III

[277] Mülberger beschwert sich ferner, ich nenne seine »emphatische« Auslassung darüber.

»daß es keinen furchtbareren Hohn auf die ganze Kultur unseres gerühmten Jahrhunderts gibt als die Tatsache, daß in den großen Städten 90% und darüber der Bevölkerung keine Stätte haben, die sie ihr eigen nennen können«

– eine reaktionäre Jeremiade. Allerdings. Hätte Mülberger sich darauf beschränkt, wie er vorgibt, die »Greuel der Gegenwart« zu schildern, ich hätte »ihm und seinen bescheidenen Worten« sicher kein böses Wort nachgesagt. Er tut aber etwas ganz andres. Er schildert diese »Greuel« als Wirkung davon, daß die Arbeiter »keine Stätte haben, die sie ihr eigen nennen können«. Ob man »die Greuel der Gegenwart« aus der Ursache beklagt, daß das Hauseigentum der Arbeiter abgeschafft ist, oder wie die Junker tun, aus der, daß der Feudalismus und die Zünfte abgeschafft sind – in beiden Fällen kann nichts herauskommen als eine reaktionäre Jeremiade, ein Klagelied über das Hereinbrechen des Unvermeidlichen, des geschichtlich Notwendigen. Die Reaktion liegt eben darin, daß Mülberger das individuelle Hauseigentum der Arbeiter wieder herstellen will – eine Sache, über die die Geschichte längst reinen Bord gemacht hat; daß er sich die Befreiung der Arbeiter nicht anders denken kann als so, daß jeder wieder Eigentümer seines Hauses wird.

Weiter:

»Ich sage aufs ausdrücklichste: Der eigentliche Kampf gilt der kapitalistischen Produktionsweise, und nur aus ihrer Umänderung heraus ist eine Besserung der Wohnungsverhältnisse zu hoffen. Engels sieht von alledem nichts... Ich setze die ganze Lösung der sozialen Frage voraus, um zur Ablösung der Mietswohnung schreiten zu können.«

Leider sehe ich von alledem auch heute noch nichts. Ich kann doch unmöglich wissen, was jemand, dessen Namen ich nicht einmal kannte, im stillen Kämmerlein seines Gehirns voraussetzt. Ich kann mich nur an die gedruckten Artikel Mülbergers halten. Und da finde ich auch heute noch, daß Mülberger (Seite 15 und 16 des Separatabdrucks), um zur Ablösung der Mietwohnung schreiten zu können, nichts voraussetzt als – die Mietwohnung. Erst auf Seite 17 faßt er »die Produktivität des Kapitals bei den Hörnern«, worauf wir noch zurückkommen. Und selbst in seiner Antwort bestätigt er dies, wenn er sagt:

[278] »Es galt vielmehr zu zeigen, wie aus den bestehenden Verhältnissen heraus eine vollständige Umänderung in der Wohnungsfrage durchgesetzt werden könne.«

Aus den Bestehenden Verhältnissen heraus, und aus der Umänderung (soll heißen Abschaffung) der kapitalistischen Produktionsweise heraus, sind doch wohl ganz entgegengesetzte Dinge.

Kein Wunder, daß Mülberger sich beklagt, wenn ich in den philanthropischen Bestrebungen der Herren Dollfus und anderer Fabrikanten, den Arbeitern zu eigenen Häusern zu verhelfen, die einzig mögliche praktische Verwirklichung seiner proudhonistischen Projekte finde. Wenn er einsähe, daß Proudhons Plan zur Gesellschaftsrettung eine sich durchaus auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft bewegende Phantasie ist, so würde er selbstredend nicht daran glauben. Seinen guten Willen habe ich ja nie und nirgends bezweifelt. Warum aber lobt er denn Dr. Reschauer dafür, daß er die Dollfusschen Projekte dem Wiener Stadtrat zur Nachahmung vorschlägt?

Ferner erklärt Mülberger:

»Was speziell den Gegensatz zwischen Stadt und Land betrifft, so gehört es unter die Utopien, ihn aufheben zu wollen. Dieser Gegensatz ist ein natürlicher, richtiger gesagt, ein historisch gewordener... Es gilt nicht, diesen Gegensatz aufzuheben, sondern politische und soziale Formen zu finden, in denen er unschädlich, ja sogar fruchtbringend ist. Auf diese Weise ist ein friedlicher Ausgleich, ein allmähliches Gleichgewicht der Interessen zu erwarten.«

Also die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land ist eine Utopie, weil dieser Gegensatz ein natürlicher, richtiger gesagt, ein historisch gewordener ist. Wenden wir diese Logik auf andere Gegensätze der modernen Gesellschaft an, und sehen wir, wohin wir dann kommen. Z.B.:

»Was speziell den Gegensatz zwischen« Kapitalisten und Lohnarbeitern »betrifft, so gehört es unter die Utopien, ihn aufheben zu wollen. Dieser Gegensatz ist ein natürlicher, richtiger gesagt, ein historisch gewordener. Es gilt nicht, diesen Gegensatz aufzuheben, sondern politische und soziale Formen zu finden, in denen er unschädlich, ja sogar fruchtbringend ist. Auf diese Weise ist ein friedlicher Ausgleich, ein allmähliches Gleichgewicht der Interessen zu erwarten.«

Womit wir wieder bei Schultze-Delitzsch angekommen sind.

Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land ist nicht mehr und nicht minder eine Utopie als die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern. Sie wird von Tag zu Tag mehr eine praktische Forderung der industriellen wie ackerbauenden Produktion.[279] Niemand hat sie lauter gefordert als Liebig in seinen Schriften über die Chemie des Ackerbaus, worin stets seine erste Forderung ist, daß der Mensch an den Acker das zurückgebe, was er von ihm erhält, und worin er beweist, daß nur die Existenz der Städte, namentlich der großen Städte, dies verhindert. Wenn man sieht, wie hier in London allein eine größere Menge Dünger als das ganze Königreich Sachsen produziert, Tag für Tag unter Aufwendung ungeheurer Kosten – in die See geschüttet wird, und welche kolossalen Anlagen nötig werden, um zu verhindern, daß dieser Dünger nicht ganz London vergiftet, so erhält die Utopie von der Abschaffung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land eine merkwürdig praktische Grundlage. Und selbst das verhältnismäßig unbedeutende Berlin erstinkt seit mindestens dreißig Jahren in seinem eigenen Dreck. Andererseits ist es eine reine Utopie, wenn man, wie Proudhon, die jetzige bürgerliche Gesellschaft umwälzen und den Bauer als solchen erhalten will. Nur eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung über das ganze Land, nur eine innige Verbindung der Industriellen mit der ackerbauenden Produktion, nebst der dadurch nötig werdenden Ausdehnung der Kommunikationsmittel – die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise dabei vorausgesetzt – ist imstande, die Landbevölkerung aus der Isolierung und Verdummung herauszureißen, in der sie seit Jahrtausenden fast unverändert vegetiert. Nicht das ist eine Utopie, zu behaupten, daß die Befreiung der Menschen aus den durch ihre geschichtliche Vergangenheit geschmiedeten Ketten erst dann vollständig sein wird, wenn der Gegensatz zwischen Stadt und Land abgeschafft ist; die Utopie entsteht erst dann, wenn man sich unterfängt, »aus den bestehenden Verhältnissen heraus« die Form vorzuschreiben, worin dieser oder irgendein anderer Gegensatz der bestehenden Gesellschaft gelöst werden soll. Und das tut Mülberger, indem er sich die Proudhonsche Formel für die Lösung der Wohnungsfrage aneignet.

Dann beschwert sich Mülberger, daß ich ihn für »die ungeheuerlichen Anschauungen Proudhons über Kapital und Zins« gewissermaßen mitverantwortlich mache, und sagt:

»Ich setze die Änderung der Produktionsverhältnisse als gegeben voraus, und das den Zinsfuß regelnde Übergangsgesetz hat nicht die Produktionsverhältnisse, sondern die gesellschaftlichen Umsetzungen, die Zirkulationsverhältnisse zum Gegenstand... Die Änderung der Produktionsverhältnisse, oder wie die deutsche Schule genauer sagt, die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, ergibt sich freilich nicht, wie mir Engels andichtet, aus einem den Zins aufhebenden Übergangsgesetz, sondern aus der faktischen Besitzergreifung sämtlicher Arbeitsinstrumente, aus der Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volks. Ob das arbeitende Volk hierbei[280] mehr der Ablösung oder mehr der sofortigen Expropriation huldigen (!) wird, hat weder Engels noch ich zu entscheiden.«

Ich reibe mir erstaunt die Augen. Ich lese Mülbergers Abhandlung nochmals von Anfang bis zu Ende durch, um die Stelle zu finden, wo er erklärt, daß seine Ablösung der Mietwohnung »die faktische Besitzergreifung sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volks« als fertig voraussetze. Ich finde die Stelle nicht. Sie existiert nicht. Von »faktischer Besitzergreifung« usw. ist nirgend die Rede. Wohl aber heißt es S. 17:

»Wir nehmen nun an, die Produktivität des Kapitals werde wirklich bei den Hörnern gefaßt, wie das früher oder später geschehen muß, z.B. durch ein Übergangsgesetz, welches den Zins aller Kapitalien auf ein Prozent festsetzt, wohlgemerkt, mit der Tendenz, auch diesen Prozentsatz immer mehr dem Nullpunkt zu nähern... Wie alle andern Produkte, ist natürlich auch Haus und Wohnung in den Rahmen dieses Gesetzes gefaßt... Wir sehen also von dieser Seite her, daß sich die Ablösung der Mietwohnung mit Notwendigkeit ergibt als eine Folge der Abschaffung der Produktivität des Kapitals überhaupt.«

Hier wird also, ganz im Gegensatz zu Mülbergers neuester Wendung, mit dürren Worten gesagt, daß die Produktivität des Kapitals, unter welcher konfusen Phrase er eingestandenermaßen die kapitalistische Produktionsweise versteht, durch das Zinsabschaffungsgesetz allerdings »bei den Hörnern gefaßt werde«, und daß gerade infolge dieses Gesetzes »die Ablösung der Mietwohnung sich mit Notwendigkeit ergibt als eine Folge der Abschaffung der Produktivität des Kapitals überhaupt«. Keineswegs, sagt Mülberger jetzt. Jenes Übergangsgesetz hat »nicht die Produktionsverhältnisse, sondern die Zirkulationsverhältnisse zum Gegenstand«. Es bleibt mir in diesem vollkommenen Widerspruch, der nach Goethe »gleich geheimnisvoll für Weise wie für Toren«, nur übrig anzunehmen, daß ich es mit zwei ganz verschiedenen Mülbergern zu tun habe, von denen der eine sich mit Recht beschwert, ich habe ihm das »angedichtet«, was der andere hat drucken lassen.

Daß das arbeitende Volk weder mich noch Mülberger fragen wird, ob es bei der faktischen Besitzergreifung »mehr der Ablösung oder mehr der sofortigen Expropriation huldigen wird«, das ist sicher richtig. Es wird höchstwahrscheinlich vorziehen, überhaupt nicht zu »huldigen«. Aber von faktischer Besitzergreifung sämtlicher Arbeitsinstrumente durch das arbeitende Volk war ja gar nicht die Rede, sondern nur von Mülbergers Behauptung (S. 17), daß »der Gesamtinhalt der Lösung der Wohnungsfrage in dem Wort: Ablösung gegeben« sei. Wenn er jetzt diese Ablösung für äußerst[281] zweifelhaft erklärt, wozu dann uns beiden und den Lesern all die nutzlose Mühe machen?

Übrigens muß konstatiert werden, daß die »faktische Besitzergreifung« sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volks, das gerade Gegenteil ist von der proudhonistischen »Ablösung«. Bei der letzteren wird der einzelne Arbeiter Eigentümer der Wohnung, des Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei der ersteren bleibt das »arbeitende Volk« Gesamteigentümer der Häuser, Fabriken und Arbeitsinstrumente, und wird deren Nießbrauch, wenigstens während einer Übergangszeit, schwerlich ohne Entschädigung der Kosten an einzelne oder Gesellschaften überlassen. Gerade wie die Abschaffung des Grundeigentums nicht die Abschaffung der Grundrente ist, sondern ihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise, an die Gesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeitsinstrumente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibehaltung des Mietverhältnisses keineswegs aus.

Überhaupt handelt es sich nicht um die Frage, ob das Proletariat, wenn es zur Macht gelangt, die Produktionsinstrumente, Rohstoffe und Lebensmittel einfach gewaltsam in Besitz nimmt, ob es sofort Entschädigung dafür zahlt oder das Eigentum daran durch langsame Ratenzahlungen ablöst. Eine solche Frage im voraus und für alle Fälle beantworten zu wollen, hieße Utopien fabrizieren, und das überlasse ich andern.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18, S. 277-282.
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