XI. Moral und Recht. Freiheit und Notwendigkeit

[100] »Für das politische und juristische Gebiet liegen den in diesem Kursus ausgesprochenen Grundsätzen die eindringendsten Fachstudien zugrunde. Man wird daher... davon ausgehn müssen, daß es sich hier... um die konsequente Darstellung der Ergebnisse des juristischen und staatswissenschaftlichen Gebiets gehandelt hat. Mein ursprüngliches Fachstudium war grade die Jurisprudenz, und ich habe derselben nicht nur die gewöhnlichen drei Jahre der theoretischen Universitätsvorbereitung, sondern auch während neuer drei Jahre gerichtlicher Praxis noch ein fortgesetztes, besondere auf die Vertiefung ihres wissenschaftlichen Gehalts gerichtetes Studium gewidmet... Auch würde sicherlich die Kritik der Privatrechtsverhältnisse und der entsprechenden juristischen Unzulänglichkeiten nicht mit gleicher Zuversicht haben auftreten können, wenn sie sich nicht bewußt gewesen wäre, überall die Schwächen des Faches ebensogut wie dessen stärkere Seiten zu kennen

Ein Mann, der so von sich selbst zu sprechen berechtigt ist, muß von vornherein Vertrauen einflößen, besonders gegenüber dem

»einstigen, eingestandnermaßen vernachlässigten Rechtsstudium des Herrn Marx«.

Wundern muß es uns deshalb, daß die mit solcher Zuversicht auftretende Kritik der Privatrechtsverhältnisse sich darauf beschränkt, uns zu erzählen, daß es

»mit der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz... nicht weit her« ist, daß das positive bürgerliche Recht das Unrecht ist, indem es das Gewalteigentum sanktioniert, und daß der »Naturgrund« des Kriminalrechts die Rache ist –

eine Behauptung, an der nur die mystische Verkleidung in den »Naturgrund« allenfalls neu ist. Die staatswissenschaftlichen Ergebnisse beschränken sich auf die Verhandlungen der bewußten drei Männer, von denen der[100] eine die andern bisher vergewaltigt, und wobei Herr Dühring alles Ernstes untersucht, ob es der zweite oder der dritte ist, der die Gewalt und die Knechtschaft zuerst eingeführt hat.

Verfolgen wir indes die eindringendsten Fachstudien und die durch dreijährige gerichtliche Praxis vertiefte Wissenschaftlichkeit unsres zuversichtlichen Juristen etwas weiter.

Von Lassalle erzählt uns Herr Dühring, er sei

»wegen der Veranlassung des Versuchs zum Diebstahl einer Kassette« in Anklagezustand versetzt worden, »ohne daß jedoch eine gerichtliche Verurteilung zu verzeichnen gewesen wäre, indem die damals noch mögliche sogenannte Freisprechung von der Instanz Platz griff... diese halbe Freisprechung«.

Der Prozeß Lassalles, von dem hier die Rede ist, wurde verhandelt im Sommer 1848 vor den Assisen zu Köln, wo, wie fast in der ganzen Rheinprovinz, das französische Strafrecht in Kraft war. Nur für politische Vergehen und Verbrechen war das preußische Landrecht ausnahmsweise eingeführt gewesen, aber schon im April 1848 wurde diese Ausnahmsbestimmung durch Camphausen wieder beseitigt. Das französische Recht kennt durchaus nicht die liederliche preußische Landrechtskategorie einer »Veranlassung« zu einem Verbrechen, geschweige der Veranlassung des Versuchs eines Verbrechens. Es kennt nur Anreizung zum Verbrechen, und diese, um strafbar zu sein, muß geschehn »durch Geschenke, Versprechungen, Drohungen, Mißbrauch des Ansehns oder der Gewalt, listige Anstiftungen oder sträfliche Kunstgriffe« (Code pénal, art. 60). Das in das preußische Landrecht vertiefte öffentliche Ministerium übersah, ganz wie Herr Dühring, den wesentlichen Unterschied zwischen der scharf bestimmten französischen Vorschrift und der verschwommenen landrechtlichen Unbestimmtheit, machte Lassalle einen Tendenzprozeß und fiel glänzend durch. Denn die Behauptung, als kenne der französische Strafprozeß die preußische landrechtliche Freisprechung von der Instanz, diese halbe Freisprechung, kann nur jemand wagen, der auf dem Gebiet des französischen modernen Rechts ein vollständiger ignorant ist; dies Recht kennt im Strafprozeß nur Verurteilung oder Freisprechung, kein Mittelding.

Somit sind wir im Falle sagen zu müssen, daß Herr Dühring sicherlich nicht mit gleicher Zuversicht diese »Geschichtszeichnung großen Stils« an Lassalle hätte verüben können, wenn er den Code Napoléon jemals in der Hand gehabt hätte. Wir müssen also konstatieren, daß Herrn Dühring das einzige modern-bürgerliche, auf den gesellschaftlichen Errungenschaften der großen französischen Revolution ruhende und sie ins Juristische[101] übersetzende Gesetzbuch, das moderne französische Recht, gänzlich unbekannt ist.

Anderswo, bei der Kritik der nach französischem Muster auf dem ganzen Kontinent eingeführten, nach Stimmenmehrheit entscheidenden Geschwornengerichte, werden wir belehrt:

»Ja, man wird sich sogar mit dem, übrigens nicht einmal geschichtlich beispiellosen Gedanken vertraut machen können, daß eine Verurteilung mit Widerspruch der Stimmen in einem vollkommnen Gemeinwesen zu den unmöglichen Institutionen gehören sollte... Jedoch muß diese ernste und tief geistige Auffassungsart, wie schon oben angedeutet, für die überlieferten Gebilde darum als unpassend erscheinen, weil sie für dieselben zu gut ist

Es ist Herrn Dühring abermals unbekannt, daß die Einstimmigkeit der Geschwornen nicht nur bei strafrechtlichen Verurteilungen, sondern auch bei Urteilen in bürgerlichen Prozessen unumgänglich notwendig ist nach dem englischen gemeinen Recht, d.h. dem ungeschriebnen Gewohnheitsrecht, das seit unvordenklicher Zeit in Kraft steht, also mindestens seit dem vierzehnten Jahrhundert. Die ernste und tiefgeistige Auffassungsart, die nach Herrn Dühring für die heutige Welt zu gut ist, hat in England also gesetzliche Geltung gehabt schon im dunkelsten Mittelalter, und ist von England nach Irland, nach den Vereinigten Staaten Amerikas und nach allen englischen Kolonien übergeführt worden, ohne daß die eindringendsten Fachstudien dem Herrn Dühring auch nur ein Sterbenswörtchen davon verraten hätten! Das Gebiet der Geschwornen-Einstimmigkeit ist also nicht nur unendlich groß gegenüber dem winzigen Geltungsbereich des preußischen Landrechts, es ist auch ausgedehnter als alle die Gebiete zusammengenommen, auf denen die Geschwornen-Mehrheit entscheidet. Nicht nur, daß Herrn Dühring das einzige moderne, das französische Recht total unbekannt ist, er ist auch ebenso unwissend in Beziehung auf das einzige germanische Recht, das sich unabhängig von römischer Autorität bis auf die heutige Zeit fortentwickelt und auf alle Weltteile ausgebreitet hat – das englische Recht. Und warum nicht? Denn die englische Art der juristischen Denkweise

»würde doch angesichts der auf deutschem Boden bewerkstelligten Schulung in den reinen Begriffen der klassischen römischen Juristen nicht standhalten«,

sagt Herr Dühring, und ferner sagt er:

»was ist die englisch-redende Welt mit ihrer kinderhaften Gemengselsprache unserer urwüchsigen Sprachgestaltung gegenüber?«[102]

Worauf wir nur mit Spinoza antworten können: Ignorantia non est argumentum, die Unwissenheit ist kein Beweisgrund.

Wir können hiernach zu keinem andern Schlußergebnis kommen, als daß Herrn Dührings eindringendste Fachstudien darin bestanden, daß er drei Jahre theoretisch in das Corpus juris und weitere drei Jahre praktisch in das edle preußische Landrecht sich vertieft hat. Es ist das sicherlich auch schon ganz verdienstlich und genügend für einen recht achtungswerten altpreußischen Kreisrichter oder Advokaten. Wenn man aber eine Rechtsphilosophie für alle Welten und Zeiten zu verfassen unternimmt, so sollte man doch auch einigermaßen Bescheid wissen in den Rechtsverhältnissen von Nationen wie die Franzosen, Engländer und Amerikaner, Nationen, die eine ganz andre Rolle in der Geschichte gespielt haben als der Winkel von Deutschland, wo das preußische Landrecht floriert. Doch sehn wir weiter zu.

»Die bunte Mischung von Orts-, Provinzial- und Landesrechten, die sich in sehr willkürlicher Weise bald als Gewohnheitsrecht, bald als geschriebnes Gesetz, oft unter Einkleidung der wichtigsten Angelegenheiten in reine Statutarform, in den verschiedensten Richtungen kreuzen – diese Musterkarte von Unordnung und Widerspruch, auf welcher die Einzelheiten das Allgemeine, und dann gelegentlich wiederum die Allgemeinheiten das Besondre hinfällig machen, ist wahrlich nicht geeignet, ein klares Rechtsbewußtsein bei irgend jemand... möglich zu machen.«

Wo aber herrscht dieser verworrene Zustand? Wieder im Geltungsbereich des preußischen Landrechts, wo neben, über oder unter diesem Landrecht Provinzialrechte, Ortsstatuten, hier und da auch gemeines Recht und andrer Quark die verschiedensten relativen Abstufungen von Gültigkeit haben und bei allen praktischen Juristen jenen Notschrei hervorrufen, den Herr Dühring hier so sympathisch wiederholt. Er braucht gar nicht sein geliebtes Preußen zu verlassen, er darf nur an den Rhein kommen, um sich zu überzeugen, daß dort von alledem seit siebzig Jahren keine Rede mehr ist – von andern zivilisierten Ländern gar nicht zu reden, wo dergleichen veraltete Zustände längst beseitigt sind.

Ferner:

»In einer weniger schroffen Art tritt die Verschleierung der natürlichen individuellen Verantwortlichkeit durch die geheimen und hiermit anonymen Kollektivurteile und Kollektivhandlungen von Kollegien oder sonstigen Behördeneinrichtungen hervor, die den persönlichen Anteil eines jeden Mitglieds maskieren.«

Und an einer andern Stelle:

»In unserm heutigen Zustande wird es als eine überraschende und äußerst strenge[103] Forderung gelten, wenn man von der Verhüllung und Deckung der Einzelverantwortlichkeit durch Kollegien nichts wissen will.«

Vielleicht wird es für Herrn Dühring als eine überraschende Mitteilung gelten, wenn wir ihm sagen, daß im Gebiet des englischen Rechts jedes Mitglied des Richterkollegiums sein Urteil in öffentlicher Sitzung einzeln abzugeben und zu begründen hat: daß die Verwaltungskollegien, soweit sie nicht gewählt sind und öffentlich verhandeln und abstimmen, eine vorzugsweise preußische Einrichtung und in den meisten übrigen Ländern unbekannt sind, und daß daher seine Forderung für überraschend und äußerst streng eben nur gelten kann – in Preußen.

Ebenso treffen seine Klagen über die Zwangseinmischungen der Religionspraktiken bei Geburt, Ehe, Tod und Bestattung von allen größern zivilisierten Ländern nur Preußen, und seit Einführung der Zivilstandsregister auch dies nicht mehr. Was Herr Dühring nur vermittelst eines »sozialitären« Zukunftszustandes fertigbringt, hat sogar Bismarck inzwischen durch ein einfaches Gesetz erledigt. – Nicht anders wird in der »Klage der mangelhaften Ausstattung der Juristen für ihren Beruf«, eine Klage, die sich auch auf die »Verwaltungsbeamten« ausdehnen läßt, eine spezifisch preußische Jeremiade angestimmt; und selbst der bis ins Lächerliche übertriebne Judenhaß, den Herr Dühring bei jeder Gelegenheit zur Schau trägt, ist eine, wo nicht spezifisch preußische, so doch spezifisch ostelbische Eigenschaft. Derselbe Wirklichkeitsphilosoph, der auf alle Vorurteile und Superstitionen souverän herabsieht, steckt selbst so tief in persönlichen Marotten, daß er das aus der Bigotterie des Mittelalters überkommne Volksvorurteil gegen die Juden ein auf »Naturgründen« beruhendes »Natururteil« nennt und sich bis zu der pyramidalen Behauptung versteigt:

»der Sozialismus ist die einzige Macht, welche Bevölkerungszuständen mit stärkerer jüdischer Untermischung« (Zustände mit jüdischer Untermischung! welches Naturdeutsch!) »die Spitze bieten kann.«

Genug. Die Großprahlerei mit der juristischen Gelahrtheit hat zum Hintergrund – im besten Falle – die allerordinärsten Fachkenntnisse eines ganz gewöhnlichen altpreußischen Juristen. Das juristische und staatswissenschaftliche Gebiet, dessen Ergebnisse uns Herr Dühring konsequent darstellt, »deckt sich« mit dem Geltungsbereich des preußischen Landrechts. Außer dem jedem Juristen, jetzt selbst in England so ziemlich geläufigen römischen Recht, beschränken sich seine juristischen Kenntnisse einzig und allein auf das preußische Landrecht, jenes Gesetzbuch des aufgeklärten patriarchalischen Despotismus, das in einem Deutsch geschrieben ist, als wäre Herr Dühring dort in die Schule gegangen, und das mit seinen[104] Moralglossen, seiner Juristischen Unbestimmtheit und Haltlosigkeit, seinen Stockprügeln als Tortur- und Strafmittel noch ganz der vorrevolutionären Zeit angehört. Was darüber ist, das ist für Herrn Dühring vom Übel – sowohl das modern-bürgerliche französische Recht wie das englische Recht mit seiner ganz eigenartigen Entwicklung und seiner auf dem ganzen Kontinent unbekannten Sicherung der persönlichen Freiheit. Die Philosophie, welche »keinen bloß scheinbaren Horizont gelten läßt, sondern in mächtig umwälzender Bewegung alle Erden und Himmel der äußern und innern Natur aufrollt« – sie hat zu ihrem wirklichen Horizont – die Grenzen der sechs altpreußischen Ostprovinzen und allenfalls noch der paar sonstigen Landfetzen, wo das edle Landrecht gilt; und jenseits dieses Horizonts rollt sie weder Erden noch Himmel, weder äußere noch innere Natur auf, sondern nur das Gemälde der krassesten Unwissenheit über das, was in der übrigen Welt vorgeht.

Man kann nicht gut von Moral und Rechthandeln, ohne auf die Frage vom sogenannten freien Willen, von der Zurechnungsfähigkeit des Menschen, von dem Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit zu kommen. Auch die Wirklichkeitsphilosophie hat nicht nur eine, sondern sogar zwei Lösungen für diese Frage.

»An die Stelle aller falschen Freiheitstheorien hat man die erfahrungsmäßige Beschaffenheit des Verhältnisses zu setzen, in welchem sich rationelle Einsicht auf der einen und triebförmige Bestimmungen auf der andern Seite gleichsam zu einer Mittelkraft vereinigen. Die Grundtatsachen dieser Art von Dynamik sind aus der Beobachtung zu entnehmen, und für die Vorausbemessung des noch nicht erfolgten Geschehns auch, so gut es gehen will, im allgemeinen nach Art und Größe zu veranschlagen. Hierdurch werden die albernen Einbildungen über die innere Freiheit, an denen Jahrtausende genagt und gezehrt haben, nicht nur gründlich weggeräumt, sondern auch durch etwas Positives ersetzt, was sich für die praktische Einrichtung des Lebens brauchen läßt.«

Danach besteht die Freiheit darin, daß die rationelle Einsicht den Menschen nach rechts, die irrationellen Triebe ihn nach links zerren, und bei diesem Parallelogramm der Kräfte die wirkliche Bewegung in der Richtung der Diagonale erfolgt. Die Freiheit wäre also der Durchschnitt zwischen Einsicht und Trieb, Verstand und Unverstand, und ihr Grad wäre bei jedem einzelnen erfahrungsmäßig festzustellen durch eine »persönliche Gleichung«, um einen astronomischen Ausdruck zu gebrauchen. Aber wenige Seiten später heißt es:

»Wir gründen die moralische Verantwortlichkeit auf die Freiheit, die uns jedoch werter nichts bedeutet als die Empfänglichkeit für bewußte Beweggründe nach Maßgabe[105] des natürlichen und erworbnen Verstandes. Alle solche Beweggründe wirken trotz der Wahrnehmung des möglichen Gegensatzes in den Handlungen mit unausweichlicher Naturgesetzmäßigkeit; aber grade auf diese unumgängliche Nötigung zählen wir, indem wir die moralischen Hebel ansetzen.«

Diese zweite Bestimmung der Freiheit, die der ersten ganz ungeniert ins Gesicht schlägt, ist wieder nichts als eine äußerste Verflachung der Hegelschen Auffassung. Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. »Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird.« Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln – zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie grade beherrschen sollte. Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit. An der Schwelle der Menschheitsgeschichte steht die Entdeckung der Verwandlung von mechanischer Bewegung in Wärme: die Erzeugung des Reibfeuers; am Abschluß der bisherigen Entwicklung steht die Entdeckung der Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung: die Dampfmaschine. – Und trotz der riesigen befreienden Umwälzung, die die Dampfmaschine in der gesellschaftlichen Welt vollzieht – sie ist noch nicht halb vollendet –, ist es doch unzweifelhaft, daß das Reibfeuer sie an weltbefreiender Wirkung noch übertrifft. Denn das Reibfeuer gab dem Menschen zum[106] erstenmal die Herrschaft über eine Naturkraft und trennte ihn damit endgültig vom Tierreich. Die Dampfmaschine wird nie einen so gewaltigen Sprung in der Menschheitsentwicklung zustande bringen, sosehr sie uns auch als Repräsentantin aller jener, an sie sich anlehnenden gewaltigen Produktivkräfte gilt, mit deren Hülfe allein ein Gesellschaftszustand ermöglicht wird, worin es keine Klassenunterschiede, keine Sorgen um die individuellen Existenzmittel mehr gibt, und worin von wirklicher menschlicher Freiheit, von einer Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen, zum erstenmal die Rede sein kann. Wie jung aber noch die ganze Menschengeschichte und wie lächerlich es wäre, unsern jetzigen Anschauungen irgendwelche absolute Gültigkeit zuschreiben zu wollen, geht aus der einfachen Tatsache hervor, daß die ganze bisherige Geschichte sich bezeichnen läßt als Geschichte des Zeitraums von der praktischen Entdeckung der Verwandlung von mechanischer Bewegung in Wärme bis zu derjenigen der Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung.

Bei Herrn Dühring wird die Geschichte freilich anders behandelt. Im allgemeinen ist sie als Geschichte der Irrtümer, der Unwissenheit und Roheit, der Vergewaltigung und Knechtung ein die Wirklichkeitsphilosophie anwidernder Gegenstand, im besondern jedoch teilt sie sich in zwei große Abschnitte, nämlich 1. von dem sich selbst gleichen Zustand der Materie bis auf die französische Revolution, und 2. von der französischen Revolution bis auf Herrn Dühring; und dabei bleibt das 19. Jahrhundert

»noch wesentlich reaktionär, ja es ist es (!) in geistiger Beziehung noch mehr als das 18.«, wobei es jedoch den Sozialismus in seinem Schoß trägt, und damit »den Keim einer gewaltigeren Umschaffung als sie von den Vorläufern und den Heroen der französischen Revolution erdacht (!) wurde«.

Die wirklichkeitsphilosophische Verachtung gegen die bisherige Geschichte rechtfertigt sich wie folgt:

»Die wenigen Jahrtausende, für welche eine historische Rückerinnerung durch ursprüngliche Aufzeichnungen vermittelt wird, haben mit ihrer bisherigen Menschheitsverfassung nicht viel zu bedeuten, wenn man an die Reihe der kommenden Jahrtausende denkt... Das Menschengeschlecht ist als Ganzes noch sehr jung, und wenn einst die wissenschaftliche Rückerinnerung mit Zehntausenden statt mit Tausenden von Jahren zu rechnen hat, wird die geistig unreife Kindheit unserer Institutionen eine selbstverständliche Voraussetzung über unsre alsdann als Uraltertum gewürdigte Zeit unbestrittene Geltung haben.«

Ohne uns bei der in der Tat »urwüchsigen Sprachgestaltung« des letzten Satzes länger aufzuhalten, bemerken wir nur zweierlei: Erstens, daß dies »Uraltertum« unter allen Umständen ein Geschichtsabschnitt von höchstem[107] Interesse für alle künftigen Generationen bleiben wird, weil es die Grundlage aller spätern höhern Entwicklung bildet, weil es die Herausbildung des Menschen aus dem Tierreich zum Ausgangspunkt, und zum Inhalt die Überwindung von solchen Schwierigkeiten hat, wie sie sich den zukünftigen assoziierten Menschen nie wieder entgegenstellen werden. Und zweitens, daß der Abschluß dieses Uraltertums, demgegenüber die künftigen, nicht mehr durch diese Schwierigkeiten und Hindernisse aufgehaltenen Geschichtsperioden ganz andre wissenschaftliche, technische und gesellschaftliche Erfolge versprechen, ein jedenfalls sehr sonderbar gewählter Moment ist, um diesen kommenden Jahrtausenden Vorschriften zu machen durch endgültige Wahrheiten letzter Instanz, unwandelbare Wahrheiten und wurzelhafte Konzeptionen, entdeckt auf Grundlage der geistig unreifen Kindheit unsres so sehr »rückständigen« und »rückläufigen« Jahrhunderts. Man muß eben der philosophische Richard Wagner sein – doch ohne Wagners Talent –, um zu übersehn, daß alle die Herabwürdigungen, die man auf die bisherige Geschichtsentwicklung wirft, ebenfalls an ihrem angeblich letzten Resultat haften bleiben – an der sogenannten Wirklichkeitsphilosophie.

Eines der bezeichnendsten Stücke der neuen wurzelhaften Wissenschaft ist der Abschnitt über Individualisierung und Wertsteigerung des Lebens. Hier sprudelt und strömt in unaufhaltsamem Quelldrang durch volle drei Kapitel der orakelhafte Gemeinplatz. Wir müssen uns leider auf ein paar kurze Proben beschränken.

»Das tiefere Wesen aller Empfindung und mithin aller subjektiven Lebensformen beruht auf der Differenz von Zuständen... Für das volle (!) Leben läßt sich aber auch ohne weiteres (!) dartun, daß es nicht die beharrliche Lage, sondern der Übergang von einer Lebenssituation in die andre ist, wodurch das Lebensgefühl gesteigert und die entscheidenden Reize entwickelt werden... Der annähernd sich selbst gleiche, sozusagen in Trägheitsbeharrung und gleichsam in derselben Gleichgewichtslage verbleibende Zustand hat, wie er auch beschaffen sein möge, für die Erprobung des Daseins nicht viel zu bedeuten... Die Gewöhnung und sozusagen Einlebung macht ihn vollends zu etwas indifferentem und Gleichgültigem, was sich nicht sonderlich vom Totsein unterscheidet. Höchstens tritt noch als eine Art negativer Lebensregung die Pein der Langeweile hinzu... in einem sich stauenden Leben erlischt für einzelne und Völker alle Leidenschaft und alles Interesse am Dasein. Unser Gesetz der Differenz aber ist es, aus welchem alle diese Erscheinungen erklärlich werden.«

Es geht über allen Glauben, mit welcher Geschwindigkeit Herr Dühring seine von Grund aus eigentümlichen Ergebnisse zustande bringt. Eben erst ist der Gemeinplatz ins Wirklichkeitsphilosophische übersetzt, daß fortdauernde[108] Reizung desselben Nerven oder Fortdauer desselben Reizes jeden Nerv und jedes Nervensystem ermüdet, daß also im normalen Zustand Unterbrechung und Abwechslung der Nervenreize stattfinden muß – was seit Jahren in jedem Handbuch der Physiologie zu lesen und was jeder Philister aus eigner Erfahrung weiß –, kaum ist diese uralte Plattheit in die mysteriöse Form übersetzt worden, daß das tiefere Wesen aller Empfindung auf der Differenz von Zuständen beruht, so verwandelt sie sich auch schon in »Unser Gesetz der Differenz«. Und dies Gesetz der Differenz macht »vollkommen erklärlich« eine ganze Reihe von Erscheinungen, welche wieder nichts sind als Illustrationen und Beispiele von der Annehmlichkeit der Abwechslung, welche selbst für den allergewöhnlichsten Philisterverstand durchaus keiner Erklärung bedürfen, und welche durch den Hinweis auf dies angebliche Gesetz der Differenz nicht um die Breite eines Atoms an Klarheit gewinnen.

Aber damit ist die Wurzelhaftigkeit »unsres Gesetzes der Differenz« noch lange nicht erschöpft:

»Die Abfolge der Lebensalter und das Eintreten der mit ihnen verbundnen Veränderungen der Lebensverhältnisse liefern ein recht naheliegendes Beispiel zur Veranschaulichung unsres Differenzprinzips. Kind, Knabe, Jüngling und Mann erfahren die Stärke ihrer jeweiligen Lebensgefühle weniger durch die bereits fixierten Zustände, in denen sie sich befinden, als durch die Epochen des Übergangs von dem einen zum andern.«

Damit nicht genug:

»Unser Gesetz der Differenz kann noch eine entlegnere Anwendung erhaben, indem man die Tatsache in Anschlag bringt, daß die Wiederholung des bereits Erprobten oder Geleisteten keinen Reiz hat.«

Und nun kann sich der Leser den orakelhaften Kohl selbst hinzudenken, zu dem Sätze von der Tiefe und Wurzelhaftigkeit der obigen den Anknüpfungspunkt bieten; und wohl mag Herr Dühring am Schluß seines Buches triumphierend ausrufen;

»Für die Schätzung und Steigerung des Lebenswerts wurde das Gesetz der Differenz zugleich theoretisch und praktisch maßgebend!«

Für die Schätzung des geistigen Werts seines Publikums durch Herrn Dühring ebenfalls: er muß glauben, es bestehe aus lauter Eseln oder Philistern.

Weiterhin erhalten wir folgende äußerst praktische Lebensregeln:

»Die Mittel, das Gesamtinteresse am Leben rege zu erhalten« (schone Aufgabe für Philister und solche, die es werden wollen!) »bestehen darin, die einzelnen sozusagen[109] elementaren Interessen, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, sich nach den natürlichen Zeitmaßen entwickeln oder einander ablösen zu lassen. Auch gleichzeitig für denselben Zustand wird die Stufenfolge in der Ersetzbarkeit der niedern und leichter befriedigten Reize durch die höhern und anhaltender wirksamen Erregungen dahin zu benutzen sein, daß die Entstehung von gänzlich interesselosen Lücken vermieden werde. Übrigens wird es aber darauf ankommen, zu verhüten, daß die naturgemäß oder sonst im normalen Lauf des gesellschaftlichen Daseins entstehenden Spannungen in willkürlicher Weise gehäuft, forciert oder, was die gegenteilige Verkehrtheit ist, schon bei der leisesten Regung befriedigt und so an der Entwicklung eines genußfähigen Bedürfens verhindert werden. Die Einhaltung des natürlichen Rhythmus ist hier wie anderwärts die Vorbedingung der ebenmäßigen und anmutenden Bewegung. Auch darf man sich nicht die unlösbare Aufgabe stellen, die Reize irgendeiner Situation über die ihnen von der Natur oder den Verhältnissen zugemeßne Frist ausdehnen zu wollen« usw.

Der Biedermann, der sich diese feierlichen Philisterorakel einer über die fadesten Plattheiten spintisierenden Pedanterie zur Regel der »Lebenserprobung« dienen läßt, wird allerdings nicht über »gänzlich interesselose Lücken« zu klagen haben. Er wird alle seine Zeit nötig haben zur regelrechten Vorbereitung und Anordnung der Genüsse, so daß ihm zum Genießen selbst kein freier Augenblick bleibt.

Erproben sollen wir das Leben, das volle Leben. Nur zweierlei verbietet uns Herr Dühring:

erstens »die Unsauberkeiten der Einlassung mit dem Tabak«, und zweitens Getränke und Nahrungsmittel, welche »widerwärtig erregende oder überhaupt für die feinere Empfindung verwerfliche Eigenschaften haben«.

Da nun Herr Dühring in dem Kursus der Ökonomie die Schnapsbrennerei so dithyrambisch feiert, so kann er unter diesen Getränken unmöglich den Branntwein verstehn; wir sind also zu dem Schluß gezwungen, daß sein Verbot sich bloß auf Wein und Bier erstreckt. Er verbiete nun auch noch das Fleisch, und dann hat er die Wirklichkeitsphilosophie auf dieselbe Höhe gebracht, auf der weiland Gustav Struve sich mit soviel Erfolg bewegte – auf der Höhe der puren Kinderei.

Übrigens könnte Herr Dühring doch in Beziehung auf die geistigen Getränke etwas liberaler sein. Ein Mann, der eingestandnermaßen die Brücke vom Statischen zum Dynamischen noch immer nicht finden kann, hat doch sicher alle Ursache, gelind zu urteilen, wenn irgendein armer Teufel einmal zu tief ins Glas guckt und infolgedessen die Brücke vom Dynamischen zum Statischen ebenfalls vergebens sucht.[110]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 100-111.
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