II

[246] Wenn wir unserm Dr. Sax glauben dürfen, so ist von seiten der Herren Kapitalisten schon jetzt Bedeutendes zur Abhülfe der Wohnungsnot geleistet und der Beweis geliefert worden, daß die Wohnungsfrage auf Grund der kapitalistischen Produktionsweise lösbar ist.

Vor allen Dingen führt uns Herr Sax an – das bonapartistische Frankreich! Louis Bonaparte ernannte bekanntlich zur Zeit der Pariser Weltausstellung eine Kommission, scheinbar um über die Lage der arbeitenden Klassen Frankreichs zu berichten, in der Tat, um zum großem Ruhm des Kaiserreichs diese Lage als eine wahrhaft paradiesische zu schildern. Und auf den Bericht dieser aus den korruptesten Werkzeugen des Bonapartismus zusammengesetzten Kommission beruft sich Herr Sax, besonders auch, weil die Resultate ihrer Arbeit »nach dem eigenen Ausspruch des damit betrauten Komitees für Frankreich ziemlich vollständig« sind! Und was sind diese Resultate? Von 89 Großindustriellen resp. Aktiengesellschaften, welche Auskunft erteilten, haben 31 keine Arbeiterwohnungen errichtet; die errichteten Wohnungen beherbergen nach Sax' eigner Schätzung höchstens 50000-60000 Köpfe, und die Wohnungen bestehn fast ausschließlich nur aus zwei Zimmern für jede Familie!

Es ist selbstredend, daß jeder Kapitalist, den die Bedingungen seiner Industrie – Wasserkraft, Lage der Kohlengruben, Eisensteinlager und sonstigen Bergwerke usw. – an eine bestimmte ländliche Lokalität fesseln, Wohnungen für seine Arbeiter bauen muß, wenn keine vorhanden sind. Darin einen Beweis der Existenz der »latenten Assoziation«, »ein sprechendes Zeugnis für die Zunahme des Verständnisses der Sache und ihrer hohen Tragweite«, einen »viel verheißenden Anfang« (S. 115) zu sehn, dazu gehört eine stark entwickelte Gewohnheit, sich selbst etwas aufzubinden. Übrigens unterscheiden sich die Industriellen der verschiedenen Länder auch hierin nach ihrem jedesmaligen Nationalcharakter. Z.B. erzählt uns Herr Sax S. 117:

»In England macht sich erst in neuester Zeit eine gesteigerte Tätigkeit der Arbeitgeber in dieser Richtung bemerkbar. Namentlich sind es die abgelegenen Weiler auf dem Lande... Der Umstand, daß die Arbeiter sonst häufig von der nächsten Ortschaft[246] einen weiten Weg zur Fabrik zurückzulegen haben und, schon erschöpft daselbst anlangend, ungenügende Arbeit leisten, ist es vorwiegend, welcher den Arbeitgebern den Beweggrund zum Baue von Wohnungen für ihre Arbeitskräfte abgibt. Indes mehrt sich auch die Zahl derjenigen, welche, in tieferer Auffassung der Verhältnisse, mit der Wohnungsreform auch mehr oder weniger alle sonstigen Elemente der latenten Assoziation in Verbindung bringen, und diesen danken jene blühenden Kolonien ihr Entstehen... Die Namen eines Ashton in Hyde, Ashworth in Turton, Grant in Bury, Greg in Bollington, Marshall in Leeds, Strutt in Belper, Salt in Saltaire, Ackroyd in Copley u.a. sind im Vereinigten Königreiche um dessentwillen wohlbekannt.«

Heilige Einfalt und noch heiligere Unwissenheit! Erst in der »neuesten Zeit« haben die englischen ländlichen Fabrikanten Arbeiterwohnungen gebaut! Nein, lieber Herr Sax, die englischen Kapitalisten sind wirkliche Großindustrielle, nicht nur dem Beutel, sondern auch dem Kopfe nach. Lange ehe man in Deutschland eine wirklich große Industrie besaß, hatten sie eingesehn, daß bei ländlicher Fabrikation die Auslage für Arbeiterwohnungen ein notwendiger, direkt und indirekt sehr rentabler Teil des Gesamtanlagekapitals ist. Lange ehe der Kampf zwischen Bismarck und den deutschen Bourgeois den deutschen Arbeitern die Koalitionsfreiheit schenkte, hatten die englischen Fabrikanten, Bergwerks- und Hüttenbesitzer praktisch erfahren, welchen Druck sie auf sinkende Arbeiter ausüben können, wenn sie gleichzeitig die Mietsherren dieser Arbeiter sind. »Die blühenden Kolonien« eines Greg, eines Ashton, eines Ashworth gehören so sehr der »neuesten Zeit« an, daß sie schon vor 40 Jahren von der Bourgeoisie als Muster ausposaunt wurden, wie ich das selbst schon vor 28 Jahren beschrieben (»Lage der arbeitenden Klasse«, Seite 228-230, Anmerkung). Etwa ebenso alt sind die von Marshall und Akroyd (so schreibt sich der Mann) und noch viel älter, ins vorige Jahrhundert in ihren Anfängen zurückreichend, ist die von Strutt. Und da in England die durchschnittliche Dauer einer Arbeiterwohnung auf 40 Jahre angenommen wird, so kann Herr Sax sich selbst an den Fingern abzählen, in welchem verfallenen Zustand sich diese »blühenden Kolonien« jetzt befinden. Zudem liegt die Mehrzahl dieser Kolonien jetzt nicht mehr auf dem Lande; die kolossale Ausdehnung der Industrie hat die meisten von ihnen derart mit Fabriken und Häusern umgeben, daß sie mitten in schmutzigen und rauchigen Städten von 20000 bis 30000 und mehr Einwohnern liegen; was die durch Herrn Sax repräsentierte deutsche Bourgeoisiewissenschaft nicht verhindert, die alten englischen Lobgesänge von 1840, die gar nicht mehr anwendbar sind, noch heute getreulichst nachzubeten.[247]

Und nun gar der alte Akroyd! Dieser brave Mann war allerdings ein Philanthrop vom reinsten Wasser. Er liebte seine Arbeiter und besonders seine Arbeiterinnen so sehr, daß seine weniger menschenfreundlichen Konkurrenten in Yorkshire von ihm zu sagen pflegten: er treibe seine Fabrik ausschließlich mit seinen eignen Kindern! Allerdings behauptet Herr Sax, daß in diesen blühenden Kolonien »uneheliche Geburten immer seltener werden« (Seite 118). Jawohl, uneheliche Geburten außer der Ehe; die hübschen Mädchen verheiraten sich in den englischen Fabrikdistrikten nämlich sehr jung.

In England ist die Anlage von Arbeiterwohnungen dicht neben jeder großen ländlichen Fabrik, und gleichzeitig mit der Fabrik, die Regel gewesen seit 60 Jahren und mehr. Wie schon erwähnt, sind viele solcher Fabrikdörfer der Kern geworden, um den sich später eine ganze Fabrikstadt angesetzt hat, mit allen den Übelständen, die eine Fabrikstadt mit sich bringt. Diese Kolonien haben also die Wohnungsfrage nicht gelöst, sie haben sie in ihrer Lokalität erst geschaffen.

Dagegen in den Ländern, die England auf dem Gebiet der großen Industrie nur nachgehinkt sind, und die eigentlich erst seit 1848 kennengelernt haben, was eine große Industrie ist, in Frankreich und besonders in Deutschland ist es ganz anders. Hier sind es nur kolossale Hüttenwerke und Fabriken, die sich nach langem Zaudern zum Bau einiger Arbeiterwohnungen entschließen – wie das Schneidersche Werk in Creusot und das Kruppsche in Essen. Die große Mehrzahl der ländlichen Industriellen läßt ihre Arbeiter in Hitze, Schnee und Regen meilenweit morgens zur Fabrik und abends wieder nach Hause traben. Dies ist besonders in gebirgigen Gegenden der Fall – in den französischen und Elsasser Vogesen, wie an der Wupper, Sieg, Agger, Lenne und anderen rheinisch-westfälischen Flüssen. Im Erzgebirge wird's nicht besser sein. Es ist dieselbe kleinliche Knickerei bei Deutschen wie bei Franzosen.

Herr Sax weiß sehr gut, daß sowohl der vielversprechende Anfang wie die blühenden Kolonien weniger als nichts bedeuten. Er sucht also jetzt den Kapitalisten zu beweisen, welche prächtige Renten sie aus der Anlage von Arbeiterwohnungen ziehen können. Mit andern Worten, er sucht ihnen einen neuen Weg anzuzeigen, die Arbeiter zu prellen.

Zuerst hält er ihnen das Exempel einer Reihe von Londoner Baugesellschaften vor, welche, teils philanthropischer, teils spekulativer Natur, einen[248] Reinertrag von 4 bis 6% und mehr erzielt haben. Daß Kapital, in Arbeiterwohnungen angelegt, sich gut rentiert, braucht uns Herr Sax nicht erst zu beweisen. Der Grund, weshalb nicht mehr darin angelegt wird als geschieht, ist der, daß teurere Wohnungen sich dem Eigentümer noch besser rentieren. Herrn Sax' Mahnung an die Kapitalisten läuft also wieder auf bloße Moralpredigt hinaus.

Was nun diese Londoner Baugesellschaften angeht, deren glänzende Erfolge Herr Sax so laut ausposaunt, so haben sie laut seiner eignen Aufzählung – und darin ist jede beliebige Bauspekulation mit aufgeführt – im ganzen Unterkommen für 2132 Familien und für 706 einzelne Männer hergestellt, also für unter 15000 Personen! Und dergleichen Kindereien wagt man in Deutschland ernsthaft als große Erfolge aufzuführen, während im Ostteil von London allein eine Million Arbeiter in den elendesten Wohnungszuständen leben? Diese sämtlichen philanthropischen Bestrebungen sind in der Tat so erbärmlich nichtig, daß in den englischen Parlamentsberichten, die sich mit der Lage der Arbeiter befassen, ihrer nie auch nur Erwähnung getan wird.

Von der lächerlichen Unkenntnis Londons, die sich in diesem ganzen Abschnitt breitmacht, wollen wir hier gar nicht sprechen. Nur eins. Herr Sax meint, das Logierhaus für einzelne Männer in Soho sei eingegangen, weil in dieser Gegend »auf zahlreiche Kundschaft nicht zu rechnen« war. Herr Sax stellt sich nämlich das ganze Westend von London als eine einzige Luxusstadt vor und weiß nicht, daß dicht hinter den elegantesten Straßen die schmutzigsten Arbeiterviertel liegen, von denen z.B. Soho eins ist. Das Musterlogierhaus in Soho, von dem er spricht und das ich schon vor 23 Jahren kannte, hatte anfangs Zuspruch die Menge, ging aber ein, weil kein Mensch es darin aushalten konnte. Und dabei war es noch eins der besten.

Aber die Arbeiterstadt von Mülhausen im Elsaß, – das ist doch ein Erfolg?

Die Arbeiterstadt in Mülhausen ist das große Paradepferd der kontinentalen Bourgeois, grade wie die weiland blühenden Kolonien von Ashton, Ashworth, Greg und Konsorten das der englischen. Leider ist sie kein Produkt der »latenten« Assoziation, sondern der offenen Assoziation zwischen dem zweiten französischen Kaisertum und den Elsasser Kapitalisten. Sie war eins von Louis Bonapartes sozialistischen Experimenten, zu dem der Staat 1/3 des Kapitals vorschoß. Sie hat in 14 Jahren (bis 1867) 800 kleine[249] Häuschen nach einem mangelhaften, in England, wo man dies besser versteht, unmöglichen System gebaut, und überläßt diese den Arbeitern gegen monatliche Bezahlung eines erhöhten Mietbetrags nach 13 bis 15 Jahren als Eigentum. Diese Art der Eigentumserwerbung, in den englischen genossenschaftlichen Baugesellschaften, wie wir sehen werden, längst eingeführt, brauchte von den Elsasser Bonapartisten nicht erst erfunden zu werden. Die Mietaufschläge für den Ankauf der Häuser sind im Verhältnis zu den englischen ziemlich stark; der Arbeiter erhält z.B., nachdem er 4500 Franken in fünfzehn Jahren nach und nach eingezahlt hat, ein Haus, das vor 15 Jahren 3300 Franken wert war. Falls der Arbeiter wegziehen will oder auch nur mit einer einzigen Monatszahlung im Rückstand bleibt (in welchem Fall er herausgesetzt werden kann), berechnet man ihm 62/3% des ursprünglichen Hauswerts als jährliche Miete (z.B. 17 Franken monatlich bei 3000 Franken Hauswert), und zahlt ihm den Rest heraus, aber ohne einen Pfennig Zinsen. Daß dabei die Gesellschaft, abgesehen von der »Staatshülfe«, fett werden kann, begreift sich; ebensowohl begreift sich, daß die unter diesen Umständen gelieferten Wohnungen, schon weil vor der Stadt, halb ländlich, angelegt, besser sind als die alten Kasernenwohnungen in der Stadt selbst.

Von den paar erbärmlichen Experimenten in Deutschland, deren Jämmerlichkeit selbst Herr Sax, Seite 157, anerkennt, sagen wir kein Wort.

Was beweisen nun alle diese Exempel? Einfach, daß die Anlage von Arbeiterwohnungen, selbst wenn nicht alle Gesetze der Gesundheitspflege mit Füßen getreten worden, sich kapitalistisch rentiert. Das aber ist nie bestritten worden, das wußten wir alle längst. Jede Kapitalanlage, die ein Bedürfnis befriedigt, rentiert sich bei rationellem Betrieb. Die Frage ist grade: warum trotzdem die Wohnungsnot fortbesteht, warum trotzdem die Kapitalisten nicht für hinreichende gesunde Wohnungen für die Arbeiter sorgen? Und da hat Herr Sax eben wieder nur Ermahnungen an das Kapital zu richten und bleibt uns die Antwort schuldig. Die wirkliche Antwort auf diese Frage haben wir oben schon gegeben.

Das Kapital, das ist jetzt endgültig festgestellt, will die Wohnungsnot nicht abschaffen, selbst wenn es könnte. Bleiben nur zwei andere Auskunftsmittel: die Selbsthülfe der Arbeiter und die Staatshülfe.

Herr Sax, ein begeisterter Verehrer der Selbsthülfe, weiß auch auf dem Gebiet der Wohnungsfrage Wunderdinge von ihr zu berichten. Leider muß er gleich im Anfang zugeben, daß sie nur da etwas leisten kann, wo das Cottagesystem entweder besteht oder doch durchführbar ist, also wiederum[250] nur auf dem Lande; in den großen Städten, auch in England, nur in sehr beschränktem Maßstab. Dann, seufzt Herr Sax,

»kann sich die Reform durch dieselbe« (die Selbsthülfe) »nur auf einem Umwege, daher stets nur unvollkommen vollziehen, nämlich nur insofern, als eben dem Prinzip des Eigenbesitzes eine auf die Qualität der Wohnung rückwirkende Kraft zukommt«.

Auch dies wäre in Zweifel zu ziehn; jedenfalls hat »das Prinzip des Eigenbesitzes« auf die »Qualität« des Stils unsres Verfassers keineswegs reformierend zurückgewirkt. Trotz alledem hat die Selbsthülfe in England solche Wunder getan,

»daß dadurch alles, was dort zur Lösung der Wohnungsfrage nach anderen Richtungen hin geschehen ist, weit überholt wird. Es sind dies die englischen building societies«, die Herr Sax auch besonders deswegen weltläufiger behandelt, weil »über ihr Wesen und Wirken im allgemeinen sehr ungenügende oder irrige Vorstellungen verbreitet sind. Die englischen building societies sind keineswegs... Baugesellschaften oder Baugenossenschaften, sie sind vielmehr... im Deutschen etwa durch: ›Hauserwerbvereine‹ zu bezeichnen; sie sind Vereine mit dem Zwecke, durch periodische Beiträge der Mitglieder einen Fonds anzusammeln, und daraus, eben nach Maßgabe der Mittel, den Mitgliedern zum Ankauf eines Hauses Darlehen zu gewähren... Die building society ist somit für den einen Teil ihrer Mitglieder ein Sparverein, für den andern Teil eine Vorschußkasse. – Die building societies sind also für die Bedürfnisse des Arbeiters berechnete Hypothekarkreditanstalten, welche hauptsächlich... die Ersparnisse der Arbeiter... den Standesgenossen der Einleger zum Ankauf oder Bau eines Hauses zuwenden. Wie vorauszusetzen, werden diese Darlehen gegen Verpfändung der betreffenden Realität und in der Weise konstituiert, daß die Tilgung derselben in kurzen Ratenzahlungen erfolgt, welche Verzinsung und Amortisation in sich vereinen... Die Verzinsung wird den Einlegern nicht ausbezahlt, sondern stets auf Zinseszins gutgeschrieben... Die Rückforderung der Einlagen samt den angewachsenen Interessen... kann gegen monatliche Kündigung jeden Augenblick erfolgen.« (Seite 170-172.) »Es bestehen in England über 2000 solcher Vereine,... das in ihnen angesammelte Kapital beläuft sich auf etwa 15000000 Pfund Sterling, und an 100000 Arbeiterfamilien sind auf diesem Wege bereits zu dem Besitze eines eignen häuslichen Herdes gelangt; eine soziale Errungenschaft, der sicherlich nicht bald eine andre an die Seite zu stellen.« (Seite 174.)

Leider kommt auch hier das »Aber« dicht hinterdrein gehinkt:

»Eine vollendete Lösung der Frage ist indes damit noch keineswegs erreicht. Schon aus dem Grunde nicht, weil der Hauserwerb nur den bessergestellten Arbeitern... offensteht... Namentlich die sanitären Rücksichten sind oft nicht genügend beobachtet.« (Seite 176.)[251]

Auf dem Kontinent finden »derartige Vereine... nur ein geringes Terrain zur Entfaltung vor«. Sie setzen das Cottagesystem voraus, das hier nur auf dem Lande besteht; auf dem Lande aber sind die Arbeiter zur Selbsthülfe noch nicht entwickelt genug. Andrerseits in den Städten, wo sich eigentliche Baugenossenschaften bilden könnten, stehn ihnen »sehr erhebliche und ernste Schwierigkeiten mannigfacher Art entgegen«. (Seite 179.) Sie könnten eben nur Cottages bauen, und das geht in den großen Städten nicht. Kurzum, »dieser Form der genossenschaftlichen Selbsthülfe« kann »nach den heutigen Verhältnissen – und auch kaum in naher Zukunft – die Hauptrolle in der Lösung der vorliegenden Frage wohl nicht zufallen«. Diese Baugenossenschaften befinden sich nämlich noch »im Stadium der ersten, unentwickelten Anfänge«. »Dies gilt selbst für England.« (Seite 181.)

Also: die Kapitalisten wollen nicht und die Arbeiter können nicht. Und damit könnten wir diesen Abschnitt schließen, wenn es nicht unbedingt nötig wäre, über die englischen building societies, die die Bourgeois von der Couleur Schulze-Delitzsch unsern Arbeitern stets als Muster vorhalten, einige Aufklärung zu geben.

Diese building societies sind weder Arbeitergesellschaften, noch ist ihr Hauptzweck, Arbeitern eigne Häuser zu verschaffen. Wir werden im Gegenteil sehn, daß dies nur sehr ausnahmsweise geschieht. Die building societies sind wesentlich spekulierender Natur, die kleinen, welche die ursprünglichen sind, nicht weniger als ihre großen Nachahmer. In einem Wirtshaus tun sich, auf Betrieb gewöhnlich des Wirts, bei dem dann die wöchentlichen Versammlungen stattfinden, eine Anzahl Stammgäste und deren Freunde, Krämer, Kommis, Handlungsreisende, Kleinmeister und andres Kleinbürgertum – hier und da auch ein Maschinenbauer oder sonstiger zur Aristokratie seiner Klasse gehöriger Arbeiter – zu einer Baugenossenschaft zusammen; die nächste Veranlassung ist gewöhnlich, daß der Wirt ein verhältnismäßig wohlfeil zu habendes Grundstück in der Nachbarschaft oder sonstwo aufgespürt hat. Die meisten der Mitglieder sind durch ihre Beschäftigung nicht an eine bestimmte Gegend gebunden; selbst viele der Krämer und Handwerker haben in der Stadt nur ein Geschäftslokal, keine Wohnung; wer irgend kann, wohnt lieber draußen als mitten in der rauchigen Stadt. Die Baustelle wird gekauft, und die mögliche Anzahl von Cottages darauf errichtet. Der Kredit der Wohlhabenderen ermöglicht den Ankauf, die wöchentlichen Beiträge, nebst einigen kleinen Anleihen, decken die wöchentlichen Auslagen für den Bau. Diejenigen Mitglieder, die auf ein eignes Haus spekulieren, erhalten durchs Los die fertig werdenden Cottages zugeteilt, und der entsprechende Mietaufschlag amortisiert den[252] Kaufpreis. Die übrigbleibenden Cottages werden vermietet oder verkauft. Die Baugesellschaft aber, wenn sie gute Geschäfte macht, sammelt ein kleineres oder größeres Vermögen an, das den Mitgliedern verbleibt, solange sie ihre Beiträge zahlen, und von Zeit zu Zeit oder bei Auflösung der Gesellschaft verteilt wird. Das ist der Lebenslauf von neun englischen Baugesellschaften aus zehn. Die übrigen sind größere, zuweilen unter politischen oder philanthropischen Vorwänden gebildete Gesellschaften, deren Hauptzweck aber schließlich immer der ist, den Ersparnissen des Kleinbürgertums eine höhere hypothekarische Anlage mit guter Verzinsung und Aussicht auf Dividende vermittelst Spekulation in Grundeigentum zu verschaffen.

Auf welche Sorte von Kunden diese Gesellschaften spekulieren, beweise der Prospekt einer der größten, wo nicht der größten unter ihnen. Die Birkbeck Building Society, 29 and 30, Southampton Buildings, Chancery Lane, London, deren Einnahmen seit ihrem Bestehn über 101/2 Millionen Pfund Sterling (70 Millionen Taler) betragen, die über 416000 Pfund in der Bank und in Staatspapieren angelegt hat und gegenwärtig 21441 Mitglieder und Depositare zählt, kündigt sich dem Publikum folgendermaßen an:

»Die meisten Leute sind vertraut mit den sogenannten Dreijahre-System der Pianofortefabrikanten, nach welchem jeder, der ein Pianoforte auf drei Jahre mietet, nach Verlauf dieser Zeit der Eigentümer desselben wird. Vor der Einführung dieses Systems war es für Leute von beschränktem Einkommen fast ebenso schwer, sich ein gutes Pianoforte, wie ein eignes Haus anzuschaffen; man zahlte jahraus, jahrein für die Miete des Pianofortes und gab zwei- oder dreimal soviel Geld aus, als das Pianoforte wert war. Was aber bei einem Pianoforte tunlich ist, ist es auch bei einem Hause... Da aber ein Haus mehr kostet als ein Pianoforte... ist eine längere Zeit nötig, um den Kaufpreis durch Miete abzutragen. Infolgedessen haben die Direktoren mit Hauseigentümern in verschiedenen Teilen von London und seinen Vorstädten Abmachungen getroffen, wodurch sie imstande sind, den Mitgliedern der Birkbeck Building Society und andern eine große Auswahl von Häusern in den verschiedensten Stadtteilen anzubieten. Das System, wonach die Direktoren zu verfahren beabsichtigen, ist: die Häuser für 121/2 Jahre zu vermieten, nach Verlauf welcher Zeit, falls die Miete regelmäßig bezahlt wird, das Haus das absolute Eigentum des Mieters wird, ohne fernere Zahlung irgendwelcher Art... Der Mieter kann auch für eine kürzere Anfallzeit bei höherer Miete, oder für eine längere Anfallzeit bei niedrigerer Miete, akkordieren... Leute von beschränktem Einkommen, Handlungs- und Ladengehülfen und andere können sich sofort von jedem Hausvermieter unabhängig machen, indem sie Mitglieder der Birkbeck Building Society werden.«

Das spricht klar genug. Von Arbeitern keine Rede, wohl aber von Leuten mit beschränktem Einkommen, Laden- und Handlungsgehülfen etc.; und noch dazu wird vorausgesetzt, daß die Applikanten in der Regel schon[253] ein Pianoforte besitzen. In der Tat, es handelt sich hier gar nicht um Arbeiter, sondern um Kleinbürger und solche, die es werden wollen und können; Leute, deren Einkommen, wenn auch innerhalb gewisser Grenzen, in der Regel allmählich steigt, wie das der Handlungskommis und ähnlicher Erwerbszweige, während das des Arbeiters, im Betrage bestenfalls sich gleichbleibend, in Wirklichkeit fällt im Verhältnis der Zunahme seiner Familie und ihrer wachsenden Bedürfnisse. In der Tat, nur wenige Arbeiter können ausnahmsweise an solchen Gesellschaften teilnehmen. Einerseits ist ihr Einkommen zu gering, andrerseits zu unsichrer Natur, als daß sie Verpflichtungen auf 121/2 Jahre hinaus übernehmen könnten. Die wenigen Ausnahmen, für die dies nicht gilt, sind entweder die bestbezahlten Arbeiter oder Fabrikaufseher.5

Übrigens sieht jedermann, daß die Bonapartisten der Arbeiterstadt Mülhausen weiter nichts sind als elende Nachäffer dieser kleinbürgerlichen englischen Baugesellschaften. Bloß daß jene, trotz der ihnen gewährten Staatshülfe, ihre Kunden weit mehr beschwindeln als die Baugesellschaften. Ihre Bedingungen sind im ganzen weniger liberal als die durchschnittlich in England gültigen, und während in England von jeder Anzahlung stets Zins und Zinseszins berechnet und nach einmonatlicher Kündigung auch[254] zurückbezahlt wird, stecken die Mülhauser Fabrikanten den Zins und Zinseszins in die Tasche und zahlen nur den in harten Fünffrankentalern eingezahlten Betrag zurück. Und niemand wird sich über diesen Unterschied mehr wundern als Herr Sax, der das alles in seinem Buche stehen hat, ohne es zu wissen.

Mit der Selbsthülfe der Arbeiter ist es also auch nichts. Bleibt die Staatshülfe. Was kann uns Herr Sax in dieser Beziehung bieten? Dreierlei:

»Erstens, der Staat hat darauf bedacht zu sein, in seiner Gesetzgebung und Verwaltung alles auszumerzen oder entsprechend zu bessern, was in irgendeiner Weise die Beförderung der Wohnungsnot der arbeitenden Klassen zur Folge hat.« (Seite 187.)

Also: Revision der Baugesetzgebung und Freigebung der Baugewerbe, damit wohlfeiler gebaut werde. Aber in England ist die Baugesetzgebung auf ein Minimum beschränkt, die Baugewerbe sind frei wie der Vogel in der Luft, und doch existiert die Wohnungsnot. Dabei wird jetzt in England so wohlfeil gebaut, daß die Häuser wackeln, wenn eine Karre vorbeifährt, und daß täglich welche einstürzen. Noch gestern, 25. Oktober 1872, sind in Manchester sechs auf einmal zusammengestürzt und haben sechs Arbeiter schwer verletzt. Hilft also auch nichts.

»Zweitens, die Staatsgewalt hat zu verhindern, daß der einzelne in seinem beschränkten Individualismus das Übel fortpflanze oder neu hervorrufe.«

Also: Gesundheits- und baupolizeiliche Inspektion der Arbeiterwohnungen, Übertragung der Befugnis an die Behörden, gesundheitsgefährliche und baufällige Wohnungen zu schließen, wie dies in England seit 1857 geschehn ist. Aber wie ist es dort geschehn ? Das erste Gesetz von 1855 (Nuisances Removal Act) blieb, wie Herr Sax selbst zugibt, »ein toter Buchstabe«, ebenso das zweite von 1858 (Local Government Act) (Seite 197). Dagegen glaubt Herr Sax, daß das dritte, der Artisans' Dwellings Act, der nur für Städte über 10000 Einwohner gilt, »sicherlich ein günstiges Zeugnis ablegt von der hohen Einsicht des britischen Parlaments in sozialen Dingen« (Seite 199), während diese Behauptung wieder nur »ein günstiges Zeugnis ablegt von« der totalen Unbekanntschaft des Herrn Sax mit englischen »Dingen«. Daß England überhaupt »in sozialen Dingen« dem Kontinent weit voraus ist, versteht sich von selbst; es ist das Mutterland der modernen großen Industrie, in ihm hat sich die kapitalistische Produktionsweise am freisten und am weitesten entwickelt, ihre Konsequenzen treten hier am grellsten an den Tag und rufen daher auch zuerst eine Reaktion in der Gesetzgebung hervor. Der beste Beweis dafür die Fabrikgesetzgebung. Wenn aber Herr Sax glaubt, ein Parlamentsakt brauche nur Gesetzeskraft[255] zu erhalten, um auch sogleich praktisch eingeführt zu werden, so irrt er sich gewaltig. Und dies gilt von keinem Parlamentsakt mehr (den Workshops' Act allenfalls ausgenommen) als grade von dem Local Government Act. Die Ausführung des Gesetzes wurde den städtischen Behörden übertragen, welche fast überall in England anerkannte Mittelpunkte von Korruption aller Art, Familienbegünstigung und Jobbery6 sind. Die Agenten dieser städtischen Behörden, ihre Stellen allerlei Familienrücksichten verdankend, sind entweder nicht fähig oder nicht gesinnt, derartige Sozialgesetze auszuführen, während grade in England die mit Vorbereitung und Ausführung der Sozialgesetzgebung beauftragten Staatsbeamten sich meist durch strenge Pflichterfüllung auszeichnen – wenn auch jetzt in geringerm Maß als vor zwanzig, dreißig Jahren. In den Stadträten sind die Eigentümer ungesunder und baufälliger Wohnungen fast überall direkt oder indirekt stark vertreten. Die Wahl der Stadträte nach kleinen Bezirken macht die Gewählten von den kleinlichsten Lokalinteressen und Einflüssen abhängig; kein Stadtrat, der wiedergewählt werden will, darf wagen, für Anwendung dieses Gesetzes auf seinen Wahlbezirk zu stimmen. Man begreift also, mit welchem Widerwillen dies Gesetz fast überall von den Lokalbehörden aufgenommen wurde, und daß es bisher nur auf die allerskandalösesten Fälle – und auch da meist nur infolge einer bereits ausgebrochenen Epidemie, wie voriges Jahr in Manchester und Salford bei der Pockenepidemie-Anwendung gefunden hat. Der Appell an den Minister des Innern hat bisher nur in derartigen Fällen seine Wirkung gehabt, wie es denn das Prinzip jeder liberalen Regierung in England ist, soziale Reformgesetze nur notgedrungen vorzuschlagen und die schon bestehenden, wenn irgend möglich, gar nicht auszuführen. Das fragliche Gesetz, wie manche andere in England, hat nur die Bedeutung, daß es in den Händen einer von den Arbeitern beherrschten oder gedrängten Regierung, die es endlich wirklich anwendet, eine mächtige Waffe sein wird, in den gegenwärtigen sozialen Zustand Bresche zu legen.

[256] »Drittens« soll die Staatsgewalt nach Herrn Sax »alle ihr zu Gebote stehenden positiven Maßregeln zur Abhülfe der bestehenden Wohnungsnot in umfassendstem Maße in Anwendung bringen.«

Das heißt, sie soll Kasernen, »wahrhafte Musterbauten« für ihre »subalternen Beamten und Diener« errichten (aber das sind ja keine Arbeiter!) und »Gemeindevertretungen, Gesellschaften und auch Privaten zum Zweck der Verbesserung der Wohnungen für die arbeitenden Klassen Darlehen... gewähren« (Seite 203), wie dies in England laut dem Public Works Loan Act geschieht, und wie Louis Bonaparte in Paris und Mülhausen getan hat. Aber der Public Works Loan Act besteht eben auch nur auf dem Papier, die Regierung stellt den Kommissären nur höchstens 50000 Pfund Sterling zur Verfügung, also die Mittel zum Bau von höchstens 400 Cottages, also in 40 Jahren 16000 Cottages oder Wohnungen für höchstens 80000 Köpfe – ein Tropfen am Eimer! Selbst wenn wir annehmen, daß nach zwanzig Jahren die Mittel der Kommission sich durch Rückzahlung verdoppeln, also in den letzten 20 Jahren Wohnungen für fernere 40000 Köpfe hergestellt werden, so bleibt es immer nur ein Tropfen am Eimer. Und da die Cottages nur 40 Jahre durchschnittlich dauern, so müssen nach 40 Jahren jedes Jahr die flüssigen 50000 oder 100000 Pfund dazu verwandt werden, die verfallenen ältesten Cottages wieder zu ersetzen. Dies nennt Herr Sax, Seite 203: das Prinzip praktisch richtig und »auch in unbeschränktem Maß« durchführen! Und mit diesem Eingeständnis, daß der Staat, selbst in England, »in unbeschränktem Maß« so gut wie gar nichts geleistet hat, schließt Herr Sax sein Buch, nur noch eine erneute Moralpredigt an alle Beteiligten vom Stapel lassend.7

Daß der heutige Staat der Wohnungsplage weder abhelfen kann noch will, ist sonnenklar. Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber[257] den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten (und diese kommen hier allein in Frage, da in dieser Sache auch der beteiligte Grundbesitzer zunächst in seiner Eigenschaft als Kapitalist auftritt) nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. Wenn also die einzelnen Kapitalisten die Wohnungsnot zwar beklagen, aber kaum zu bewegen sind, ihre erschreckendsten Konsequenzen oberflächlich zu vertuschen, so wird der Gesamtkapitalist, der Staat, auch nicht viel mehr tun. Er wird höchstens dafür sorgen, daß der einmal üblich gewordene Grad oberflächlicher Vertuschung überall gleichmäßig durchgeführt wird. Und wir haben gesehen, daß dies der Fall ist.

Aber, kann man einwenden, in Deutschland herrschen die Bourgeois noch nicht, in Deutschland ist der Staat noch eine. In gewissem Grade unabhängig über der Gesellschaft schwebende Macht, die eben deshalb die Gesamtinteressen der Gesellschaft repräsentiert und nicht die einer einzelnen Klasse. Ein solcher Staat kann allerdings manches, was ein Bourgeoisstaat nicht kann; von ihm darf man auch auf sozialem Gebiet ganz andere Dinge erwarten.

Das ist die Sprache der Reaktionäre. In Wirklichkeit aber ist auch in Deutschland der Staat, wie er besteht, das notwendige Produkt der gesellschaftlichen Unterlage, aus der er herausgewachsen ist. In Preußen – und Preußen ist jetzt maßgebend – besteht neben einem immer noch starken, großgrundbesitzenden Adel eine verhältnismäßig junge und namentlich sehr feige Bourgeoisie, die sich bisher weder die direkte politische Herrschaft, wie in Frankreich, noch die mehr oder weniger indirekte, wie in England, erkämpft hat. Neben beiden Klassen aber besteht ein sich rasch vermehrendes, intellektuell sehr entwickeltes und sich täglich mehr und mehr organisierendes Proletariat. Wir finden also hier neben der Grundbedingung der alten absoluten Monarchie: dem Gleichgewicht zwischen Grundadel und Bourgeoisie, die Grundbedingung des modernen Bonapartismus: das Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Sowohl in der alten absoluten, wie in der modernen bonapartistischen Monarchie aber liegt die wirkliche Regierungsgewalt in den Händen einer besondern Offiziers- und Beamtenkaste, die sich in Preußen teils aus sich selbst, teils aus dem kleinen Majoratsadel, seltener aus dem großen Adel, zum geringsten Teil aus der Bourgeoisie ergänzt. Die Selbständigkeit dieser Kaste, die außerhalb und sozusagen über der Gesellschaft zu stehen scheint, gibt dem Staat den Schein der Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft.

Die Staatsform, welche sich in Preußen (und nach seinem Vorgang in der neuen Reichsverfassung Deutschlands) aus diesen widerspruchsvollen[258] gesellschaftlichen Zuständen mit notwendiger Konsequenz entwickelt hat, ist der Scheinkonstitutionalismus; eine Form, die sowohl die heutige Auflösungsform der alten absoluten Monarchie, wie die Existenzform der bonapartistischen Monarchie ist. In Preußen verdeckte und vermittelte der Scheinkonstitutionalismus von 1848 bis 1866 nur die langsame Verwesung der absoluten Monarchie. Seit 1866 und namentlich seit 1870 aber geht die Umwälzung der gesellschaftlichen Zustände und damit die Auflösung des alten Staats vor aller Augen und auf kolossal wachsender Stufenleiter vor sich. Die rasche Entwicklung der Industrie und namentlich des Börsenschwindels hat alle herrschenden Klassen in den Strudel der Spekulation hineingerissen. Die 1870 aus Frankreich importierte Korruption im großen entwickelt sich mit unerhörter Schnelligkeit. Strousberg und Péreire ziehen den Hut voreinander. Minister, Generale, Fürsten und Grafen machen in Aktien trotz der geriebensten Börsenjuden, und der Staat erkennt ihre Gleichheit an, indem er die Börsenjuden massenweise baronisiert. Der Landadel, seit langem als Rübenzuckerfabrikant und Branntweinbrenner industriell, hat die alten soliden Zeiten längst hinter sich und schwellt mit seinen Namen die Listen der Direktoren aller soliden und unsoliden Aktiengesellschaften. Die Bürokratie verachtet mehr und mehr den Kassendefekt als einziges Mittel der Gehaltsaufbesserung; sie läßt den Staat laufen und macht Jagd auf die weit einträglicheren Posten in der Verwaltung industrieller Unternehmungen; die noch im Amt bleiben, folgen dem Beispiel ihrer Vorgesetzten, spekulieren in Aktien oder lassen sich bei Eisenbahnen usw. »beteiligen«. Man ist sogar berechtigt anzunehmen, daß auch die Lieutenants in mancher Spekulation ihr Händchen haben. Kurz, die Zersetzung aller Elemente des alten Staats, der Übergang der absoluten Monarchie in die bonapartistische ist in vollem Gang, und mit der nächsten großen Handels- und Industriekrisis bricht nicht nur der gegenwärtige Schwindel, sondern auch der alte preußische Staat zusammen.8

Und dieser Staat, dessen nichtbürgerliche Elemente sich täglich mehr Verbürgern, soll »die soziale Frage« lösen oder auch nur die Wohnungsfrage? Im Gegenteil. In allen ökonomischen Fragen verfällt der preußische Staat mehr und mehr der Bourgeoisie; und wenn die Gesetzgebung seit 1866 auf ökonomischem Gebiet nicht noch mehr den Interessen der Bourgeoisie[259] angepaßt worden ist, als dies geschehen, an wem liegt die Schuld? Hauptsächlich an der Bourgeoisie selbst, die erstens zu feig ist, um ihre Forderungen energisch zu vertreten, und die zweitens sich gegen jede Konzession sträubt, sobald diese Konzession gleichzeitig dem drohenden Proletariat neue Waffen in die Hand gibt. Und wenn die Staatsgewalt, d.h. Bismarck, sich ein eignes Leibproletariat zu organisieren versucht, um damit die politische Tätigkeit der Bourgeoisie im Zaume zu halten, was ist das anders, als ein notwendiges und wohlbekanntes bonapartistisches Mittelchen, das gegenüber den Arbeitern zu nichts verpflichtet, als zu einigen wohlwollenden Redensarten und höchstens zu einem Minimum von Staatshülfe bei Baugesellschaften à la Louis Bonaparte?

Der beste Beweis dafür, was die Arbeiter vom preußischen Staat zu erwarten haben, liegt in der Verwendung der französischen Milliarden, die der Selbständigkeit der preußischen Staatsmaschine, gegenüber der Gesellschaft, eine neue, kurze Galgenfrist gegeben. Ist auch nur ein Taler dieser Milliarden verwandt worden, um die auf die Straße geworfenen Berliner Arbeiterfamilien unter Dach zu bringen? Im Gegenteil. Als der Herbst herangekommen, ließ der Staat selbst die paar elenden Baracken einreißen, die ihnen im Sommer als Notdach gedient hatten. Die fünf Milliarden gehn flott genug den Weg alles Fleisches, in Festungen, Kanonen und Soldaten; und trotz Wagner von Dummerwitz, trotz Stieberkonferenzen mit Östreich, wird den deutschen Arbeitern von den Milliarden noch nicht so viel zugewandt werden, als Louis Bonaparte den französischen zuwandte von den Millionen, die er Frankreich gestohlen.

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Hier noch ein kleiner Beitrag zum Geschäftsbetrieb speziell der Londoner Bauvereine. Bekanntlich gehört der Boden von fast ganz London ungefähr einem Dutzend Aristokraten, darunter die Vornehmsten die Herzöge von Westminster, von Bedford, von Portland usw. Diese hatten die einzelnen Baustellen ursprünglich auf 99 Jahre verpachtet und treten bei Ablauf dieser Zeit in den Besitz des Grundstücks mit allem, was darauf steht. Sie vermieten nun die Häuser auf kürzere Termine, 39 Jahre z.B. unter einer sogenannten repairing lease, kraft deren der Mieter das Haus in baulichen Stand setzen und darin erhalten muß. Sobald der Kontrakt soweit abgemacht ist, schickt der Grundherr seinen Architekten und den Baupolizeibeamten (surveyor) des Distrikts, das Haus zu inspizieren und die nötigen Reparaturen festzustellen. Diese sind oft sehr umfassend, bis zur Erneuerungsfrage der ganzen Frontmauer, des Dachs etc. Der Mieter deponiert nun den Mietsvertrag als Sicherheit bei einem Bauverein und erhält von diesem das nötige Geld – bis zu 1000 Pfd. St. und mehr bei jährlicher Miete von 130-150 Pfd. – vorgeschossen für den auf seine Kosten zu vollführenden Bau. Diese Bauvereine sind also ein wichtiges Mittelglied geworden in einem System, das den Zweck hat, die den großen Grundaristokraten gehörigen Londoner Häuser mühelos und auf Kosten des Publikums immer wieder neu zu bauen und bewohnbar zu erhalten. Und das soll eine Lösung der Wohnungsfrage für die Arbeiter sein! [Anm. von Engels zur Ausgabe von 1887.]

6

Jobbery heißt die Benutzung eines öffentlichen Amts zu Privatvorteilen für den Beamten oder seine Familie. Wenn z.B. der Chef der Staatstelegraphie eines Landes stiller Gesellschafter einer Papierfabrik wird, dieser Fabrik Holz aus seinen Forsten liefert, und dann ihr Papierlieferungen für die Telegraphenbüros überträgt, so ist das ein zwar ziemlich kleiner, aber doch insofern ganz hübscher job, als er ein vollkommenes Verständnis der Prinzipien der jobbery bekundet; wie dies übrigens bei Bismarck selbstverständlich und zu erwarten war.

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Neuerdings wird in den englischen Parlamentsakten, welche den Londoner Baubehörden das Recht der Expropriation behufs Neuanlage von Straßen erteilen, einigermaßen Rücksicht genommen auf die so an die Luft gesetzten Arbeiter. Es wird die Bestimmung eingeschaltet, daß die neu zu errichtenden Gebäude zur Aufnahme der bisher an dieser Stelle wohnenden Bevölkerungsklassen geeignet sein müssen. Man baut also große fünf- bis sechsstöckige Mietskasernen für Arbeiter auf die geringwertigsten Baustellen und genügt so dem Buchstaben des Gesetzes. Wie sich diese, den Arbeitern ganz ungewohnte und inmitten der alten Londoner Verhältnisse durchaus fremdartige Einrichtung bewähren wird, bleibt abzuwarten. Im besten Fall wird aber hier kaum ein Viertel der wirklich durch die Neuanlage vertriebnen Arbeiter untergebracht. [Anm. von Engels zur Ausgabe von 1887.]

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Was auch heute, 1886, noch den preußischen Staat und seine Grundlage, die in den Schutzzöllen besiegelte Allianz von Großgrundbesitz und industriellem Kapital zusammenhält, ist lediglich die Angst vor dem seit 1872 riesig an Zahl und Klassenbewußtsein gewachsenen Proletariat. [Anm. von Engels zur Ausgabe von 1887.]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18, S. 246-260.
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