XVIII. Wachsende Ausdehnung und Vervollkommnung der Einzelwissenschaften

[113] Inzwischen unterwerfen sich die Einzelwissenschaften des Geistes immer neue Gruppen von Tatsachen, sie erhalten durch vergleichende Methode und psychologische Grundlegung immer mehr den Charakter allgemeiner Theorien, und wenn sie sich der Beziehungen zueinander in der Wirklichkeit immer deutlicher bewußt werden: so muß wohl klar werden, daß in ihrem Zusammenhang allmählich diejenigen unter den Problemen der Soziologie, der Philosophie des Geistes oder der Geschichte einer Lösung sich nähern, die einer solchen überhaupt zugänglich sind.

Wir sahen, wie diese Einzelwissenschaften aus dem Totalzusammenhang durch einen Vorgang von Analysis und Abstraktion ausgesondert worden sind. Nur in der Beziehung auf die Wirklichkeit, in der ihre abstrakten Sätze enthalten sind, liegt ihre Wahrheit. Nur indem diese Beziehung in ihre Sätze mit aufgenommen wird, gelten dieselben von dieser Wirklichkeit. In der Loslösung von diesem Zusammenhang entsprangen die verhängnisvollen Irrtümer, welche als abstraktes Naturrecht, abstrakte politische Ökonomie, als System der natürlichen Religion, kurz, als das natürliche System des 17. und 18. Jahrhunderts die Wissenschaften verdorben und die Gesellschaft geschädigt haben. Indem die Einzelwissenschaften von einem erkenntnistheoretischen Bewußtsein aus die Stellung ihrer Sätze zu der Wirklichkeit, aus der sie abstrahiert sind, festhalten, erhalten diese Sätze, wie abstrakt sie auch seien, das Maß ihrer Geltung an der Wirklichkeit. – Wir sahen aber ferner, daß uns keine Erkenntnis des konkreten Totalzusammenhangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit vergönnt ist, als welche durch Zergliederung desselben in Einzelzusammenhänge, sonach vermittels dieser Einzelwissenschaften erreicht wird. In letzter Instanz ist unsere Erkenntnis dieses Zusammenhangs nur ein sich ganz Klar-, ganz Bewußtmachen des logischen Zusammenhangs, in welchem die Einzelwissenschaften ihn besitzen oder ihn zu erkennen gestatten. Dagegen müssen die isolierten Einzelwissenschaften des Geistes der toten Abstraktion verfallen; die isolierte Philosophie des Geistes ist ein Gespenst; die Sonderung der philosophischen Betrachtungsweise der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit von der positiven ist die verderbliche Erbschaft der Metaphysik.

Die Entwicklung der Einzelwissenschaften des Geistes zeigt einen[113] Fortschritt, welcher hiermit in Übereinstimmung ist. Unbefangene, von den Abstraktionen vergangener Tage freie Analysen einzelner Gestaltungen aus dem Gebiet der äußeren Organisation der Gesellschaft oder der Systeme der Kultur, wie wir seit Toquevilles glorreichen Arbeiten deren eine ganze Anzahl erhalten haben, legenden inneren Zusammenhang von geschichtlichen Gebilden bloß. Das Verfahren der Vergleichung hat in der Sprachwissenschaft seine Probe bestanden, hat sich siegreich auf die Mythologie ausgedehnt, und es verspricht, allmählich allen Einzelwissenschaften des Geistes den Charakter von wirklichen Theorien zu geben. Der Zusammenhang mit der Anthropologie wird von keinem der positiven Forscher mehr vernachlässigt.

Die Wissenschaften der Systeme der Kultur und der äußeren Organisation der Gesellschaft stehen aber mit der Anthropologie hauptsächlich durch jene psychischen und psychophysischen Tatsachen in Verbindung, welche ich als solche zweiter Ordnung bezeichnet habe. Die Analysis dieser Tatsachen, welche in der Wechselwirkung der Individuen in der Gesellschaft sich bilden und keineswegs in die der Anthropologie völlig auflöslich sind, bedingt in einem erheblichen Grade die theoretische Strenge der Einzelwissenschaften, denen sie zugrunde liegen. Die Tatsachen von Bedürfnis, Arbeit, Herrschaft, Befriedigung sind psychophysischer Natur; sie sind Bestandteile der Grundlagen der politischen Ökonomie, der Staats- und Rechtswissenschaft, und ihre Zergliederung gestattet, sozusagen in die Mechanik der Gesellschaft einzudringen. Man könnte sich eine allgemeine Betrachtungsweise denken, gewissermaßen eine Psychophysik der Gesellschaft, welche die Beziehungen zwischen der Verteilung der veränderlichen Gesamtmasse des psychischen Lebens auf der Erdoberfläche und der Verteilung derjenigen Kräfte zum Gegenstande hätte, die in der Natur bereitliegen, in den Dienst dieser Gesamtmasse gebracht sind und durch deren Leistungen diese schließlich ihre Bedürfnisse befriedigt. Andere wichtige psychische Tatsachen liegen den Systemen der höheren geistigen Kultur zugrunde, so die Tatsache der Übertragung und der in ihr sich vollziehenden Umbildung. In der Übertragung verbleibt ein Zustand in A, während er auf B übergeht; hierauf gründen sich die quantitativen Beziehungen in jedem System einer geistigen Bewegung. Geht man davon aus, daß in der Wissenschaft eine vollständige Übertragbarkeit der Begriffe und Sätze von dem Denker, der sie aufgefunden, auf den, dessen Fassungskraft der Aufgabe ihres Verständnisses angemessen ist, besteht: so entsteht das interessante Problem, die Ursachen der Störungen zu erforschen, welche einen solchen regelmäßigen Fortgang in der Geschichte des Wissens verhindert haben.[114]

Es gibt innerhalb der geschichtlichen Welt, die ja, dem Meere gleich, immer in Wellen bewegt ist, neben den dauernden Tatbeständen, welche. Teilinhalte der psychophysischen Wechselwirkungen, wie sie sind, als Religionen, Staaten, Künste, dauernde Gebilde darstellen und als solche von den Einzelwissenschaften des Geistes erforscht werden, auch umfangreiche und in sich zusammenhängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die innerhalb der geschichtlichen Wechselwirkung auftreten, wachsen und sich ausbreiten, um dann bald wieder zu verschwinden. Revolutionen, Epochen, Bewegungen: das sind Namen für diese geschichtlichen Phänomene, welche weit schwerer faßbar sind als die dauernden Gestaltungen, welche die äußere Organisation der Gesellschaft oder die Systeme der Kultur hervorbringen. Schon Aristoteles hat den Revolutionen eine scharfsinnige Untersuchung gewidmet. Es sind aber besonders die geistigen Bewegungen, welche mit der Zeit einer sehr exakten Behandlung zugänglich werden müssen, da sie quantitative Bestimmungen gestatten. Von der Epoche der Geschichte ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweglichkeit erlangt hat, sind wir durch Anwendung der statistischen Methode auf den Bestand der Bibliotheken imstande, die Intensität geistiger Bewegungen, die Verteilung des Interesses in einem bestimmten Zeitpunkt der Gesellschaft zu messen; so werden wir instand gesetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen eines Kulturkreises ab, dem Grad von Spannung und Interesse in ihm, durch die ersten tastenden Versuche, bis zu einer genialen Schöpfung vorstellig zu machen. Die Darstellung der Ergebnisse einer solchen Statistik wird durch graphische Darstellung sehr an Anschaulichkeit gewinnen.

So wird die positive Wissenschaft auch die mehr vorübergehenden Zusammenhänge inmitten der allgemeinen Wechselwirkung der Individuen in der Gesellschaft der theoretischen Behandlung zu unterwerfen bemüht sein. Doch wir sind an der Grenze angelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüberleitet – von der aus wir zu fernen Küsten hinüberblicken.[115]

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 113-116.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studium Der Gesellschaft Und Der Geschichte (German Edition)
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studien Der Gesellschaft Und Der Geschichte ; Erster Band, Volume 1 (German Edition)