IV

[282] Soviel Schreiberei war nötig, um durch die mannigfachen Ausflüchte und Windungen Mülbergers hindurch endlich auf die Sache selbst zu kommen, die Mülberger in seiner Antwort sorgfältig zu berühren vermeidet.

Was hatte Mülberger in seiner Abhandlung Positives gesagt?

Erstens, »der Unterschied zwischen dem ursprünglichen Kostenpreis eines Hauses, Bauplatzes usw. und seinem heutigen Wert« gehöre von Rechts wegen der Gesellschaft. Dieser Unterschied heißt in ökonomischer Sprache Grundrente. Diese will Proudhon ebenfalls der Gesellschaft zueignen, wie man in »Idée générale de la Révolution«, Ausgabe 1868, S. 219, lesen kann.

Zweitens, die Lösung der Wohnungsfrage bestehe darin, daß jeder, statt Mieter, Eigentümer seiner Wohnung wird.

Drittens, diese Lösung vollzieht sich, indem man die Mietezahlungen durch ein Gesetz in Abzahlungen auf den Kaufpreis der Wohnung verwandelt. – Diese Punkte 2 und 3 sind beide aus Proudhon entlehnt, wie jedermann[282] in »Idée générale de la Révolution«, S. 199 und folgende, ersehen kann, und wo sich sogar S. 203 der betreffende Gesetzentwurf fertig redigiert vorfindet.

Viertens, daß die Produktivität des Kapitals bei den Hörnern gefaßt wird durch ein Übergangsgesetz, wodurch der Zinsfuß vorläufig auf 1 Prozent, vorbehaltlich späterer weiterer Erniedrigung, herabgesetzt wird. Dies ist ebenfalls aus Proudhon entlehnt, wie in »Idée générale«, S. 182-186, ausführlich zu lesen.

Ich habe bei jedem dieser Punkte die Stelle bei Proudhon zitiert, worin sich das Original der Mülbergerschen Kopie findet, und frage nun, ob ich berechtigt war, den Verfasser eines durchaus proudhonistischen und nichts als proudhonistische Anschauungen enthaltenden Artikels einen Proudhonisten zu nennen oder nicht? Und doch beschwert sich Mülberger über nichts bitterer, als daß ich ihn so nenne, weil ich »auf einige Wendungen stieß, wie sie Proudhon eigentümlich sind«! Im Gegenteil. Die »Wendungen« gehören alle Mülberger, der Inhalt gehört Proudhon. Und wenn ich dann die proudhonistische Abhandlung aus Proudhon ergänze, so klagt Mülberger, ich schiebe ihm die »ungeheuerlichen Anschauungen« Proudhons unter!

Was habe ich nun auf diesen proudhonistischen Plan entgegnet?

Erstens, daß Übertragung der Grundrente an den Staat gleichbedeutend ist mit Abschaffung des individuellen Grundeigentums.

Zweitens, daß die Ablösung der Mietwohnung und die Übertragung des Eigentums der Wohnung an den bisherigen Mieter die kapitalistische Produktionsweise gar nicht berührt.

Drittens, daß dieser Vorschlag bei der jetzigen Entwicklung der großen Industrie und der Städte ebenso abgeschmackt wie reaktionär ist, und daß die Wiedereinführung des individuellen Eigentums jedes einzelnen an seiner Wohnung ein Rückschritt wäre.

Viertens, daß die zwangsmäßige Herabsetzung des Kapitalzinses die kapitalistische Produktionsweise keineswegs angreift, im Gegenteil, wie die Wuchergesetze beweisen, ebenso uralt wie unmöglich ist.

Fünftens, daß mit Abschaffung des Kapitalzinses das Mietgeld für Häuser keineswegs abgeschafft ist.

Punkt 2 und 4 hat Mülberger jetzt zugegeben. Auf die andern Punkte erwidert er kein Wort. Und doch sind dies grade die Punkte, um die es sich in der Debatte handelt. Aber Mülbergers Antwort ist keine Widerlegung; sie umgeht sorgfältig alle ökonomischen Punkte, welche doch die entscheidenden[283] sind; sie ist eine persönliche Beschwerdeschrift, weiter nichts. So beklagt er sich, wenn ich seine angekündigte Lösung andrer Fragen, z.B. Staatsschulden, Privatschulden, Kredit, vorwegnehme und sage: die Lösung sei überall die, daß, wie bei der Wohnungsfrage, der Zins abgeschafft, die Zinszahlungen in Abzahlungen auf den Kapitalbetrag verwandelt und der Kredit kostenfrei gemacht wird. Trotzdem möchte ich noch heute wetten, daß, wenn diese Mülbergerschen Artikel das Licht der Welt erblicken, ihr wesentlicher Inhalt mit Proudhons »Idée générale«: Kredit S. 182, Staatsschulden S. 186, Privatschulden S. 196, ebenso stimmen wird, wie diejenige über die Wohnungstrage mit den zitierten Stellen desselben Buchs.

Bei dieser Gelegenheit belehrt mich Mülberger, daß diese Fragen, wie Steuern, Staatsschulden, Privatschulden, Kredit, wozu jetzt noch die Autonomie der Gemeinde kommt, für den Bauer und für die Propaganda auf dem Lande von der höchsten Wichtigkeit sind. Großenteils einverstanden; aber 1. war von den Bauern bisher gar nicht die Rede, und 2. sind die Proudhonschen »Lösungen« aller dieser Fragen ebenso ökonomisch widersinnig und ebenso wesentlich bürgerlich, wie seine Lösung der Wohnungsfrage. Gegen die Andeutung Mülbergers, als verkennte ich die Notwendigkeit, die Bauern in die Bewegung zu ziehn, brauche ich mich nicht zu verteidigen. Aber das halte ich allerdings für Torheit, zu diesem Zweck den Bauern die Proudhonsche Wunderdoktorei anzuempfehlen. In Deutschland besteht noch sehr viel großes Grundeigentum. Nach der Proudhonschen Theorie müßte dies alles in kleine Bauernhöfe zerteilt werden, was beim heutigen Stand der Ackerbauwissenschaft und nach den in Frankreich und Westdeutschland mit dem Parzellen-Grundeigentum gemachten Erfahrungen geradezu reaktionär wäre. Das noch bestehnde große Grundeigentum wird uns vielmehr eine willkommne Handhabe bieten, den Ackerbau im großen, der allein alle modernen Hilfsmittel, Maschinen usw. anwenden kann, durch assoziierte Arbeiter betreiben zu lassen und dadurch den Kleinbauern die Vorteile des Großbetriebs vermittelst der Assoziation augenscheinlich zu machen. Die dänischen Sozialisten, in dieser Beziehung allen andern voraus, haben dies längst eingesehn.

Ebensowenig habe ich nötig, mich dagegen zu verteidigen, als erschienen mir die heutigen infamen Wohnungszustände der Arbeiter »als unbedeutende Kleinigkeit«. Ich bin, soviel ich weiß, der erste gewesen, der in deutscher Sprache diese Zustände in ihrer klassisch entwickelten Form, wie sie in England bestehn, geschildert hat: nicht, wie Mülberger meint, weil sie »meinem Rechtsgefühl ins Gesicht schlagen« – wer alle Tatsachen, die seinem[284] Rechtsgefühl ins Gesicht schlagen, in Bücher verwandeln wollte, der hätte viel zu tun – sondern, wie in der Vorrede meines Buchs zu lesen, um dem damals entstehnden, in hohlen Phrasen herumfahrenden deutschen Sozialismus eine tatsächliche Unterlage zu geben durch Beschreibung der von der modernen großen Industrie geschaffnen Gesellschaftszustände. Aber die sogenannte Wohnungfrage lösen zu wollen, das fällt mir allerdings nicht ein, ebensowenig wie ich mich mit den Details der Lösung der noch wichtigeren Eßfrage befasse. Ich bin zufrieden, wenn ich nachweisen kann, daß die Produktion unsrer modernen Gesellschaft hinreichend ist, um allen Gesellschaftsgliedern genug zu essen zu verschaffen, und daß Häuser genug vorhanden sind, um den arbeitenden Massen vorläufig ein geräumiges und gesundes Unterkommen zu bieten. Wie eine zukünftige Gesellschaft die Verteilung des Essens und der Wohnungen regeln wird, darüber zu spekulieren, führt direkt in die Utopie. Wir können höchstens aus der Einsicht in die Grundbedingungen der sämtlichen bisherigen Produktionsweisen feststellen, daß mit dem Fall der kapitalistischen Produktion gewisse Aneignungsformen der bisherigen Gesellschaft unmöglich werden. Selbst die Übergangsmaßregeln werden sich überall nach den augenblicklich bestehnden Verhältnissen zu richten haben, in Ländern kleinen Grundeigentums wesentlich andre sein als in Ländern großen Grundbesitzes usw. Wohin man kommt, wenn man für diese sogenannten praktischen Fragen, wie Wohnungsfrage usw., Einzellösungen sucht, beweist uns niemand besser als Mülberger selbst, der erst auf 28 Seiten auseinandersetzt, wie »der Gesamtinhalt der Lösung der Wohnungsfrage in dem Wort: Ablösung gegeben sei«, um dann, sowie man ihm auf den Leib rückt, verlegen zu stammeln, es sei in der Tat sehr fraglich, ob bei der faktischen Besitzergreifung der Häuser »das arbeitende Volk mehr der Ablösung huldigen werde« oder irgendeiner andern Form der Expropriation.

Mülberger verlangt, wir sollen praktisch werden, wir sollen »den wirklichen praktischen Verhältnissen gegenüber« nicht »nur tote abstrakte Formeln ins Feld führen«, wir sollen »aus dem abstrakten Sozialismus heraus und an die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft herantreten«. Hätte Mülberger dies getan, so hätte er sich vielleicht große Verdienste um die Bewegung erworben. Der erste Schritt beim Herantreten an die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft besteht doch wohl darin, daß man sie kennenlernt, daß man sie nach ihrem bestehnden ökonomischen[285] Zusammenhang untersucht. Und was finden wir da bei Mülberger? Zwei ganze Sätze, und zwar:

1. »Was der Lohnarbeiter gegenüber dem Kapitalisten, das ist der Mieter gegenüber dem Hausbesitzer.«

Ich habe S. 6 des Separatabdrucks nachgewiesen, daß dies total falsch ist, und Mülberger hat kein Wort darauf zu erwidern.

2. »Der Stier aber, der« (bei der sozialen Reform) »bei den Hörnern gefaßt werden muß, ist die Produktivität des Kapitals, wie es die liberale Schule der Nationalökonomie nennt, die in Wahrheit nicht existiert, die aber in ihrer scheinbaren Existenz zum Deckmantel aller Ungleichheit dient, welche auf der heutigen Gesellschaft lastet.«

Der Stier, der bei den Hörnern gefaßt werden muß, existiert also »in Wahrheit nicht«, hat also auch keine »Hörner«. Nicht er selbst, sondern seine scheinbare Existenz ist vom Übel. Trotzdem ist die »sogenannte Produktivität« (des Kapitals) »imstande, Häuser und Städte aus dem Boden zu zaubern«, deren Existenz alles, nur nicht »scheinbar« ist. (S. 12.) Und ein Mann, der, obwohl Marx' »Kapital« »auch ihm wohlbekannt« ist, in dieser hülflos verworrenen Weise über das Verhältnis von Kapital und Arbeit radebrecht, unternimmt es, den deutschen Arbeitern einen neuen und bessern Weg weisen zu wollen, und gibt sich aus für den »Baumeister«, der »sich über das architektonische Gefüge der zukünftigen Gesellschaft wenigstens im ganzen und großen klar« ist?

Niemand ist näher »an die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft herangetreten« als Marx im »Kapital«. Er hat fünfundzwanzig Jahre darauf verwandt, sie nach allen Seiten hin zu untersuchen, und die Resultate seiner Kritik enthalten überall ebenfalls die Keime der sogenannten Lösungen, soweit solche überhaupt heutzutage möglich sind. Das aber genügt Freund Mülberger nicht. Das ist alles abstrakter Sozialismus, tote abstrakte Formeln. Statt die »bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft« zu studieren, begnügt sich Freund Mülberger mit der Lektüre einiger Bände Proudhon, die ihm zwar so gut wie nichts über die bestimmten konkreten Verhältnisse der Gesellschaft bieten, dagegen aber sehr bestimmte konkrete Wunderkuren für alle gesellschaftlichen Übel, und bringt diesen fertigen sozialen Rettungsplan, dies Proudhonsche System, vor die deutschen Arbeiter unter dem Vorwand, er wolle »den Systemen Adieu sagen«, während ich »den umgekehrten Weg wähle!« Um dies zu begreifen, muß ich annehmen, daß ich blind bin und Mülberger taub, so daß eine jede Verständigung zwischen uns rein unmöglich ist.[286]

Genug. Wenn diese Polemik zu weiter nichts dient, so hat sie jedenfalls das Gute, den Beweis geliefert zu haben, was es mit der Praxis dieser sich so nennenden »praktischen« Sozialisten auf sich hat. Diese praktischen Vorschläge zur Beseitigung aller sozialen Übel, diese gesellschaftlichen Allerweltsheilmittel, sind stets und überall das Fabrikat von Sektenstiftern gewesen, die zu einer Zeit auftraten, wo die proletarische Bewegung noch in ihrer Kindheit lag. Auch Proudhon gehört zu ihnen. Die Entwicklung des Proletariats wirft diese Kinderwindeln bald beiseite und erzeugt in der Arbeiterklasse selbst die Einsicht, daß nichts unpraktischer ist, als diese vorher ausgeklügelten, auf alle Fälle anwendbaren »praktischen Lösungen«, und daß der praktische Sozialismus vielmehr in einer richtigen Erkenntnis der kapitalistischen Produktionsweise nach ihren verschiednen Seiten hin besteht. Eine Arbeiterklasse, die hierin Bescheid weiß, wird im gegebnen Falle nie in Verlegenheit sein, gegen welche sozialen Institutionen und in welcher Weise sie ihre Hauptangriffe zu richten hat.[287]


Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18.
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