XIX. Die Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Grundlegung für die Einzelwissenschaften des Geistes

[116] Alle Fäden der bisherigen Erwägungen laufen in der folgenden Einsicht zusammen. Das Erkennen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit vollzieht sich in den Einzelwissenschaften des Geistes. Diese aber bedürfen ein Bewußtsein über das Verhältnis ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, deren Teilinhalte sie sind, sowie zu den anderen Wahrheiten, die gleich ihnen aus dieser Wirklichkeit abstrahiert sind, und nur ein solches Bewußtsein kann ihren Begriffen die volle Klarheit, ihren Sätzen die volle Evidenz gewähren.

Aus diesen Prämissen ergibt sich die Aufgabe, eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften zu entwickeln, alsdann das in einer solchen geschaffene Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, die Grenzen, innerhalb deren ein Erkennen in ihnen möglich ist, sowie das Verhältnis ihrer Wahrheiten zueinander zu bestimmen. Die Lösung dieser Aufgabe könnte als Kritik der historischen Vernunft, d.h. des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen, bezeichnet werden.

Eine solche Grundlegung der Geisteswissenschaften muß sich, wenn sie ihr Ziel erreichen will, in zwei Punkten von den bisherigen Arbeiten verwandter Art unterscheiden. Sie verknüpft Erkenntnistheorie und Logik miteinander und bereitet so die Lösung der Aufgabe vor, welche im Schulbetrieb als Enzyklopädie und Methodologie bezeichnet wird. Aber sie schränkt andererseits ihr Problem auf das Gebiet der Geisteswissenschaften ein.

Die Logik als Methodenlehre zu gestalten, ist die gemeinsame Richtung aller hervorragenden logischen Arbeiten unseres Jahrhunderts. Aber das Problem der Methodenlehre empfängt durch den Zusammenhang, in welchem es in der neueren deutschen Philosophie auftritt, eine besondere Form. Diese Form der Aufgabe ist in dem ganzen Zusammenhang unserer Philosophie objektiv angelegt und muß jede Methodenlehre, die unter uns auftritt, unterscheiden von den Arbeiten eines Stuart Mill, Whewell oder Jevons.

Die Analysis der Bedingungen des Bewußtseins hat die unmittelbare Gewißheit der Außenwelt, die objektive Wahrheit der Wahrnehmung, alsdann der Sätze, welche die Eigenschaften des Räumlichen[116] ausdrücken, sowie der Begriffe von Substanz und Ursache, welche die Natur des Wirklichen aussprechen, aufgelöst, und zwar wurde sie teils getragen, teils bestätigt durch die Ergebnisse der Physik und Physiologie: so entsteht die Aufgabe, die einzelnen Wissenschaften mit diesem kritischen Bewußtsein zu erfüllen. Den Anforderungen an Evidenz, in welchen die positiven Wissenschaften der früheren Zeit zusammentrafen mit der formalen Logik jener Tage, wurde genuggetan, indem die im Bewußtsein als unmittelbar gewiß auftretenden Tatsachen und Sätze unter die Gesetze des diskursiven Denkens gestellt wurden. Nunmehr aber, vom kritischen Standpunkte aus, sind an die Gestaltung eines seiner Sicherheit klar bewußten Denkzusammenhangs innerhalb der einzelnen Wissenschaften andere Anforderungen zu stellen. Hieraus entspringt für die Logik die Aufgabe, diese Anforderungen zu entwickeln, wie sie der kritische Standpunkt an die Gestaltung eines seiner Sicherheit klar bewußten Denkzusammenhangs innerhalb der einzelnen Wissenschaften machen muß.

Eine Logik, welche diese Anforderungen erfüllt, bildet das Mittelglied zwischen dem Standpunkt, welchen die kritische Philosophie errungen hat, und den fundamentalen Begriffen und Sätzen der einzelnen Wissenschaften. Denn die Regeln, welche diese Logik entwirft, wollen die Sicherheit von Sätzen der Einzelwissenschaften durch einen Zusammenhang gewährleisten, welcher auf die Elemente gegründet ist, bis zu denen die Analysis des Bewußtseins die Sicherheit des Wissens zurückführt. Es ist auch hier die nicht aufzuhaltende Bewegung in der Wissenschaft unseres Jahrhunderts, die Grenzen niederzureißen, welche ein eingeschränkter Fachbetrieb zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften errichtet hat.

Den Anforderungen des kritischen Bewußtseins vermag aber die Logik nur zu entsprechen, indem sie ihr Gebiet über die Analysis des diskursiven Denkens hinaus erweitert. Die formale Logik schränkt sich auf die Gesetze des diskursiven Denkens ein, welche aus dem Überzeugungsgefühl abstrahiert werden konnten, das unser im Bewußtsein verlaufendes Urteilen und Schließen begleitet. Diese Logik dagegen, welche die Konsequenz des kritischen Standpunktes zieht, nimmt die von Kant als transzendentale Ästhetik und Analytik bezeichneten Untersuchungen in sich auf, d.h. den Zusammenhang der dem diskursiven Denken zugrunde liegenden Vorgänge; sie dringt also rückwärts in die Natur und den Erkenntniswert von Prozessen ein, deren Ergebnisse unsere früheste Erinnerung schon vorfindet. Und zwar kann sie dem so entstehenden, den inneren und äußeren Wahrnehmungsvorgang sowie das diskursive Denken umfassenden Zusammenhang ein Prinzip der Äquivalenz zugrunde legen, welchem gemäß die Leistung,[117] durch welche der Wahrnehmungsvorgang über das ihm Gegebene hinausgeht, dem diskursiven Denken gleichwertig ist. In der Richtung einer solchen Erweiterung der Logik liegt der von Helmholtz entworfene tiefe Begriff der unbewußten Schlüsse.53 Diese Erweiterung muß alsdann auf die Formeln zurückwirken, in welchen die Bestandteile und Normen des diskursiven Denkens dargestellt werden. Das logische Ideal selber ändert sich. Sigwart hat von diesem Standpunkt aus die Formeln der Logik umgebildet und so eine Methodenlehre unter kritischem Gesichtspunkt begründet.54 Nachdem einmal das kritische Bewußtsein da ist, kann es unmöglich eine Evidenz erster und zweiter Klasse oder Wissende erster und zweiter Rangordnung geben; nur derjenige Begriff ist nunmehr vollkommen in logischer Rücksicht, welcher ein Bewußtsein seiner Provenienz in sich enthält; nur derjenige Satz besitzt Sicherheit, dessen Begründung in ein unanfechtbares Wissen zurückreicht. Die logischen Anforderungen an den Begriff sind vom kritischen Standpunkt aus erst dann erfüllt, wenn im Zusammenhang der Erkenntnis, in welchem er auftritt, ein Bewußtsein des Erkenntnisvorganges selber, durch den er gebildet wird, vorhanden und ihm durch dieses sein Ort in dem System der Zeichen, welche sich auf die Wirklichkeit beziehen, eindeutig bestimmt ist. Den logischen Anforderungen an ein Urteil ist erst dann entsprochen, wenn das Bewußtsein seines logischen Grundes in dem Zusammenhang der Erkenntnis, in welchem es auftritt, die erkenntnistheoretische Klarheit über Gültigkeit und Tragweite des ganzen Zusammenhangs psychischer Akte einschließt, welche diesen Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller Erkenntnistheorie zurück: Natur des unmittelbaren Wissens um die Tatsachen des Bewußtseins und Verhältnis desselben zu dem nach dem Satze vom Gründe fortschreitenden Erkennen.

Diese Erweiterung des Gesichtskreises der Logik ist in Übereinstimmung mit der Richtung der positiven Wissenschaften selber. Indem das naturwissenschaftliche Denken über die natürliche Beziehung unserer Empfindungen auf Einzeldinge in Raum und Zeit hinausgeht, findet es sich überall auf die genaue Bestimmung dieser Empfindungen selber zurückgeführt, sonach auf die Bestimmung ihrer Abfolge nach einem allgemeingültigen Zeitmaß, auf allgemeingültige Orts- und Größenbestimmungen sowie Eliminierung der Beobachtungsfehler, kurz, auf Methoden, durch welche die Bildung der Wahrnehmungsurteile[118] selber zu logischer Vollkommenheit geführt werden kann. In bezug auf die Geisteswissenschaften aber zeigte sich uns, daß psychische und psychophysische Tatsachen die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, sondern ebenso von den Systemen der Kultur sowie von der äußeren Organisation der Gesellschaft bilden, und daß dieselben der historischen Anschauung und Analysis in jedem ihrer Stadien zugrunde liegen. Daher die erkenntnistheoretische Untersuchung über die Art, wie sie uns gegeben sind, und die Evidenz, die ihnen zukommt, allein wirkliche Methodenlehre der Geisteswissenschaften begründen kann.

So tritt zwischen die erkenntnistheoretische Grundlegung und die Einzelwissenschaften die Logik als Mittelglied; damit entsteht derjenige innere Zusammenhang der modernen Wissenschaft, welcher an die Stelle des alten metaphysischen Zusammenhangs unserer Erkenntnis treten muß.

Die zweite Eigentümlichkeit in Bestimmung der Aufgabe dieser Einleitung liegt in der Einschränkung derselben auf die Grundlegung der Geisteswissenschaften.55 – Wären die Bedingungen, unter denen das Erkennen der Natur steht, in demselben Sinn grundlegend für den Aufbau der Geisteswissenschaften, wären alle Verfahrungsweisen, vermittels deren unter diesen Bedingungen Naturerkennen erreicht wird, auf das Studium des Geistes anwendbar, und zwar keine als sie, wäre endlich die Art von Abhängigkeit der Wahrheiten voneinander sowie von Beziehung der Wissenschaften aufeinander dieselbe hier wie dort: alsdann wäre die Sonderung der Grundlegung der Geisteswissenschaften von der für die Wissenschaften der Natur ohne Nutzen. – In Wirklichkeit sind gerade die am meisten umstrittenen von den Bedingungen, unter denen naturwissenschaftliches Erkennen steht, nämlich räumliche Anordnung und die Bewegung in der Außenwelt, auf die Evidenz der Geisteswissenschaften ohne Einfluß, da56 die bloße Tatsache, daß solche Phänomene bestehen und Zeichen eines Realen sind, für die Konstruktion ihrer Sätze ausreicht. Tritt man also auf diese engere Grundlage, so eröffnet sich die Möglichkeit, für den Zusammenhang der Wahrheiten in den Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und Geschichte eine Sicherheit zu gewinnen, zu welcher die Naturwissenschaften, sofern sie mehr als Beschreibung von Phänomenen sein wollen, niemals gelangen können. – In Wirklichkeit sind ferner die Verfahrungsweisen der Geisteswissenschaften, als in denen ihr Objekt verstanden ist, noch bevor es[119] erkannt wird57, und zwar in der Totalität des Gemütes58 sehr verschieden von denen der Naturwissenschaften.59 Und man braucht nur die Stellung zu erwägen, welche hier die Auffassung der Tatsache als solcher hat60, alsdann ihr Hindurchgehen durch verschiedene Grade von Bearbeitung unter dem Einfluß der Analysis61 um die ganz andere Struktur des Zusammenhangs in diesen Wissenschaften zu erkennen. – Endlich stehen hier Tatsache, Gesetz, Wertgefühl und Regel in einem inneren Zusammenhang, welcher innerhalb der Naturwissenschaften so nicht stattfindet. Dieser Zusammenhang kann nur in der Selbstbesinnung erkannt werden62, und so hat dieselbe auch hier ein besonderes Problem der Geisteswissenschaften zu lösen, welches, wie wir sahen, auf dem metaphysischen Standpunkte der Philosophie der Geschichte seine Auflösung nicht fand.

Daher eine solche abgesonderte Behandlung die wahre Natur der Geisteswissenschaften für sich heraustreten läßt und so vielleicht dazu beiträgt, die Fesseln zu brechen, in denen die ältere und stärkere Schwester diese jüngere gehalten hat, von der Zeit ab, in welcher Descartes, Spinoza und Hobbes ihre an Mathematik und Naturwissenschaften gereiften Methoden auf diese zurückgebliebenen Wissenschaften übertrugen.[120]

53

Vgl. die letzte Fassung, Tatsachen in der Wahrnehmung (1879) S. 27.

54

1873 im ersten Band seiner Logik, dem dann 1878 im zweiten die Methodenlehre folgte.

55

S. 20.

56

S. 20.

57

S. 91 f.

58

S. 97 f.

59

S. 108 f.

60

S. 33.

61

S. 24 f., 40 f., 93 ff.

62

S. 89.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 116-121.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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