Die äußere Organisation der Gesellschaft als geschichtlicher Tatbestand

[70] Unter einem Verband verstehen wir eine dauernde auf einen Zweckzusammenhang gegründete Willenseinheit mehrerer Personen. Wie vielfach auch die Formen von Verbänden sich gestaltet haben, ihnen allen ist eigen: die Einheit in ihnen geht über das formlose Bewußtsein von Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft, über die dem Einzelvorgang überlassene intimere Wechselwirkung innerhalb einer Gruppe hinaus: eine solche Willenseinheit hat eine Struktur: die Willen sind in einer bestimmten Form zum Zusammenwirken verbunden. Zwischen diesen Merkmalen eines jeden Verbandes besteht aber eine sehr einfache Beziehung. Schon das kann als tautologisch angesprochen werden, daß die Willenseinheit zwischen mehreren Personen auf einen Zweckzusammenhang gegründet sei. Denn weichen Einfluß auch die Gewalt auf die Gestaltung einer solchen Willenseinheit habe: Gewalt ist doch nur eine Art und Weise, in welcher die Zusammenordnung des Gefüges sich vollziehen kann: den Arm der Gewalt setzt ein Wille in Bewegung, der von einem Zweck geleitet wird, und er hält den Unterworfenen fest, weil derselbe ein Mittel für einen von ihm herzustellenden Zweckzusammenhang ist.[70] Daher behält Aristoteles recht, der am Beginn seiner Politik dem Sinne nach sagt: pasa koinônia agathou tinos heneka synestêken. Die Gewalt unterwarf, auch geschichtlich angesehen, nur, um die Geknechteten in den Zweckzusammenhang des eigenen Tuns einzuordnen. Ein dauernder Zweckzusammenhang aber bringt in der Anordnung der Individuen, die ihm unterworfen sind, alsdann der Güter, deren er bedarf, eine Struktur hervor: so ist von dem Merkmal des Zweckzusammenhangs wieder das der Struktur bedingt: der Zweckzusammenhang wirkt als Bildungsgesetz für die Gestaltung des Verbandes. Welch merkwürdige Tatsache! die Beziehung von Zweck, Funktion und Struktur, welche im Reich der organischen Wesen nur als ein hypothetisch eingeführtes Hilfsmittel der Erkenntnis die Forschung leitet, ist hier erlebte, geschichtlich aufweisbare, gesellschaftlicher Erfahrung zugängliche Tatsache. Und welche Umdrehung des Verhältnisses also, den Begriff des Organismus, wie er in den Tatsachen der organischen Natur festgestellt werden kann, in denen er dunkel und hypothetisch ist, als Leitfaden für die durch diese Beziehung in der Gesellschaft entstehenden Verhältnisse gebrauchen zu wollen, welche erlebt und klar sind.

Daher ist es viel naturgemäßer, wenn die Naturforschung sich der Analogie mit den gesellschaftlichen Tatsachen jetzt gern bedient, sooft sie vom tierischen Organismus spricht. Nur entsteht so die Gefahr, daß ein neues naturphilosophisches Spiel mit dem Leben in der Materie durch diese Bildersprache sanft eingänglich gemacht werde. Für die Staatswissenschaften ist jedenfalls die Aufgabe klar vorgezeichnet in dieser Rücksicht. Da die Naturwissenschaften an einem Sinnlichen eine anschauliche Vorlage haben, da sie eine anschauliche, ja eindringliche Terminologie entwickelt haben, durch welche die Lücken in der Terminologie der Wissenschaften von der Gesellschaft auszufüllen sehr verlockend ist: so gilt es, klare und eigentliche Ausdrücke in den Geisteswissenschaften festzustellen, welche die vorhandenen Lücken ergänzen, und so einen reinen und in sich folgerichtigen Sprachgebrauch auszubilden, welcher die Geisteswissenschaften vor der Sprachmischung mit den Naturwissenschaften schützt und die Entwicklung fester und allgemeingültiger Begriffe auf dem Gebiet geistiger Tatsachen auch von der Seite der Terminologie aus fördert.

Die Grenze, welche den Verband von anderen Formen des Zusammenwirkens in der Gesellschaft trennt, kann nicht in eindeutiger und doch für alle Rechtsordnungen gleichmäßig gültiger Weise in Begriffen festgestellt werden.

Das Merkmal der Dauer unterscheidet den Verband von vorübergehenden[71] Beziehungen der Willen in einem Zweckzusammenhang, insbesondere im Vertrag, nur insofern, als es in der Natur des Vertrags an und für sich nicht liegt, dauernde Verhältnisse herbeizuführen. Dieses Merkmal ist außerdem in sich unbestimmt, und steht es auch mit dem Zweckzusammenhang in Beziehung, dessen Natur auf die Dauer der Verbindung wirkt, so ermöglicht doch diese Beziehung nicht eine klare Abgrenzung des Verbandes von mehr vorübergehenden Formen der Willenseinigung. Denn zunächst bringt nicht jeder Zweck einen Verband hervor. Viele unserer Lebensäußerungen, ob sie gleich zweckmäßig sind, greifen gar nicht in das zweckmäßige Handeln anderer Personen ein. Wo dies alsdann der Fall ist, kann oftmals der Zweck durch eine Koordination von Einzeltätigkeiten mach- und nebeneinander wirkender Personen erreicht werden. So liegt es im Wesen des künstlerischen Schaffens, daß ihm seine Gestalten aus der einsamen Tiefe des Gemüts emporsteigen, und dann doch in das Reich der Schatten, welche die Phantasie der Menschheit erfüllen, an einer bestimmten Stelle eintreten und in diesem stillen Reich nach einem höheren über den Künstler hinausreichenden Zweckzusammenhang einen Platz ausfüllen. Wo schließlich ein solcher Zweckzusammenhang auf andere Personen rechnet, reicht dann wieder meist der Vertrag aus, sofern er eine Einigung über ein einzelnes Geschäft oder eine Reihe von Geschäften bewirkt. Von ihm führt zum Verband ein Fortgang, innerhalb dessen unmöglich auf eine für die Lebensverhältnisse und Rechtsordnungen der verschiedensten Kulturstufen gleichmäßig gültige Weise der Einschnitt des Begriffs vollzogen werden kann. Denn diese Grenze zwischen einem Vertrag, der sich auf ein einzelnes Geschäft oder eine Reihe von Geschäften bezieht, und der Begründung eines Verbands wird durch das Recht fixiert; sonach kann sie ihrer Natur nach nur juristisch auf eindeutige Weise ausgedrückt werden; und da nun die Rechtsordnungen verschieden sind, so ist z.B. eine Konstruktion, welche aus dem römischen Gegensatz von societas und universitas die Bestimmung des Punktes ableitet, an dem Vertragsverhältnisse in Verbandsverhältnisse übergehen, doch offenbar unbrauchbar, den Punkt im deutschen Recht zu bezeichnen, an welchem irgendeine Form von Verband auftritt.

Sowenig als der Grenzpunkt, kann eine Einteilung der Verbände auf eine für alle Rechtsordnungen gültige Weise in begrifflicher Fassung festgestellt werden.

Der Begriff, welcher diese Abgrenzungen konstruiert, gehört als Rechtsbegriff notwendig irgendeiner einzelnen Rechtsordnung an. Daher kann nur die Funktion, welche ein solcher Begriff in einer bestimmten Rechtsordnung hat, verglichen werden mit der, welche in einer[72] anderen einem entsprechenden Begriff zukommt. So kann die Funktion, welche den Begriffen von municipium, collegium, societas publicanorum in der römischen Rechtsordnung zukommt, mit der Funktion verglichen werden, welche im deutschen Recht die Begriffe Gemeinde, Gilde, Erwerbsgenossenschaft haben. Tatsachen, wie die Familie und der Staat, können aber, wie uns die erkenntnistheoretische Grundlegung zeigen wird, überhaupt einer wirklichen Konstruktion durch den Begriff nicht unterworfen werden. Jedes Verfahren, welches sich diese Aufgabe stellt, setzt einen Mechanismus zusammen. Immer wieder erneuert sich in anderen Formen der fundamentale Fehler des Naturrechts, welches, von der richtigen Erkenntnis aus, daß das Recht ein in einem Bestandteil der menschlichen Natur gegründetes, daher nicht aus dem Belieben des Staates entsprungenes System sei, nunmehr seinerseits zur Konstruktion des Staates aus dem Recht fortschritt: eine verhängnisvolle Verkennung der anderen Seite des Tatbestandes, der gewaltigen Ursprünglichkeit des menschlichen Verbandslebens. Das Verfahren einer zusammensetzenden Konstruktion ist sehr fruchtbar für die Ableitung der Rechtsverhältnisse innerhalb eines in seinen Elementen bestimmten Rechtssystems; aber es hat hier seine Grenze. Diese große geschichtliche Wirklichkeit kann nur als solche, kann nur in ihrem historischen Zusammenhang verstanden werden, und dessen Grundgesetz ist: das Verbandsieben der Menschheit hat sich nicht auf dem Wege der Zusammensetzung gebildet, sondern es hat sich aus der Einheit des Familienverbandes differenziert und entfaltet. All unser Erkennen vermag nur, rückschreitend von der Gliederung dieses Verbandslebens, wie wir es auf uns zugänglichen, den primären Zuständen möglichst nahen Stufen der äußeren gesellschaftlichen Organisation vorfinden, die Reste zu interpretieren, welche ein Licht auf den großen geschichtlichen Vorgang werfen, in welchem von der lebens- und machtvollen Einheit des Familienverbandes aus die äußere Organisation der Gesellschaft sich differenziert hat, und Verbandsieben, Verbandsentwicklung bei den verschiedenen Völkerfamilien und Völkern einem vergleichenden Verfahren zu unterwerfen. Es ist die außerordentliche Bedeutung der germanischen Verbandsentwicklung für eine solche vergleichende Untersuchung, daß auf eine verhältnismäßig sehr frühe Stufe einer Verbandsentwicklung, welche zu einer außerordentlich reichen Entfaltung genossenschaftlichen Daseins bestimmt war, ein ausreichendes geschichtliches Licht fällt.17 Auf dem Gebiet der äußeren Organisation der Menschheit ist das umfassende Grundgesetz des geschichtlichen[73] Lebens in seiner Wirksamkeit noch deutlich fühlbar, nach welchem, wie ich zeigen werde, auch die Totalität des inneren Zwecklebens sich nur allmählich zu den einzelnen Kultursystemen differenziert hat und nach welchem diese Kultursysteme erst allmählich zu ihrer vollen Selbständigkeit und Einzelausbildung gelangt sind.

Die Familie ist der fruchtbare Schoß aller menschlichen Ordnung, alles Verbandslebens: Opfergemeinschaft, wirtschaftliche Einheit, Schutzverband, auf dem Gründe der naturmächtigen Bande von Liebe und Pietät, enthält sie das, was ihre bleibende Funktion ist, in noch nicht differenzierter Einheit mit Recht, Staat, religiösem Verband ineinandergewachsen. Doch ist auch diese konzentrierteste Form von Willenseinheit unter Individuen, die in der Welt ist, nur relativ; die Individuen, aus denen sie sich zusammenfügt, gehen nicht gänzlich in sie ein, das Individuum ist in seiner letzten Tiefe für sich selber. Wenn die Auffassung, welche die menschliche Freiheit und Tat in das Naturleben des Organismus versenkt, die Familie als »soziale Gewebezelle«18 betrachtet: so wird in einem solchen Begriff gleich im Beginn der Wissenschaft von der Gesellschaft das freie Fürsichsein des Individuums schon im Familienverbande eliminiert, und wer mit dem zellenhaften Leben der Familie beginnt, kann nur mit der sozialistischen Gestaltung der Gesellschaft endigen.

indem dann weiter Familien die Verbände der Geschlechterordnung bilden, diese in Verbände anderer Struktur, wie die von Niederlassung sind, eintreten oder von einem weiteren Verbande umfaßt werden, muß, gemäß der Grundfunktion des Staates, Macht zu sein, welche die Souveränität zu seinem spezifischen Merkmal macht, die Staatsfunktion jedesmal in dem weitesten Verbande ihren Sitz haben; so sondern sich Familienverband und Staatsverband voneinander. Wo die Germanen in die Geschichte eintreten, finden wir diese Trennung lange vollzogen, den deutschen Hausverband für sich gestaltet, von der Zeit, in welcher die Sippe einst die Familien zu einem selbständigen Verbande verknüpft haben mag, nur noch Reste, und Volksgemeinden als selbständige staatliche Gemeinwesen. Die Stadien, welche hier, von keinem Beobachter wahrgenommen, durchlaufen worden sind, ehe ein Cäsar oder Tacitus aufzeichneten, was in der nördlichen Wildnis geschah, sind nur teilweise zugänglich in den Berichten der Reisenden von dem Verbandsieben der Naturvölker. Aber während die Reste des ältesten germanischen Verbandslebens darauf deuten, daß die patriarchalische Gewalt (mundium), die im Hausverbande waltete, nicht konstitutiv für den Geschlechtsverband wurde,[74] begegnen wir nun hier bei vielen Stämmen einer aus der patriarchalischen Hausordnung erwachsenden Häuptlingsverfassung. So ist der Vorgang der Differenzierung, welcher die äußere gesellschaftliche Organisation bei den verschiedenen Völkerfamilien und Völkern hervorbringt, gleich in seinem Ansatz verschieden. Dies zieht einem vergleichenden Verfahren, welches sich der Zustände von Naturvölkern zur Aufhellung älterer Zustände der jetzigen europäischen Nationen bedient, feste Grenzen.

Es entfaltet sich aber die äußere Organisation der Gesellschaft in Familie, Geschlechterordnung, örtlichem Verband, in jedem herrschaftlichen Verbande, in Kirche und anderem Religionsverband, in den mannigfachen Modifikationen dieser Formen mit einer naturmächtigen Ursprünglichkeit und Unermeßlichkeit, Biegsamkeit und Anpassung, welcher gemäß jeder dieser Verbände eine unbestimmte und wechselnde Mannigfaltigkeit von Zwecken in sich hegt, diesen Zweckzusammenhang fallen läßt und jenen aufnimmt, ja nur für heute einen Zweck fallen läßt, um ihn dann morgen wieder aufzunehmen und subsidiär jedes Gemeinbedürfnis zu befriedigen die Tendenz hat. So besteht wohl im Verbandsieben der Menschheit der am meisten gleichmäßig durchgreifende Unterschied zwischen diesen Verbänden und den anderen, welche durch einen bestimmten Akt bewußter Willensvereinigung, für einen mit Bewußtsein gesetzten und begrenzten Zweck konstituiert worden sind und welche daher naturgemäß einem späteren Stadium des Verbandslebens bei einem jeden Volke angehören.

Überblickt man das Ganze der äußeren Organisation, das so die Menschheit sich geschaffen hat, so ist der Reichtum der Formen unermeßlich. In allen diesen Formen ist es die Beziehung zwischen Zweck, Funktion und Struktur, welche ihr Bildungsgesetz und daher die Ausgangspunkte für die Methode der Vergleichung darbietet. Und in irgendeinem geschichtlichen Durchschnitt findet das Studium des Verbandslebens der Menschheit beinahe jeden Grad von Umfang des Zweckzusammenhangs irgendeinem Verbande zugrunde liegend, von der Lebensgemeinschaft der Familie bis zu der gegenseitigen Versicherungsgesellschaft gegen Hagelschaden: sie findet beinahe jede Form von Struktur, von den Despotenstaaten im Herzen von Afrika bis zu der modernen Aktiengesellschaft, in welcher jeder Teilnehmer seine Einzelpersönlichkeit voll behauptet und nur vertragsmäßig einen genau begrenzten Teil seines Vermögens dem gemeinsamen Zwecke widmet.

17

Vgl. die Darstellung Gierkes im ersten Bande seines Werkes über das Deutsche Genossenschaftsrecht (Berlin 1868).

18

Schäffle, Bau und Leben des organischen Körpers I, 213 ff.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 70-75.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studium Der Gesellschaft Und Der Geschichte (German Edition)
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studien Der Gesellschaft Und Der Geschichte ; Erster Band, Volume 1 (German Edition)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Fräulein Else

Fräulein Else

Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

54 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon