XVII. Sie erkennen nicht die Stellung der Geschichtswissenschaft zu den Einzelwissenschaften der Gesellschaft

[109] Mit diesen Irrtümern über Aufgabe und Methode steht die falsche Stellung dieser Träume von Wissenschaften zu den wirklich existenten Einzelwissenschaften im nächsten Zusammenhang. Dieselben erwarten von ihren tumultuarischen Bestrebungen, was stets nur das Werk der anhaltenden Arbeit vieler Generationen sein kann. Daher gleichen alle diese isolierten Entwürfe Backsteinbauten, welche durch Tünche die Blöcke, Säulen und Verzierungen in Granit nachahmen, die nur in der geduldigen und langsamen Bearbeitung eines spröden Stoffes entstehen.

In den unzähligen Abstufungen der Verschiedenheit von individuellen Einheiten, in dem unermeßlich verteilten und veränderlichen[109] Spiel von Ursachen, Wirkungen, Wechselwirkungen zwischen ihnen, als der Wirklichkeit der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt, faßt die Wissenschaft, will sie diese Wirklichkeit auch nur auffassen, das Gleichartige der Tatsachen, das Gleichförmige der Beziehungen einerseits in dem Nacheinander der Tatbestände und Veränderungen, andererseits in dem Nebeneinander derselben zusammen.

Die eine Seite des Problems vom allgemeinen Zusammenhang in dieser Wirklichkeit bildet also das höchst komplexe Ganze des Fortgangs der Gesellschaft von seinem Lebensstande (status societatis) in einem bestimmten Durchschnitt zu dem in einem bestimmten anderen, schließlich von ihrem ersten für uns auffaßbaren Lebensstande zu dem, welcher die Gesellschaft der Gegenwart ausmacht (ein status, dessen Auffassung den früheren Begriff von Statistik bildete). Diese Seite des Problems hat, als die Theorie des geschichtlichen Fortschritts, von Anfang das Zentrum der Philosophie der Geschichte gebildet: Comte bezeichnet sie als Dynamik der Gesellschaft, – Nie hat nun die Philosophie der Geschichte vermocht, ein allgemeines Gesetz dieses Fortschritts von hinlänglicher Bestimmtheit aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit direkt abzuleiten. Eine solche Theorie müßte entweder die Beziehung zwischen Formeln enthalten, deren jede einzeln den Inbegriff eines bestimmten Status societatis ausdrückte und deren Vergleichung sonach das Gesetz des Gesamtfortschritts ergeben würde; oder eine solche Theorie müßte in einer Formel den Inbegriff aller Kausalbeziehungen ausdrücken, welche die Veränderungen innerhalb des Totalzusammenhangs der Gesellschaft hervorbringen. Es braucht nicht entwickelt zu werden, daß die Ableitung einer Formel der einen wie der an deren Art aus der Gesamtanschauung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit die menschliche Anschauungskraft gänzlich übersteigt.

Soll der Zusammenhang des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens, nach der Seite der Abfolge der in ihm enthaltenen Zustände angesehen, der Methode der Erfahrung unterworfen werden, dann muß das Ganze desselben in Einzelzusammenhänge aufgelöst werden, welche übersichtlicher und einfacher sind. Dasselbe Verfahren muß angewandt werden, vermöge dessen die Naturwissenschaften ihr umfassendes Problem des Zusammenhangs der äußeren Natur zerlegt und in der Lehre von Gleichgewicht und Bewegung der Körper, von Schall, Licht, Wärme, Magnetismus und Elektrizität sowie vom chemischen Verhalten der Körper einzelne Systeme von Naturgesetzen konstituiert haben, vermittels deren sie sich alsdann der Auflösung ihres allgemeinen Problems nähern. – Nun existieren aber Einzelwissenschaften, welche dies Verfahren angewandt haben. Der einzig[110] mögliche Weg einer Erforschung des geschichtlichen Zusammenhangs: Zerlegung desselben in Einzelzusammenhänge, ist in den Einzeltheorien der Systeme der Kultur und der äußeren Organisation der Gesellschaft längst eingeschlagen worden. Das Studium des Individuums als der Lebenseinheit in der Zusammensetzung der Gesellschaft ist die Bedingung für die Erforschung der Tatbestände, die aus der Wechselwirkung dieser Lebenseinheiten in der Gesellschaft durch Abstraktion ausgelöst werden können; nur auf dieser Grundlage der Ergebnisse der Anthropologie, vermittels der theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft in ihren drei Hauptklassen, der Ethnologie, der Wissenschaften von den Systemen der Kultur sowie derer von der äußeren Organisation der Gesellschaft kann das Problem des Zusammenhangs unter den aufeinanderfolgenden Zuständen der Gesellschaft allmählich einer Lösung nähergeführt werden. – Auch sind tatsächlich auf diesem Weg alle exakten und fruchtbaren Gesetze gefunden worden, zu denen die Geisteswissenschaften bisher gelangt sind, wie das Grimmsche Gesetz in der Sprachwissenschaft, das Thünensche in der politischen Ökonomie, die Verallgemeinerungen über Struktur, Entwicklungsgeschichte und Störungen des Staatslebens seit Aristoteles, die Sätze, welche Winckelmann, Heyne, die Schlegel über die Entwicklungsgeschichte der Künste gewonnen haben, das Comtesche Gesetz der Beziehung zwischen der logischen Abhängigkeit der Wissenschaften voneinander und ihrer geschichtlichen Abfolge.

Die andere Seite dieses Problems von dem allgemeinen Zusammenhang in der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, das Studium der Beziehungen zwischen den gleichzeitigen Tatsachen und Veränderungen, fordert ebenfalls Zerlegung des komplexen Tatbestandes eines solchen status societatis. Die Beziehungen von Abhängigkeit und Verwandtschaft, wie sie zwischen den Erscheinungen eines Zeitalters stattfinden und in der Störung sich kundgeben, die bei Abänderungen in einem Bestandteil des gesellschaftlichen Gesamtzustandes in anderen auftritt, können mit dem Verhältnis, welches zwischen den Bestandteilen, zwischen den Funktionen eines Organismus stattfindet, verglichen werden. Sie liegen dem Begriff der Kultur eines Zeitalters oder einer Epoche zugrunde, und jede kulturgeschichtliche Schilderung geht von ihnen aus. Hegel erfaßte sie höchst energisch; es war sein Kunstgriff, literarische Erzeugnisse eines Zeitalters zu benutzen, um auf die Geistesverfassung desselben von ihnen aus ein Licht zu werfen, wie denn hierauf seine irrige Theorie von dem für den ganzen Geist einer Zeit repräsentativen Charakter philosophischer Systeme gegründet war. Die französischen und englischen Soziologen fassen diese Beziehungen in dem Begriff des Consensus zwischen[111] gleichzeitigen gesellschaftlichen Erscheinungen zusammen. Aber ein genauer Ausdruck für die Verwandtschaft zwischen den verschiedenartigen Bestandteilen, für die Abhängigkeit des einen vom anderen setzt auch hier augenscheinlich die Unterscheidung der einzelnen Glieder und Systeme voraus, welche den Status societatis bilden; schon eine Übersicht über den Charakter der Kultur in einer Epoche muß zeigen, wie in der Verschiedenheit der Glieder und Systeme der Gesellschaft gleichartige Grundverhältnisse sich als Verwandtschaft äußern.

Diesem Verhältnis, welches die Methodologie der Geisteswissenschaften tiefer zu entwickeln haben wird, entspricht der tatsächliche Bestand der allgemeinen Wahrheiten in der Philosophie der Geschichte und der Soziologie. Vico, Turgot, Condorcet, Herder waren in erster Linie Universalhistoriker in philosophischer Absicht. Der umfassende Blick, durch welchen sie Wissenschaften miteinander kombinierten, wie Vico Jurisprudenz und Philologie, Herder Naturkunde und Geschichte, Turgot politische Ökonomie, Naturwissenschaften und Geschichte, hat der modernen Geschichtswissenschaft erst ihre Wege gebahnt. Der Name der Philosophie der Geschichte, ja nicht selten dasselbe Werk, umfaßt aber mit diesen Arbeiten, welche fruchtbare Kombinationen in der Richtung einer wahren Universalgeschichte vollzogen, zugleich Theorien ganz anderer Art, welche der Gemeinschaft mit jenen Arbeiten den größten Teil ihres Ansehens verdanken. Aus diesen Formeln, welche den Sinn der Geschichte auszusprechen beanspruchen, ist keine fruchtbare Wahrheit geflossen. Alles metaphysischer Nebel. Bei keinem ist er dichter als bei Comte, der den Katholizismus de Maistres in das Schattenbild einer hierarchischen Leitung der Gesellschaft durch die Wissenschaften wandelte.51 Und wo irgend aus diesen Nebeln klarere Gedanken auftauchen, da sind es Sätze über Funktion, Struktur und Entwicklungsgeschichte der einzelnen Völker, Religionen, Staaten, Wissenschaften, Künste oder über die Beziehungen zwischen diesen im Zusammenhang der geschichtlichen Welt. Aus diesen Sätzen über das Leben der Glieder und Systeme der Menschheit setzt sich jedes genauere Bild zusammen, durch welches irgendeine Philosophie der Geschichte ihrem schattenhaften Grundgedanken etwas von Fleisch und Blut gibt.

52[112]

51

Comte, phil. pos. 4, 683 ff.

52

Besonders deutlich in Schleiermachers so großartiger Ethik, da hier das »Handeln der Vernunft auf die Natur, auf der Basis ihres Ineinander, wie es als ein begrifflich Mannigfaltiges konstruiert wird« (§ 75 ff.), erst seinen Inhalt durch die Beziehung auf die Systeme, welche das Leben der Gesellschaft bilden, und die Ergebnisse der Einzelwissenschaften über sie empfängt.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 109-113.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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