XVI. Ihre Methoden sind falsch

[104] Ist sonach die Aufgabe, welche die Wissenschaften sich stellten, an sich unlösbar, so sind ferner die Methoden derselben wohl dazu verwertbar, durch Generalisationen zu blenden, aber nicht dazu, eine bleibende Erweiterung der Erkenntnis herbeizuführen.

Die Methode der deutschen Philosophie der Geschichte entsprang einer Bewegung, welche im Gegensatz gegen das vom 18. Jahrhundert geschaffene natürliche System der Geisteswissenschaften sich in die Tatsächlichkeit des Geschichtlichen versenkte. Die Träger dieser Bewegung waren Winckelmann, Herder, die Schlegel, W. v. Humboldt. Sie bedienten sich eines Verfahrens, welches ich als das der genialen Anschauung bezeichne. Es war dies Verfahren keine besondere Methode, sondern der Prozeß der fruchtbaren Gärung selber, in der die Einzelwissenschaften des Geistes ineinanderarbeiteten: eine werdende Welt. Diese geniale Anschauung ist durch die metaphysische Schule auf ein Prinzip zurückgeführt worden. Wohl empfing durch diese Konzentration der Gehalt der genialen Anschauung auf kurze Zeit eine ungewöhnliche Energie der Wirkung; aber diese Konzentration kam nur zustande, indem nun die notiones universales ihr graues Netz über die geschichtliche Welt ausbreiteten. Der »Geist« Hegels, welcher in der Geschichte zum Bewußtsein seiner Freiheit kommt, oder die »Vernunft« Schleiermachers, welche die Natur durchdringt und gestaltet, dies ist eine abstrakte Wesenheit, welche in einer farblosen Abstraktion den geschichtlichen Weltlauf zusammenfaßt, ein Subjekt ohne Ort und ohne Zeit, den Müttern vergleichbar, zu denen Faust hinabsteigt. Aus der Anschauung abstrahierte Allgemeinvorstellungen sind dann die universalgeschichtlichen Epochen Hegels, und zwar ist die Abstraktion, die sie gewinnt, durch das metaphysische Prinzip geleitet; denn die Weltgeschichte ist ihm »eine Reihe[104] von Bestimmungen der Freiheit, welche aus dem Begriff der Freiheit hervorgehen«. Aus der Anschauung abstrahierte Allgemeinvorstellungen sind die Grundgestalten des Handelns der Vernunft, welche Schleiermacher entwirft, in denen dieses Handeln »als ein Mannigfaltiges, abgesehen von den Bestimmungen durch Raum und Zeit, gesondert durch Begriffsbestimmungen« erkannt wird. Hegel, der von der Geschichte ausging, ordnet diese Allgemeinvorstellungen in einer Zeitreihe, Schleiermacher, der von dem Erlebnis in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeht, breitet sie nebeneinander aus, wie ein anderes Naturreich.

Die Methoden, deren sich die Soziologie bedient hat, treten freilich mit dem Anspruch auf, daß durch sie die metaphysische Epoche abgetan, die der positiven Philosophie eröffnet sei. Doch hat der Begründer dieser Philosophie, Comte, nur eine naturalistische Metaphysik der Geschichte geschaffen, welche als solche den Tatsachen des geschichtlichen Verlaufs viel weniger angemessen war als die von Hegel oder Schleiermacher. Daher sind auch seine Allgemeinbegriffe viel unfruchtbarer. Brach Stuart Mill mit den gröberen Irrtümern Comtes, so wirken doch die feineren in ihm fort. Aus der Unterordnung der geschichtlichen Welt unter das System der Naturerkenntnis war im Geiste der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts die Soziologie Comtes entstanden; die Unterordnung der Methode des Studiums geistiger Tatsachen unter die Methoden der Naturwissenschaft hat wenigstens Stuart Mill festgehalten und verteidigt.

Die Auffassung Comtes betrachtet das Studium des menschlichen Geistes als abhängig von der Wissenschaft der Biologie, das, was von Gleichförmigkeiten in der Folge geistiger Zustände wahrgenommen werden kann, als den Effekt der Gleichförmigkeiten in den Zuständen des Körpers, und so leugnet sie, daß Gesetzmäßigkeit in psychischen Zuständen für sich studiert werden könne. Diesem logischen Verhältnis der Abhängigkeit unter den Wissenschaften entspricht dann nach ihm die historische Ordnung in der Abfolge, durch welche den Wissenschaften der Gesellschaft ihr historischer Ort bestimmt ist. Da die Soziologie die Wahrheiten aller Naturwissenschaften zu ihrer Voraussetzung hat, gelangt sie erst nach ihnen allen in das Stadium der Reife, d.h. zur Feststellung der Sätze, welche die gefundenen Einzelwahrheiten zu einem wissenschaftlichen Ganzen verknüpfen. Die Chemie trat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Lavoisier in dieses Stadium; die Physiologie erst im Beginn unseres Jahrhunderts mit der Gewebelehre von Bichat: so schien es Comte, daß die Konstituierung der gesellschaftlichen Wissenschaften als der höchsten Klasse wissenschaftlicher Arbeiten ihm selber[105] zufalle.45 – Allerdings erkennt er an (trotz seiner Neigung zu einförmiger Reglementierung der Wissenschaft), daß zwischen der Soziologie und den ihr voraufgehenden Wissenschaften, insbesondere der Biologie, welche auch unsere geringe Kenntnis psychischer Zustände in sich faßt, ein anderes Verhältnis bestehe als dasjenige, das zwischen, irgendeiner der früheren Wissenschaften und den sie bedingenden Wahrheiten sich findet; das Verhältnis der Deduktion und Induktion ist an diesem höchsten Punkte der Wissenschaften umgekehrt; die Generalisation aus dem in der Geschichte gegebenen Stoff ist der Schwerpunkt des Verfahrens der Wissenschaft der Gesellschaft, und die Deduktion aus den Ergebnissen der Biologie dient nur zur Verifizierung der so gefundenen Gesetze. – Dieser Einordnung der geistigen Erscheinungen unter den Zusammenhang der Naturerkenntnis liegen zwei Annahmen zugrunde, von denen die eine unbeweisbar, die andere augenscheinlich falsch ist. Die Annahme der ausschließlichen Bedingtheit psychischer Zustände durch physiologische ist ein voreiliger Schluß aus Tatbeständen, welche nach dem Urteil der unbefangenen physiologischen Forscher selber durchaus keine Entscheidung gestatten.46 Die Behauptung, innere Wahrnehmung sei in sich unmöglich und unfruchtbar, »ein Unternehmen, das unsere Nachkommen einmal zu ihrer Belustigung auf die Bühne gebracht sehen werden«, ist aus einer Entstellung des Wahrnehmungsvorgangs in irriger Weise gefolgert und wird ausführlich widerlegt werden.

In diesem Zusammenhang der Hierarchie der Wissenschaften entwickelt Comte »die notwendige Richtung des Gesamtzusammenhangs der menschheitlichen Entwicklung«47 welche ihm alsdann als Prinzip für die Leitung der Gesellschaft dient, aus der Anschauung des geschichtlichen Weltlaufs und verifiziert sie durch die Biologie. – In der biologischen Verifikation berühren wir augenscheinlich den Lebensknoten seiner Soziologie. Welches ist also die biologische Grundlage, deren Herstellung erst die Schöpfung der Soziologie ermöglichte ? Comte erklärt: die Methode, deren die Soziologie sich bedient, mußte erst auf dem Gebiet der Naturforschung ausgebildet werden. Das Mittel (milieu), in dem der Mensch sich befindet, mußte erst in den Wissenschaften der anorganischen Natur erkannt werden. Sei das, wir verlangen aber einen Zusammenhang, der in den Mittelpunkt der Soziologie selber hineinreicht. Es ist schwer, ein Lächeln zurückzuhalten:[106] er besteht darin, daß die Konstanz der äußeren biologischen Organisation die Konstanz einer gewissen psychischen Grundstruktur dartut, dann aber – doch wir geben seine Worte – nous avons reconnu, que le sens général de l'évolution humaine consiste surtout à diminuer de plus en plus l'inévitable prépondérance, nécessairement toujours fondamentale, mais d'abord excessive, de la vie affective sur la vie intellectuelle, ou suivant la formule anatomique, de la région postérieure du cerveau sur la région frontale.48 Derbe naturalistische Metaphysik – das ist die wirkliche Grundlage seiner Soziologie. – Andererseits ist der »allgemeine Sinn der menschheitlichen Entwicklung«, wie er ihn der Anschauung des geschichtlichen Weltlaufs abgewinnt, wieder nichts als eine notio universalis, eine verworrene und unbestimmte Allgemeinvorstellung, welche aus dem bloßen Überblick über den geschichtlichen Zusammenhang abstrahiert ist. Eine unwissenschaftliche Abstraktion, unter deren weitem Mantel die wachsende Herrschaft des Menschen über die Natur, der wachsende Einfluß der höheren Fähigkeiten über die niederen, der Intelligenz über die Affekte, unserer sozialen über unsere egoistischen Neigungen sich zusammenfinden.49 Diese abstrakten Bilder der Geschichtsphilosophen stellen den geschichtlichen Weltlauf nur in immer anderen Verkürzungen dar.

Geht man zur Ausführung über, vermittels deren der Schüler de Maistres sein Papsttum der naturwissenschaftlichen Intelligenz begründet, so bildet diese eine merkwürdige Bestätigung unserer Sätze. Das Gesetz, das Comte wirklich gefunden hat, welches die Beziehungen der logischen Abhängigkeit von Wahrheiten untereinander zu ihrer geschichtlichen Abfolge ausdrückt (wenn es auch noch unvollkommen bei ihm formuliert ist) gehört einer Einzelwissenschaft des Geistes an, und es wurde von ihm vermöge einer anhaltenden und tiefeindringenden Beschäftigung mit diesem Kreise der gesellschaftlichen Wirklichkeit gefunden. Die Generalisation von den drei Epochen ist in ihren wahren Grundzügen von Turgot festgestellt worden, und die Ausführung Comtes mißlang, da ihm das Detail der Geschichte der Theologie und Metaphysik nicht bekannt war. So vermag seine Soziologie die Stellung nicht zu erschüttern, welche das positive Studium des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens stets behauptet hat: als die eine Hälfte des Kosmos der Wissenschaften, ruhend auf ihren eigentümlichen und unabhängigen Erkenntnisbedingungen, anwachsend aus eigenen Erkenntnismitteln in erster Linie, dabei mitbestimmt durch den Fortschritt der Wissenschaften vom Erdganzen und von den Bedingungen und Formen des Lebens auf ihm.[107] Brachte so Comte seine Soziologie in eine blendende, aber falsche Beziehung zu den Naturwissenschaften, so hat er andererseits das wahre und fruchtbare Verhältnis jeder geschichtlichen Betrachtung zu den Einzelwissenschaften des Menschen und der Gesellschaft nicht erkannt und nicht benutzt. Im Widerspruch mit seinem Prinzip der positiven Philosophie, hat er seine ungestümen Generalisationen außer Zusammenhang mit der methodischen Verwertung der positiven Wissenschaften des Geistes abgeleitet, ausgenommen seine Theorie über den Zusammenhang der Entwicklung der Intelligenz.

Als eine Abschwächung dieses Prinzips der Unterordnung der geschichtlichen Erscheinungen unter die Naturwissenschaften, wie es in Comte vorliegt, muß die Art von Unterordnung betrachtet werden, welche Stuart Mill in seinem berühmten Kapitel über die Logik der Geisteswissenschaften vertritt. Kehrt er dem Metaphysischen in Comte den Rücken und hätte demnach wohl eine gesundere Richtung in der Betrachtung der Geschichte vorbereiten können, so wirkt doch in seiner Methode die Unterordnung der Geisteswissenschaften unter die der Natur in verhängnisvoller Weise nach. Er unterscheidet sich von Comte, wie sich das auf Psychologie gegründete natürliche System der gesellschaftlichen Funktionen und Lebenssphären, welches die Engländer im 18. Jahrhundert aufgestellt hatten, von dem auf die Naturwissenschaften gegründeten unterscheidet, welches die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts verteidigt hatten. Er erkennt die Selbständigkeit der Erklärungsgründe der Geisteswissenschaften vollständig an. Aber er ordnet ihre Methoden zu sehr dem Schema unter, welches er aus dem Studium der Naturwissenschaften entwickelt hat. »Wenn«, so sagt er in dieser Beziehung, »einige Gegenstände Resultate ergaben, denen zuletzt alle auf den Beweis Achtenden einstimmig beistimmten, wenn man in Beziehung auf andere weniger glücklich war und die scharfsinnigsten Geister sich von der frühesten Zeit an mit denselben beschäftigten, ohne daß es ihnen gelungen wäre, ein ansehnliches, gegen Zweifel oder Einwürfe gesichertes System von Wahrheiten zu begründen, so dürfen wir diesen Fleck vom Antlitz der Wissenschaft dadurch zu entfernen hoffen, daß wir die bei den ersteren Untersuchungen so glücklich befolgten Methoden verallgemeinern und sie den letzteren anpassen.«50 So anfechtbar dieser Schluß ist, so unfruchtbar ist die »Anpassung« der Methoden der Geisteswissenschaften gewesen, welche durch ihn begründet wird. Bei Mill besonders vernimmt man das einförmige und ermüdende Geklapper der Worte Induktion und Deduktion, welches jetzt[108] aus allen uns umgebenden Ländern zu uns herübertönt. Die ganze Geschichte der Geisteswissenschaften ist ein Gegenbeweis gegen den Gedanken einer solchen »Anpassung«. Diese Wissenschaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur. Ihr Objekt setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossenen Einheiten, welche uns von innen verständlich sind, zusammen; wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmählich zu erkennen. Fortschreitende Analysis eines von uns in unmittelbarem Wissen und in Verständnis' von vornherein besessenen Ganzen: das ist daher der Charakter der Geschichte dieser Wissenschaften. Die Theorie der Staaten oder der Dichtung, wie sie die Griechen zu Alexanders Zeit besaßen, verhält sich zu unserer Staatswissenschaft oder Ästhetik ganz anders als naturwissenschaftliche Vorstellungen jener Epoche zu den unseren. Und es ist eine eigene Art von Erfahrung, die hier stattfindet: das Objekt baut sich selber erst vor den Augen der fortschreitenden Wissenschaft nach und nach auf; Individuen und Taten sind die Elemente dieser Erfahrung, Versenkung aller Gemütskräfte in den Gegenstand ist ihre Natur. Diese Andeutungen zeigen hinlänglich, daß, im Gegensatz gegen die gewissermaßen von außen an die Geisteswissenschaften herantretenden Methoden eines Mill und Buckle, die Aufgabe gelöst werden muß: durch eine Erkenntnistheorie die Geisteswissenschaften zu begründen, ihre selbständige Gestaltung zu rechtfertigen und zu stützen sowie die Unterordnung ihrer Prinzipien wie ihrer Methoden unter die der Naturwissenschaften definitiv zu beseitigen.

45

Dieser Zusammenhang ausdrücklich als entscheidend für die Entwicklung der Soziologie anerkannt: philosophie positive 4, 225.

46

So auch wieder Hitzig in den Untersuchungen über das Gehirn, S. 56 u. a. a. O., wozu vgl. Wundts Physiol. Psychologie, 6. Abschnitt des zweiten Bandes, 2, Aufl. 1880.

47

4, 631.

48

philos. pos. 5, 45.

49

philos. pos. 4., 623 ff.

50

Mill, Logik 2, 436.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 104-109.
Lizenz:
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