich selber verschlossen gegen alle anderen. In der Tat gibt es in jedem Individuum einen Punkt, an welchem es sich schlechterdings nicht einordnet in eine solche Koordination seiner Tätigkeiten mit anderen. Was von diesem Punkte aus in der Lebensfülle des Individuums bedingt ist, das geht in keines der Systeme des gesellschaftlichen Lebens ein. Die Gleichartigkeit der Individuen ist die Bedingung dafür, daß eine Gemeinsamkeit ihres Lebensinhaltes da ist. – Denken wir uns dann das Leben in einem jeden dieser Individua wohl vergleichbar und übertragbar, aber einfach und unzerleglich, alsdann würde die Tätigkeit der Gesellschaft ein einziges System bilden. Wir machen uns die einfachsten Eigenschaften eines solchen Grundsystems klar. Dasselbe beruht zunächst auf der Wechselwirkung der Individuen in der Gesellschaft, sofern sie, auf der Grundlage eines denselben gemeinsamen Bestandteils der Menschennatur, ein Ineinandergreifen der Tätigkeiten zur Folge hat, in welchem dieser Bestandteil der Menschennatur zu seiner Befriedigung gelangt. Hierdurch unterscheidet sich ein solches Grundsystem[49] von jeder Veranstaltung, welche nur ein System von Mitteln für die Bedürfnisse der Gesellschaft in sich faßt. Geht man von der Wechselwirkung von Individuen aus, so unterscheidet sich die direkte, in welcher ein Individuum A seine Wirkung auf B C D erstreckt und von ihnen Einwirkung empfängt, von den indirekten, welche auf den Fortwirkungen der Veränderung in B auf R Z beruhen. Vermöge der ersteren entsteht ein Horizont direkter Wechselwirkungen der einzelnen Individuen, und dieser ist für sie ein sehr verschiedener. Die indirekten sind in der Gesellschaft nur begrenzt durch die sie vermittelnden Bedingungen der Außenwelt. Ein solches System, wie es auf den direkten und indirekten Wechselwirkungen von Individuen in der Gesellschaft beruht, hat notwendig die Eigenschaften der Steigerung und Entwicklung. Denn zu den Gesetzen der psychischen Lebenseinheit, welche Steigerung und Entwicklung bedingen, tritt das entsprechende Grundverhältnis ihrer Wechselwirkungen, welchem gemäß Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen bei ihrer Übertragung von dem Individuum A auf das B in A mit ihrer alten Stärke verbleiben, während sie auf B übergehen. – Bestünde nun ein einziges solches System, so würde es das ganze Leben der Gesellschaft ausmachen; der Vorgang der Übertragung in ihm und sein Inhalt wären eins und einfach. In Wirklichkeit ist der Lebensreichtum des Individuums in Wahrnehmungen und Gedanken, in Gefühle, in Willensakte geschieden. Gleichviel also, welche Sonderungen und Verbindungen in ihm sonst noch stattfinden, schon hierdurch, vermöge der natürlichen Gliederung des psychischen Lebens, ermöglicht dieser Lebensinhalt eine Verschiedenheit der Systeme im Leben der Gesellschaft.

Diese Systeme beharren, während die einzelnen Individuen selber auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von demselben wieder abtreten. Denn jedes ist auf einen bestimmten, in Modifikationen wiederkehrenden Bestandteil der Person gegründet. Die Religion, die Kunst, das Recht sind unvergänglich, während die Individua, in denen sie leben, wechseln. So strömt in jeder Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichtum der Menschennatur, sofern sie in einem Bestandteil derselben gegenwärtig oder mit ihm in Beziehung sind, in das auf diesen gegründete System ein. Ist auch z.B. die Kunst auf das Vermögen der Phantasie, als einen einzelnen Bestandteil der Menschennatur, gegründet: so ist doch in ihren Schöpfungen der ganze Reichtum der Menschennatur gegenwärtig. Seine volle Realität, Objektivität empfängt das System aber erst dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von Individuen, die rasch vergänglich sind, auf eine mehr dauernde oder sich wiedererzeugende Weise aufzubewahren[50] und zu vermitteln die Fähigkeit hat. Diese Verbindung von wertvoll nach dem Zweck eines solchen Systems gestalteten Bestandteilen der Außenwelt mit der lebendigen, aber vorübergehenden Tätigkeit der Personen, erzeugt eine von den Individuen selber unabhängige äußere Dauer und den Charakter von massiver Objektivität dieser Systeme. Und so gestaltet sich jedes derselben als eine auf einem Bestandteil der Natur der Personen beruhende, von ihm aus mannigfach entwickelte Tätigkeitsweise, welche im Ganzen der Gesellschaft einem Zweck derselben genügt, und die mit denjenigen in der Außenwelt hergestellten dauernden oder im Zusammenhang mit der Tätigkeit sich erneuenden Mitteln ausgestattet ist, welche dem Zweck dieser Tätigkeit dienen.

Das einzelne Individuum ist ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen, welche sich im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren. Ja derselbe Lebensakt eines Individuums kann diese Vielseitigkeit zeigen. Indem ein Gelehrter ein Werk abfaßt, kann dieser Vorgang ein Glied in der Verbindung von Wahrheiten bilden, welche die Wissenschaft ausmachen; zugleich ist derselbe das wichtigste Glied des ökonomischen Vorgangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare sich vollzieht; derselbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine rechtliche Seite, und er kann ein Bestandteil der in den Verwaltungszusammenhang eingeordneten Berufsfunktionen des Gelehrten sein. Das Niederschreiben eines jeden Buchstabens dieses Werkes ist so ein Bestandteil all dieser Systeme.

Die abstrakte Wissenschaft stellt nunmehr diese so in der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit verwebten Systeme nebeneinander. Wird doch der einzelne in sie hineingeboren und findet sie daher als eine Objektivität sich gegenüber, die vor ihm war, nach ihm verbleibt und mit ihren Veranstaltungen auf ihn wirkt. So stellen sie sich der wissenschaftlichen Einbildungskraft als auf sich selber beruhende Objektivitäten dar. Nicht nur die Wirtschaftsordnung oder die Religion, selbst die Wissenschaft steht als eine solche bildlich vor uns. Der umfassende Schluß von der erscheinenden Himmelskugel, von der täglichen und jährlichen Bewegung der Sonne, den teilweise so verschlungenen Bewegungen der Gestirne an ihr auf die wirklichen Stellungen, Massen, Bewegungsformen, Geschwindigkeiten der Körper im Weltraume existiert in seinen Gliedern für den heutigen Menschen als ein objektiver Tatbestand, Teil des umfassenderen der Naturwissenschaft, ganz losgelöst von den Personen, in denen er sich vollzieht: ein Tatbestand, zu welchem sich der einzelne als zu einer geistigen Wirklichkeit verhält.[51]

Indem so diese Systeme nebeneinander der Analysis unterworfen werden, können solche Untersuchungen nur in steter Beziehung auf die andere Klasse von Untersuchungen angestellt werden, welche die Gemeinsamkeiten und Verbände innerhalb der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zu ihrem Gegenstande haben. Im Hinblick auf diese Beziehung tritt ein für die Konstitution dieser Wissenschaften folgenreicher Unterschied zwischen den einzelnen Systemen hervor.

Ein jedes derselben entwickelt sich innerhalb des Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn jedes ist das Erzeugnis eines Bestandteils der menschlichen Natur, einer in ihm angelegten, durch den Zweckzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens näher bestimmten Tätigkeit. Es ist in dieser der Gesellschaft aller Zeiten gemeinsamen Grundlage angelegt, wenn es auch erst auf einer höheren Kulturstufe zu abgesonderter und innerlich reicher Entfaltung gelangt. In einem stärkeren oder geringeren Grade stehen nun diese Systeme mit der äußeren Organisation der Gesellschaft in Beziehung, und dies Verhältnis bedingt ihre nähere Gestaltung. Insbesondere kann das Studium der Systeme, in welche das praktische Handeln der Gesellschaft sich zerlegt hat, von dem Studium des politischen Körpers nicht getrennt werden, da sein Wille alle äußeren Handlungen der ihm unterworfenen Individuen beeinflußt.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 49-52.
Lizenz:
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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