I. Gegenstand und Methode

[136] Die politische Ökonomie, im weitesten Sinne, ist die Wissenschaft von den Gesetzen, welche die Produktion und den Austausch des materiellen Lebensunterhalts in der menschlichen Gesellschaft beherrschen. Produktion und Austausch sind zwei verschiedne Funktionen. Produktion kann stattfinden ohne Austausch, Austausch – eben weil von vornherein nur Austausch von Produkten – nicht ohne Produktion. Jede dieser beiden gesellschaftlichen Funktionen steht unter dem Einfluß von großenteils besondern äußern Einwirkungen und hat daher auch großenteils ihre eignen, besondern Gesetze. Aber andrerseits bedingen sie einander in jedem Moment und wirken in solchem Maß aufeinander ein, daß man sie als die Abszisse und die Ordinate der ökonomischen Kurve bezeichnen könnte.

Die Bedingungen, unter denen die Menschen produzieren und austauschen, wechseln von Land zu Land, und in jedem Lande wieder von Generation zu Generation. Die politische Ökonomie kann also nicht dieselbe sein für alle Länder und für alle geschichtlichen Epochen. Vom Bogen und Pfeil, vom Steinmesser und nur ausnahmsweise vorkommenden Tauschverkehr des Wilden, bis zur tausendpferdigen Dampfmaschine, zum mechanischen Webstuhl, den Eisenbahnen und der Bank von England ist ein ungeheurer Abstand. Die Feuerländer bringen es nicht zur Massenproduktion und zum Welthandel, ebensowenig wie zur Wechselreiterei oder einem Börsenkrach. Wer die politische Ökonomie Feuerlands unter dieselben Gesetze bringen wollte mit der des heutigen Englands, würde damit augenscheinlich nichts zutage fördern als den allerbanalsten Gemeinplatz. Die politische Ökonomie ist somit wesentlich eine historische Wissenschaft. Sie behandelt einen geschichtlichen, das heißt einen stets wechselnden Stoff; sie untersucht zunächst die besondern Gesetze jeder einzelnen[136] Entwicklungsstufe der Produktion und des Austausches und wird erst am Schluß dieser Untersuchung die wenigen, für Produktion und Austausch überhaupt geltenden, ganz allgemeinen Gesetze aufstellen können. Wobei es sich jedoch von selbst versteht, daß die für bestimmte Produktionsweisen und Austauschformen gültigen Gesetze auch Gültigkeit haben für alle Geschichtsperioden, denen jene Produktionsweisen und Austauschformen gemeinsam sind. So z.B. tritt mit der Einführung des Metallgeldes eine Reihe von Gesetzen in Wirksamkeit, die für alle Länder und Geschichtsabschnitte gültig bleibt, in denen Metallgeld den Austausch vermittelt.

Mit der Art und Weise der Produktion und des Austausches einer bestimmten geschichtlichen Gesellschaft und mit den geschichtlichen Vorbedingungen dieser Gesellschaft ist auch gleichzeitig gegeben die Art und Weise der Verteilung der Produkte. In der Stamm- oder Dorfgemeinde mit gemeinsamem Grundeigentum, mit der, oder mit deren sehr erkennbaren Überresten alle Kulturvölker in die Geschichte eintreten, versieht sich eine ziemlich gleichmäßige Verteilung der Produkte ganz von selbst; wo größere Ungleichheit der Verteilung unter den Mitgliedern eintritt, da ist sie auch schon ein Anzeichen der beginnenden Auflösung der Gemeinde. – Der große wie der kleine Ackerbau lassen je nach den geschichtlichen Vorbedingungen, aus denen sie sich entwickelt haben, sehr verschiedne Verteilungsformen zu. Aber es liegt auf der Hand, daß der große stets eine ganz andre Verteilung bedingt als der kleine; daß der große einen Klassengegensatz – Sklavenhalter und Sklaven, Grundherren und Fronbauern, Kapitalisten und Lohnarbeiter – voraussetzt oder erzeugt, während beim kleinen ein Klassenunterschied der bei der Ackerbauproduktion tätigen Individuen keineswegs bedingt ist und im Gegenteil durch sein bloßes Dasein den beginnenden Verfall der Parzellenwirtschaft anzeigt. – Die Einführung und Verbreitung des Metallgeldes in einem Lande, wo bisher ausschließlich oder vorwiegend Naturalwirtschaft galt, ist stets mit einer langsamern oder schnellern Umwälzung der bisherigen Verteilung verbunden, und zwar so, daß die Ungleichheit der Verteilung unter den einzelnen, also der Gegensatz von reich und arm, mehr und mehr gesteigert wird. – Der lokale, zünftige Handwerksbetrieb des Mittelalters machte große Kapitalisten und lebenslängliche Lohnarbeiter ebenso unmöglich, wie die moderne große Industrie, die heutige Kreditausbildung und die der Entwicklung beider entsprechende Austauschform, die freie Konkurrenz, sie mit Notwendigkeit erzeugen.

Mit den Unterschieden in der Verteilung aber treten die Klassenunterschiede auf. Die Gesellschaft teilt sich in bevorzugte und benachteiligte, ausbeutende[137] und ausgebeutete, herrschende und beherrschte Klassen, und der Staat, zu dem sich die naturwüchsigen Gruppen gleichstämmiger Gemeinden zunächst nur behufs der Wahrnehmung gemeinsamer Interessen (Berieselung im Orient z.B.) und wegen des Schutzes nach außen fortentwickelt hatten, erhält von nun an ebensosehr den Zweck, die Lebens- und Herrschaftsbedingungen der herrschenden gegen die beherrschte Klasse mit Gewalt aufrechtzuerhalten.

Die Verteilung ist indes nicht ein bloßes passives Erzeugnis der Produktion und des Austausches; sie wirkt ebensosehr zurück auf beide. Jede neue Produktionsweise oder Austauschform wird im Anfang gehemmt nicht nur durch die alten Formen und die ihnen entsprechenden politischen Einrichtungen, sondern auch durch die alte Verteilungsweise. Sie muß sich die ihr entsprechende Verteilung erst in langem Kampf erringen. Aber je beweglicher, je mehr der Ausbildung und Entwicklung fähig eine gegebne Produktions- und Austauschweise ist, desto rascher erreicht auch die Verteilung eine Stufe, in der sie ihrer Mutter über den Kopf wächst, in der sie mit der bisherigen Art der Produktion und des Austausches in Widerstreit gerät. Die alten naturwüchsigen Gemeinwesen, von denen schon die Rede war, können Jahrtausende bestehn, wie bei Indern und Slawen noch heute, ehe der Verkehr mit der Außenwelt in ihrem Innern die Vermögensunterschiede erzeugt, infolge deren ihre Auflösung eintritt. Die moderne kapitalistische Produktion dagegen, die kaum dreihundert Jahre alt und erst seit Einführung der großen Industrie, also seit hundert Jahren, herrschend geworden ist, hat in dieser kurzen Zeit Gegensätze der Verteilung fertiggebracht – Konzentration der Kapitalien in wenigen Händen einerseits, Konzentration der besitzlosen Massen in den großen Städten andrerseits –, an denen sie notwendig zugrunde geht.

Der Zusammenhang der jedesmaligen Verteilung mit den jedesmaligen materiellen Existenzbedingungen einer Gesellschaft liegt sosehr in der Natur der Sache, daß er sich im Volksinstinkt regelmäßig widerspiegelt. Solange eine Produktionsweise sich im aufsteigenden Ast ihrer Entwicklung befindet, solange Jubeln ihr sogar diejenigen entgegen, die bei der ihr entsprechenden Verteilungsweise den kurzem ziehn. So die englischen Arbeiter beim Aufkommen der großen Industrie. Selbst solange diese Produktionsweise die gesellschaftlich-normale bleibt, herrscht im ganzen Zufriedenheit mit der Verteilung, und erhebt sich Einspruch – dann aus dem Schoß der herrschenden Klasse selbst (Saint-Simon, Fourier, Owen) und findet bei der ausgebeuteten Masse erst recht keinen Anklang. Erst wenn die fragliche Produktionsweise ein gut. Stück ihres absteigenden Asts hinter sich, wenn[138] sie sich halb überlebt hat, wenn die Bedingungen ihres Daseins großenteils verschwunden sind und ihr Nachfolger bereits an die Tür klopft – erst dann erscheint die immer ungleicher werdende Verteilung als ungerecht, erst dann wird von den überlebten Tatsachen an die sogenannte ewige Gerechtigkeit appelliert. Dieser Appell an die Moral und das Recht hilft uns wissenschaftlich keinen Fingerbreit weiter; die ökonomische Wissenschaft kann in der sittlichen Entrüstung, und wäre sie noch so gerechtfertigt, keinen Beweisgrund sehn, sondern nur ein Symptom. Ihre Aufgabe ist vielmehr, die neu hervortretenden gesellschaftlichen Mißstände als notwendige Folgen der bestehenden Produktionsweise, aber auch gleichzeitig als Anzeichen ihrer hereinbrechenden Auflösung nachzuweisen, und innerhalb der sich auflösenden ökonomischen Bewegungsform die Elemente der zukünftigen, jene Mißstände beseitigenden, neuen Organisation der Produktion und des Austausches aufzudecken. Der Zorn, der den Poeten macht, ist bei der Schilderung dieser Mißstände ganz am Platz, oder auch beim Angriff gegen die, diese Mißstände leugnenden oder beschönigenden Harmoniker im Dienst der herrschenden Klasse; wie wenig er aber für den jedesmaligen Fall beweist, geht schon daraus hervor, daß man in jeder Epoche der ganzen bisherigen Geschichte Stoff genug für ihn findet.

Die politische Ökonomie als die Wissenschaft von den Bedingungen und Formen, unter denen die verschiednen menschlichen Gesellschaften produziert und ausgetauscht und unter denen sich demgemäß jedesmal die Produkte verteilt haben – die politische Ökonomie in dieser Ausdehnung soll jedoch erst geschaffen werden. Was wir von ökonomischer Wissenschaft bis jetzt besitzen, beschränkt sich fast ausschließlich auf die Genesis und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise: es beginnt mit der Kritik der Reste der feudalen Produktions- und Austauschformen, weist die Notwendigkeit ihrer Ersetzung durch kapitalistische Formen nach, entwickelt dann die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer entsprechenden Austauschformen nach der positiven Seite hin, d.h. nach der Seite, wonach sie die allgemeinen Gesellschaftszwecke fördern, und schließt ab mit der sozialistischen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, d.h. mit der Darstellung ihrer Gesetze nach der negativen Seite hin, mit dem Nachweis, daß diese Produktionsweise durch ihre eigne Entwicklung dem Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht. Diese Kritik weist nach, daß die kapitalistischen Produktions- und Austauschformen mehr und mehr eine unerträgliche Fessel werden für die Produktion selbst; daß der durch jene Formen mit Notwendigkeit bedingte Verteilungsmodus eine Klassenlage von täglich sich steigernder Unerträglichkeit erzeugt hat,[139] den sich täglich verschärfenden Gegensatz von immer wenigem, aber immer reicheren Kapitalisten und von immer zahlreicheren und im ganzen und großen immer schlechter gestellten besitzlosen Lohnarbeitern; und endlich, daß die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise erzeugten, massenhaften Produktivkräfte, die von jener nicht mehr zu bändigen sind, nur der Besitzergreifung harren durch eine zum planmäßigen Zusammenwirken organisierte Gesellschaft, um allen Gesellschaftsgliedern die Mittel zur Existenz und zu freier Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu sichern, und zwar in stets wachsendem Maß.

Um diese Kritik der bürgerlichen Ökonomie vollständig durchzuführen, genügte nicht die Bekanntschaft mit der kapitalistischen Form der Produktion, des Austausches und der Verteilung. Die ihr vorhergegangnen oder die noch neben ihr, in weniger entwickelten Ländern bestehenden Formen mußten ebenfalls, wenigstens in den Hauptzügen, untersucht und zur Vergleichung gezogen werden. Eine solche Untersuchung und Vergleichung ist bis jetzt im ganzen und großen nur von Marx angestellt worden, und seinen Forschungen verdanken wir daher auch fast ausschließlich das, was über die vorbürgerliche theoretische Ökonomie bisher festgestellt ist.

Obwohl gegen Ende des 17. Jahrhunderts in genialen Köpfen entstanden, ist die politische Ökonomie im engern Sinn, in ihrer positiven Formulierung durch die Physiokraten und Adam Smith, doch wesentlich ein Kind des 18. Jahrhunderts und reiht sich den Errungenschaften der gleichzeitigen großen französischen Aufklärer an mit allen Vorzügen und Mängeln jener Zeit. Was wir von den Aufklärern gesagt, gilt auch von den damaligen Ökonomen. Die neue Wissenschaft war ihnen nicht der Ausdruck der Verhältnisse und Bedürfnisse ihrer Epoche, sondern der Ausdruck der ewigen Vernunft; die von ihr entdeckten Gesetze der Produktion und des Austausches waren nicht Gesetze einer geschichtlich bestimmten Form jener Tätigkeiten, sondern ewige Naturgesetze; man leitete sie ab aus der Natur des Menschen. Aber dieser Mensch, bei Lichte besehn, war der damalige, im Übergang zum Bourgeois begriffne Mittelbürger, und seine Natur bestand darin, unter den damaligen, geschichtlich bestimmten Verhältnissen zu fabrizieren und Handel zu treiben.

Nachdem wir unsern »kritischen Grundleger« Herrn Dühring und seine Methode aus der Philosophie hinlänglich kennengelernt haben, werden wir auch ohne Schwierigkeit vorhersagen können, wie er die politische Ökonomie auffassen wird. In der Philosophie war da, wo er nicht einfach faselte[140] (wie in der Naturphilosophie), seine Anschauungsweise eine Verzerrung derjenigen des 18. Jahrhunderts. Es handelte sich nicht um geschichtliche Entwicklungsgesetze, sondern um Naturgesetze, ewige Wahrheiten. Gesellschaftliche Verhältnisse wie Moral und Recht wurden nicht nach den jedesmaligen geschichtlich vorliegenden Bedingungen, sondern durch die famosen beiden Männer entschieden, von denen der eine entweder den andern unterdrückt, oder auch nicht, welches letztere bisher leider nie vorkam. Wir werden uns also kaum täuschen, wenn wir den Schluß ziehn, daß Herr Dühring die Ökonomie ebenfalls auf endgültige Wahrheiten letzter Instanz, ewige Naturgesetze, tautologische Axiome von ödester Inhaltlosigkeit zurückführen, daneben aber den ganzen positiven Inhalt der Ökonomie, soweit dieser ihm bekannt, durchs Hinterpförtchen wieder hereinschmuggeln; und daß er die Verteilung, als ein gesellschaftliches Ereignis, nicht aus Produktion und Austausch entwickeln, sondern seinen ruhmvollen beiden Männern zur endgültigen Erledigung überweisen wird. Und da uns dies alles bereits altbekannte Kunstgriffe sind, so können wir uns hier um so kürzer fassen.

In der Tat erklärt uns Herr Dühring bereits auf S. 2, daß

seine Ökonomie Bezug nimmt auf das in seiner »Philosophie« »Festgestellte« und sich »in einigen wesentlichen Punkten an übergeordnete und in einem höhern Untersuchungsgebiet bereits ausgemachte Wahrheiten anlehnt«.

Überall dieselbe Zudringlichkeit der Selbstanpreisung. Überall der Triumph des Herrn Dühring über das von Herrn Dühring Festgestellte und Ausgemachte. Ausgemacht in der Tat, das haben wir des breiteren gesehn – aber wie man ein schwalchendes Licht ausmacht.

Gleich darauf haben wir

»die allgemeinsten Naturgesetze aller Wirtschaft« –

also hatten wir richtig geraten.

Aber diese Naturgesetze lassen nur dann ein richtiges Verständnis der abgelebten Geschichte zu, wenn man sie »in derjenigen nähern Bestimmung untersucht, die ihre Ergebnisse durch die politische Unterwerfungs- und Gruppierungsformen erfahren haben. Einrichtungen wie die Sklaverei und die Lohnhörigkeit, zu denen sich als Zwillingsgeburt das Gewalteigentum gesellt, sind als sozialökonomische Verfassungsformen echt politischer Natur zu betrachten und bilden in der bisherigen Welt den Rahmen, innerhalb dessen sich die Wirkungen wirtschaftlicher Naturgesetze allein zeigen konnten.«

Dieser Satz ist die Fanfare, die uns als Wagnersches Leitmotiv den Anmarsch der beiden famosen Männer verbündet. Aber er ist noch mehr, er[141] ist das Grundthema des ganzen Dühringschen Buchs. Beim Recht wußte Herr Dühring uns nichts zu bieten, als eine schlechte Übersetzung der Rousseauschen Gleichheitstheorie ins Sozialistische, wie man sie in jedem Pariser Arbeiter-Estaminet seit Jahren weit besser hören kann. Hier gibt er eine nicht bessere, sozialistische Übersetzung der Klagen der Ökonomen über die Verfälschung der ökonomischen ewigen Naturgesetze und ihrer Wirkungen durch die Einmischung des Staats, der Gewalt. Und hiermit steht er verdientermaßen unter den Sozialisten ganz allein. Jeder sozialistische Arbeiter, einerlei, welcher Nationalität, weiß ganz gut, daß die Gewalt die Ausbeutung nur schützt, aber nicht verursacht; daß das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit der Grund seiner Ausbeutung ist, und daß dieses auf rein ökonomischem und keineswegs auf gewaltsamem Wege entstanden ist.

Des weitern erfahren wir nun, daß man

bei allen ökonomischen Fragen »zwei Hergänge, den der Produktion und den der Verteilung wird unterscheiden können«. Außerdem habe der bekannte oberflächliche J. B. Say noch einen dritten Hergang, den des Verbrauchs, der Konsumtion, hinzugefügt, aber nichts Gescheites darüber zu sagen gewußt, ebensowenig wie seine Nachfolger. Der Austausch oder die Zirkulation aber sei nur eine Unterabteilung der Produktion, zu der alles gehöre, was geschehn muß, damit die Erzeugnisse an den letzten und eigentlichen Konsumenten gelangen.

Wenn Herr Dühring die beiden wesentlich verschiednen, wenn auch sich gegenseitig bedingenden Prozesse der Produktion und der Zirkulation zusammenwirft und ganz ungeniert behauptet, aus der Unterlassung dieser Verwirrung könne nur »Verwirrung entstehn«, so beweist er damit bloß, daß er die kolossale Entwicklung, die gerade die Zirkulation in den letzten fünfzig Jahren durchgemacht hat, nicht kennt oder nicht versteht; wie denn auch sein Buch weiterhin bestätigt. Damit nicht genug. Nachdem er so Produktion und Austausch in eins als Produktion schlechthin zusammenfaßt, stellt er die Verteilung neben die Produktion als einen zweiten, ganz äußerlichen Hergang hin, der mit dem ersten gar nichts zu schaffen hat. Nun haben wir gesehn, daß die Verteilung in ihren entscheidenden Zügen jedesmal das notwendige Ergebnis der Produktions- und Austauschverhältnisse einer bestimmten Gesellschaft, sowie der geschichtlichen Vorbedingungen dieser Gesellschaft ist, und zwar dergestalt, daß, wenn wir diese kennen, wir mit Bestimmtheit auf die in dieser Gesellschaft herrschende Verteilungsweise schließen können. Wir sehn aber ebenfalls, daß Herr Dühring, wenn[142] er den in seiner Moral-, Rechts- und Geschichtsauffassung »festgestellten« Grundsätzen nicht untreu werden will, diese elementare ökonomische Tatsache verleugnen muß und daß er dies namentlich muß, wenn es gilt, seine beiden unentbehrlichen Männer in die Ökonomie hineinzuschmuggeln. Und nachdem die Verteilung glücklich alles Zusammenhangs mit der Produktion und dem Austausch entledigt, kann dies große Ereignis vor sich gehn.

Erinnern wir uns indes zuerst, wie die Sache bei Moral und Recht sich entwickelte. Hier fing Herr Dühring ursprünglich mit nur Einem Mann an; er sagte:

»Ein Mensch, insofern er als einzig, oder, was dasselbe leistet, als außer jedem Zusammenhang mit andern gedacht wird, kann keine Pflichten haben. Für ihn gibt es kein Sollen, sondern nur ein Wollen.«

Was aber ist dieser pflichtenlose, als einzig gedachte Mensch anders, als der fatale »Urjude Adam« im Paradiese, wo er ohne Sünde ist, weil er eben keine begehn kann? – Aber auch diesem wirklichkeitsphilosophischen Adam steht ein Sündenfall bevor. Neben diesen Adam tritt plötzlich – zwar keine Eva mit wallendem Lockenhaar, aber doch ein zweiter Adam. Und sofort erhält Adam Pflichten und – bricht sie. Statt seinen Bruder als Gleichberechtigten an seinen Busen zu schließen, unterwirft er ihn seiner Herrschaft, knechtet er ihn – und an den Folgen dieser ersten Sünde, an der Erbsünde der Knechtung, leidet die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag, weshalb sie auch nach Herrn Dühring keine drei Pfennige wert ist.

Wenn also Herr Dühring, beiläufig gesagt, die »Negation der Negation« hinreichend der Verachtung preiszugeben glaubte, indem er sie als einen Abklatsch der alten Geschichte vom Sündenfall und der Erlösung bezeichnete, was sollen wir dann sagen von seiner neuesten Ausgabe derselben Geschichte? (denn auch der Erlösung werden wir mit der Zeit, um einen Reptilienausdruck zu gebrauchen, »nähertreten«). Jedenfalls doch wohl, daß wir die alte semitische Stammsage vorziehn, bei der es sich dem Männlein und dem Weiblein doch der Mühe verlohnte, aus dem Stand der Unschuld zu treten, und daß Herrn Dühring der Ruhm ohne Konkurrenz verbleiben wird, seinen Sündenfall konstruiert zu haben mit zwei Männern.

Hören wir also nun die Übersetzung des Sündenfalls ins Ökonomische:

»Für den Gedanken der Produktion kann allenfalls die Vorstellung von einem Robinson, welcher mit seinen Kräften der Natur isoliert gegenübersteht und mit niemandem etwas zu teilen hat, ein geeignetes Denkschema abgeben... Von einer gleichen Zweckmäßigkeit ist für die Veranschaulichung des Wesentlichsten in dem Verteilungsgedanken[143] das Denkschema von zwei Personen, deren wirtschaftliche Kräfte sich kombinieren und die sich offenbar bezüglich ihrer Anteile gegenseitig in irgendeiner Form auseinandersetzen müssen. Mehr als dieses einfachen Dualismus bedarf es in der Tat nicht, um in aller Strenge einige der wichtigsten Verteilungsbeziehungen darzulegen und deren Gesetze embryonisch in ihrer logischen Notwendigkeit zu studieren... Das Zusammenwirken auf gleichem Fuß ist hier ebenso denkbar, als die Kombination der Kräfte durch völlige Unterdrückung des einen Teils, der alsdann als Sklave oder bloßes Werkzeug zum wirtschaftlichen Dienst gepreßt und eben auch nur als Werkzeug unterhalten wird... Zwischen dem Zustande der Gleichheit und dem der Nullität auf der einen und der Omnipotenz und einzig aktiven Beteiligung auf der andern Seite befindet sich eine Reihe von Stufen, für deren Besetzung die Erscheinungen der Weltgeschichte in bunter Mannigfaltigkeit gesorgt haben. Ein universeller Blick für die verschiednen Rechts– und Unrechtsinstitutionen der Geschichte ist hier die wesentliche Voraussetzung«...,

und zum Schluß verwandelt sich die ganze Verteilung in ein

»ökonomisches Verteilungsrecht«.

Jetzt endlich hat Herr Dühring wieder festen Boden unter den Füßen. Arm in Arm mit seinen beiden Männern kann er sein Jahrhundert in die Schranken fordern. Aber hinter diesem Dreigestirn steht noch ein Ungenannter.

»Das Kapital hat die Mehrarbeit nicht erfunden. Überall, wo ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen, um die Lebensmittel für den Eigner der Produktionsmittel zu produzieren, sei dieser Eigentümer nun atheniensischer Kaloskagathos, etruskischer Theokrat, civis romanus« (römischer Bürger), »normännischer Baron, amerikanischer Sklavenhalter, walachischer Bojar, moderner Landlord oder Kapitalist.« (Marx, Kapital, I, zweite Ausgabe, Seite 227.)

Nachdem Herr Dühring auf diese Weise erfahren, was die, allen bisherigen Produktionsformen – soweit sie sich in Klassengegensätzen bewegen – gemeinsame Grundform der Ausbeutung ist, galt es nur noch, seine beiden Männer darauf anzuwenden, und die wurzelhafte Grundlage der Wirklichkeitsökonomie war fertig. Er zauderte keinen Moment mit der Ausführung dieses »systemschaffenden Gedankens«. Arbeit ohne Gegenleistung,[144] über die zur Selbsterhaltung des Arbeiters nötige Arbeitszeit hinaus, das ist der Punkt. Der Adam, der hier Robinson heißt, läßt also seinen zweiten Adam, den Freitag, drauflos schanzen. Aber warum schanzt Freitag mehr als er für seinen Unterhalt nötig hat? Auch diese Frage findet bei Marx teilweise ihre Beantwortung. Das ist aber für die beiden Männer viel zu weitläufig. Die Sache wird kurzerhand abgemacht: Robinson »unterdrückt« den Freitag, preßt ihn »als Sklave oder Werkzeug zum wirtschaftlichen Dienst« und unterhält ihn »auch nur als Werkzeug«. Mit dieser neuesten »schöpferischen Wendung« schlägt Herr Dühring wie mit Einer Klappe zwei Fliegen. Erstens erspart er sich die Mühe, die verschiednen bisherigen Verteilungsformen, ihre Unterschiede und ihre Ursachen zu erklären: sie taugen einfach allesamt nichts, sie beruhn auf der Unterdrückung, der Gewalt. Darüber werden wir demnächst zu sprechen haben. Und zweitens versetzt er damit die ganze Theorie der Verteilung vom ökonomischen Gebiet auf das der Moral und des Rechts, d.h. vom Gebiet feststehender materieller Tatsachen auf das mehr oder weniger schwankender Meinungen und Gefühle. Er braucht also nicht mehr zu untersuchen oder zu beweisen, sondern nur noch flott drauflos zu deklamieren, und kann die Forderung stellen, die Verteilung der Erzeugnisse der Arbeit solle sich richten, nicht nach ihren wirklichen Ursachen, sondern nach dem, was ihm, Herrn Dühring, sittlich und gerecht erscheint. Was aber Herrn Dühring gerecht erscheint, ist keineswegs unwandelbar, also weit entfernt, eine echte Wahrheit zu sein. Denn diese sind ja, nach Herrn Dühring selbst, »überhaupt nicht wandelbar«. Im Jahr 1868 behauptete Herr Dühring (»Die Schicksale meiner sozialen Denkschrift etc.«),

es liege »in der Tendenz aller höhern Zivilisation, das Eigentum immer schärfer auszuprägen, und hierin, nicht in einer Konfusion der Rechte und Herrschaftssphären, liegt das Wesen und die Zukunft der modernen Entwicklung«.

Und ferner könne er platterdings nicht absehn,

»wie eine Verwandlung der Lohnarbeit in eine andre Art des Erwerbs mit den Gesetzen der menschlichen Natur und der naturnotwendigen Gliederung des gesellschaftlichen Körpers jemals vereinbar werden solle«.

Also 1868: Privateigentum und Lohnarbeit naturnotwendig und daher gerecht; 1876: Beides Ausfluß der Gewalt und des »Raubs«, also ungerecht. Und wir können unmöglich wissen, was einem so gewaltig dahinstürmenden Genius in einigen Jahren möglicherweise als sittlich und gerecht erscheinen dürfte, und tun daher jedenfalls besser, bei unsrer Betrachtung der Verteilung der Reichtümer uns an die wirklichen, objektiven, ökonomischen[145] Gesetze zu halten und nicht an die augenblickliche, wandelbare, subjektive Vorstellung des Herrn Dühring von Recht und Unrecht.

Wenn wir für die hereinbrechende Umwälzung der heutigen Verteilungsweise der Arbeitserzeugnisse samt ihren schreienden Gegensätzen von Elend und Üppigkeit, Hungersnot und Schwelgerei, keine bessere Sicherheit hätten als das Bewußtsein, daß diese Verteilungsweise ungerecht ist und daß das Recht doch endlich einmal siegen muß, so wären wir übel dran und könnten lange warten. Die mittelalterlichen Mystiker, die vom nahenden Tausendjährigen Reich träumten, hatten schon das Bewußtsein von der Ungerechtigkeit der Klassengegensätze. An der Schwelle der neuern Geschichte, vor dreihundertfünfzig Jahren, ruft Thomas Münzer es laut in die Welt hinaus. In der englischen, in der französischen bürgerlichen Revolution ertönt derselbe Ruf und – verhallt. Und wenn jetzt derselbe Ruf nach Abschaffung der Klassengegensätze und Klassenunterschiede, der bis 1830 die arbeitenden und leidenden Klassen kalt ließ, wenn er jetzt ein millionenfaches Echo findet, wenn er ein Land nach dem andern ergreift, und zwar in derselben Reihenfolge und mit derselben Intensität, wie sich in den einzelnen Ländern die große Industrie entwickelt, wenn er in einem Menschenalter eine Macht erobert hat, die allen gegen ihn vereinten Mächten trotzen und des Siegs in naher Zukunft gewiß sein kann – woher kommt das? Daher, daß die moderne große Industrie einerseits ein Proletariat, eine Klasse geschaffen hat, die zum erstenmal in der Geschichte die Forderung stellen kann der Abschaffung nicht dieser oder jener besondern Klassenorganisation oder dieses und jenes besondern Klassenvorrechts, sondern der Klassen überhaupt; und die in die Lage versetzt ist, daß sie diese Forderung durchführen muß bei Strafe des Versinkens in chinesisches Kulitum. Und daß dieselbe große Industrie andrerseits in der Bourgeoisie eine Klasse geschaffen hat, die das Monopol aller Produktionswerkzeuge und Lebensmittel besitzt, aber in jeder Schwindelperiode und in jedem drauffolgenden Krach beweist, daß sie unfähig geworden, die ihrer Gewalt entwachsenen Produktivkräfte noch fernerhin zu beherrschen; eine Klasse, unter deren Leitung die Gesellschaft dem Ruin entgegenrennt wie eine Lokomotive, deren eingeklemmte Abzugsklappe der Maschinist zu schwach ist zu öffnen. Mit andern Worten: es kommt daher, daß sowohl die von der modernen kapitalistischen Produktionsweise erzeugten Produktivkräfte wie auch das von ihr geschaffne System der Güterverteilung in brennenden Widerspruch geraten sind mit jener Produktionsweise selbst, und zwar in solchem Grad, daß eine Umwälzung der Produktions- und Verteilungsweise stattfinden muß, die alle Klassenunterschiede beseitigt, falls nicht die ganze moderne[146] Gesellschaft untergehn soll. In dieser handgreiflichen, materiellen Tatsache, die sich den Köpfen der ausgebeuteten Proletarier mit unwiderstehlicher Notwendigkeit in mehr oder weniger klarer Gestalt aufdrängt – in ihr, nicht aber in den Vorstellungen dieses oder jenes Stubenhockers von Recht und Unrecht, begründet sich die Siegesgewißheit des modernen Sozialismus.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 136-147.
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